Der Jännerstreik im Jahr 1918 war der machtvollste Massenstreik in der Geschichte unseres Landes. Krieg, Teuerung und Lebensmittelknappheit lösten diese Streikbewegung aus, die den Beginn der österreichischen Revolution markierte. Konstantin Korn über die Lehren dieser revolutionären Bewegung.
Krieg ist für jede Gesellschaft eine Belastungsprobe. Die Kriegspropaganda schafft in einem ersten Moment vielleicht ein Gefühl der nationalen Einheit. Die Frage, Kanonen oder Butter, bringt jedoch Bedingungen hervor, unter denen die Widersprüche in den kriegsführenden Ländern voll zum Vorschein kommen.
Im Ersten Weltkrieg erstickte der Hurrapatriotismus anfangs jede kritische Stimme. Obwohl vor dem Krieg mit den Parteien der sozialdemokratischen Zweiten Internationale eine politische Kraft bestand, die auf dem Prinzip der internationalen Solidarität stand und die imperialistische Kriegstreiberei ablehnte, kapitulierten diese vor den Kriegsabsichten ihrer jeweiligen Bourgeoisien. In Folge dessen war die Arbeiterklasse gegenüber dem Nationalismus ohnmächtig. Kurz nach Kriegsausbruch schrieb Leo Trotzki:
„Die Idee, unter deren Banner jetzt das bewaffnete Proletariat steht, ist die Idee des kriegslustigen Nationalismus, die Todfeindin der wirklichen Interessen des Proletariats. Die herrschenden Klassen erwiesen sich mächtig genug, dem Proletariat ihre Idee aufzuzwingen, und das Proletariat hat bewusst seine Intelligenz, Leidenschaft und Opferwilligkeit in den Dienst der Sache seiner Klassenfeinde gestellt.“ (Der Krieg und die Internationale).
Dennoch stellte Trotzki bereits 1914 die Perspektive auf, dass die materielle Erschöpfung durch die Kriegswirtschaft die Bedingungen für politische Konflikte schafft, die sogar das Ausmaß einer sozialen Revolution annehmen könnten.
Mit solch gewagten Thesen wollten sich die reformistischen Teile der Arbeiterbewegung nicht aufhalten. Sie sahen nur den weitgehenden Zusammenbruch der alten sozialdemokratischen Organisationen, und dass die Frauen und die Jungen, die nun in den Fabriken die Maschinen bedienten, Klassenbewusstsein vermissen ließen und nicht daran dachten, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Die Sozialdemokratie und die Linksradikalen
Die Stimmung unter den FunktionärInnen war geprägt von Pessimismus. Von einer sozialen Revolution schien man weiter entfernt als je zuvor. Jetzt ging es erst einmal darum, die schlimmste Not zu lindern, den hungernden Arbeiterfamilien zu helfen und sich als nützlich zu erweisen. Nur so könne man langsam wieder den Sinn der Organisation vermitteln.
Diese konkrete Praxis nach dem Motto „helfen statt reden“ konnte man am leichtesten umsetzen, wenn man sich in den staatlichen Fürsorgeeinrichtungen engagierte. Damit hatte man ein wenig Ressourcen, um z.B. alleinerziehenden Frauen zu helfen, die nicht mehr wussten, wie sie ihre Kinder über den Winter bringen sollen. Diese Orientierung auf den Staat hatte jedoch auch den Effekt, dass man die Arbeit der Organisation auf den Rahmen beschränkte, den einem die Regierung vorgab. Dies stärkte umso mehr die reformistische Logik der Mehrheit in der Sozialdemokratie, die sich mehr und mehr mit ihrer Rolle als „loyaler Opposition ihrer Majestät“ anfreundete.
Doch es gab auch andere Stimmen, die diesen Kurs nicht mittragen wollten. Einige prominente SozialistInnen übten Kritik an der Kapitulation der Sozialdemokratie. Im Verein „Karl Marx“ versammelten sich die Linken zu Diskussionen. Sie weigerten sich jedoch, konkrete Initiativen zur Organisierung von Widerstandsaktionen gegen den Krieg zu ergreifen. In der Jugendbewegung formierte sich eine Strömung, der das nicht genug war und die in den Betrieben mit illegaler Aufklärungsarbeit begann: die „Linksradikalen“. Letztere nahmen gezielt Kontakt zu revolutionären KriegsgegnerInnen in Deutschland und zu den Bolschewiki auf.
Für den Vorschlag, systematisch illegale Arbeit zu organisieren, bekamen die Linksradikalen im Verein „Karl Marx“ sogar die Mehrheit. Man wollte Flugblätter und Literatur in den Betrieben verteilen, an allen Massenprotesten teilnehmen und diese „für den zielstrebigen Klassenkampf ausnützen“ und „mündliche und schriftliche Propaganda der revolutionären Massentätigkeit als Mittel des internationalen Klassenkampfes“ betreiben.
Durch das Attentat von Friedrich Adler auf den k. k. Ministerpräsidenten im Oktober 1916 und des darauffolgenden Verbots des Vereins „Karl Marx“ konnte diese Linie aber nicht in die Tat umgesetzt werden. Die Bewegung erlitt durch diese individuell-terroristische „Verzweiflungstat“ einen herben Rückschlag.
Doch der Maulwurf der Geschichte grub im Stillen weiter. Die soziale Not löste in der Arbeiterschaft einen Gärungsprozess aus. Nachrichten über die Revolution in Russland weckten Hoffnung. Die Linksradikalen konzentrierten sich in diesen Monaten vor allem auf Bildungsarbeit und Diskussionen über die Perspektiven des Klassenkampfs. Außerdem knüpften sie in mühevoller, geduldiger Kleinarbeit Kontakte zu jenen gewerkschaftlichen Vertrauensleuten, die in den Fabriken in Wien und Niederösterreich bereits ein illegales Widerstandsnetzwerk aufbauten.
Im Mai 1917 kam es dann zu ersten großen Streiks gegen Lebensmittelknappheit und Teuerung. Immer wieder waren es Arbeiterinnen, die den Protest lostraten. Die Linksradikalen intervenierten in diesen Kämpfen, spielten, wie etwa die junge Berta Pölz in Favoriten, teilweise auch eine zentrale Rolle bei der Organisierung der Proteste. Ihrem Aufruf zu einer eigenen Demonstration „aller sozialistischen Arbeiter und Arbeiterinnen“ vor dem Parlament folgen aber nur die eigenen Mitglieder. In der sozialistischen Jugendorganisation, wo die Linksradikalen zeitweise sogar eine Mehrheit hatten, kam es in der Zwischenzeit zu Ausschlüssen linker Bezirksgruppen.
Spätestens mit der Nachricht vom Sieg der Revolution in Russland, der Machtergreifung der Arbeiterräte unter der Führung von Lenin und Trotzki, erreichte die Radikalisierung der österreichischen Arbeiterschaft eine neue Qualität. „Lernen wir Russisch!“ wurde nun zum geflügelten Wort. Der Sieg der Russischen Revolution weckte Hoffnung auf einen nahen Frieden. Die junge Sowjetmacht verkündete als eine ihrer ersten Maßnahmen ihren Wunsch nach einem „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“. Die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk waren wochenlang Gesprächsthema Nummer 1.
Vorbereitungsarbeit
Die den Bolschewiki nahestehenden Linksradikalen, die nun auch eng mit den Anarchosyndikalisten zusammenarbeiteten und vielleicht einen engeren Kern von 100 GenossInnen zählten, sahen ihre Aufgabe darin, die Ideen der Russischen Revolution in Österreich populär zu machen. Dazu gehörte auch die Gründung eines illegalen Arbeiter- und Soldatenrates nach dem Vorbild der russischen Sowjets. Sie intervenierten in den Friedensversammlungen der Sozialdemokratie, wo sie mit ihren kritischen Wortbeiträgen die ohnedies schon stürmische Stimmung weiter anheizten. Außerdem knüpften sie Beziehungen zu Revolutionären in Ungarn und unter den Matrosen von Cattaro.
Gemeinsam mit den revolutionären Vertrauensleuten in den Großbetrieben kamen die Linksradikalen zu der Einschätzung, dass die Bedingungen für einen Generalstreik heranreiften. Vor allem im südlichen Niederösterreich war die Lage in den Fabriken extrem angespannt. Die ArbeiterInnen waren wütend, dass die k. k.-Regierung die Friedensverhandlungen sabotierte. Die Linksradikalen planten als Streikbeginn den 24. Jänner. Als am 14. Jänner die Regierung auch noch die Mehlrationen halbierte, gab es aber kein Halten mehr. Den ganzen Winter hatten die Arbeiterfamilien bereits gehungert und gefroren. Eine weitere Kürzung konnte und wollte niemand mehr akzeptieren.
Dynamik des Streiks
In den Daimler Motorenwerken in Wiener Neustadt nahm die Streikwelle ihren Ausgang. Die dortigen Arbeiterinnen weigerten sich in der Früh, die Arbeit aufzunehmen. Jetzt machte sich die politische Vorbereitungsarbeit der Linksradikalen bezahlt. Mit Eduard Schönfeld, dem Sekretär der Bezirkskrankenkasse, konnten sie in Wiener Neustadt auf eine zentrale Figur der lokalen Arbeiterbewegung zurückgreifen, der in den Betrieben über große Autorität verfügte und seit Kriegsbeginn im ganzen südlichen Niederösterreich ein Netzwerk von revolutionär gesinnten ArbeiterInnen organisierte. Unter seiner Anleitung zogen die ArbeiterInnen der Daimlerwerke von Fabrik zu Fabrik. Binnen kurzer Zeit hatte sich der Streik auf alle Industriebetriebe in der Stadt ausgeweitet. Ein Arbeiterrat wurde konstituiert. Kuriere wurden in alle Industriegebiete (und sogar nach Budapest und Berlin) entsandt. Entscheidend dabei die Rolle des 18jährigen (!) Schülers Leopold Kulcsar, der die Streikzentren Wien und Wiener Neustadt miteinander koordinierte. Der Streik breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Die Sozialdemokratie musste sich eingestehen, dass sie die Arbeiterschaft nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Erhoben die Streikenden in Wien anfangs nur ökonomische Forderungen (volle Mehlration, Versorgung mit Schuhen und Kleidung, Lohnerhöhungen), so hatte der Streik nach zwei Tagen einen offen politischen Charakter. Jetzt ging es um den Frieden, um einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten! Das Flugblatt „Das Volk steht auf!“ der Linksradikalen formulierte dazu konkrete Forderungen, die bei den ArbeiterInnen auf große Unterstützung stießen: 1) Die Vertreter bei den Friedensverhandlungen sollten vom Volk demokratisch gewählt, 2) die Militarisierung der Betriebe aufgehoben und 3) Friedrich Adler und alle politischen Gefangenen sollten freigelassen werden. Diese demokratischen Forderungen wurden verbunden mit dem Aufruf zur Gründung von Arbeiterräten wie in Russland, sodass „der Massengewalt des Proletariats der Sieg gehören wird!“
Der sozialdemokratische Parteivorstand, in dem seit kurzem die austromarxistische Parteilinke eine führende Rolle einnahm, geriet nun zusehends unter Druck. In einem Manifest sprach sich die Partei für die „schleunigste Beendigung des Krieges“ aus und rief die Arbeiterklasse auf, die Stimme zu erheben. Dieser Aufruf ermutigte auch jene Sektoren der Klasse, die bisher noch in einer abwartenden Position verharrt hatten. Jetzt war es also die Sozialdemokratie, die zum Streik und zur Gründung von Arbeiterräten aufrief. Das hatte den Effekt, dass die Bewegung zahlenmäßig wuchs. Mehr als 800.000 ArbeiterInnen waren nun im Ausstand.
Draufsetzen und Abwiegeln
Gleichzeitig versuchten die Spitzen von Partei und Gewerkschaft dem Streik den revolutionären Charakter zu nehmen und die Stabilität wiederherzustellen. Sie griffen Forderungen aus den Betrieben auf, schwächten sie aber inhaltlich ab. Hinter verschlossenen Türen arbeitete man gemeinsam mit der Regierung eine sehr gemäßigte 4-Punkte-Erklärung aus, die man dann öffentlich als Forderungskatalog der Regierung überreichte. Wir haben es hier mit einem Lehrbeispiel von einem bürokratischen Manöver zu tun, um den Massenprotest der Arbeiterklasse in geordnete Bahnen zu lenken.
Im Punkt 1 wurde gefordert, dass die ArbeiterInnen über den Stand der Verhandlungen unterrichtet werden, aber nicht, dass das Verhandlungsteam demokratisch gewählt wird. Die Regierung möge „beruhigende Zusicherungen geben“, dass sie den Friedensvertrag nicht an territorialen Forderungen scheitern lassen werde. Während die Idee einer Rätedemokratie nach russischem Vorbild immer mehr Unterstützung bekam, reduzierte die Parteiführung das demokratische Streben der Massen im Punkt 3 auf die Forderung nach „Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts für die Gemeindevertretungen“ (!). Nur mit der Forderung nach Aufhebung der Militarisierung der Betriebe entsprach sie dem Programm der Streikenden.
Otto Bauer formulierte es rückblickend so: „Wir hatten den Streik als eine große revolutionäre Demonstration gewollt. Die Steigerung des Streiks zur Revolution konnten wir nicht wollen.“ In Wirklichkeit wollten sie den Streik gar nicht, erst als er nicht mehr zu ignorieren war, mussten sie sich an die Spitze des Prozesses stellen, um den Ausstand in geordnete Bahnen zu lenken.
Die Sozialdemokratie nutzte ihre Autorität und ihren großen Apparat, um diesen 4-Punkte-Katalog in den Arbeiterräten durchzusetzen. Die Wahlen zu den Arbeiterräten erfolgten in den Bezirken im Rahmen von Massenversammlungen der Arbeiterschaft. Von 310 gewählten Mitgliedern des Wiener Arbeiterrates waren nur zwei Mitglied bei den Linksradikalen, alle anderen folgten der Linie der sozialdemokratischen Führung.
Die Regierung war in den Verhandlungen mit der Sozialdemokratie nicht einmal bereit die vier vorgelegten Forderungen vollständig zu akzeptieren. Mehr als vage Versprechungen (Reorganisierung des Verpflegungsdienstes) waren vom Ministerrat nicht zu bekommen. Dennoch traten die sozialdemokratischen Parteiführer in der Nacht vom 19. auf den 20. Jänner vor den Wiener Arbeiterrat und sprachen sich dafür aus, den Streik abzubrechen. Die ganze Nacht dauerten die Debatten. Offensichtlich waren selbst gestandene Sozialdemokraten nur schwer von diesem Verhandlungsergebnis zu überzeugen.
In den Bezirksversammlungen der Arbeiterräte löste die Nachricht vom Streikabbruch teilweise tumultartige Szenen aus. „Verräter“ und „k. k. Vertrauensmänner“ waren noch die nettesten Bezeichnungen für die sozialdemokratischen RednerInnen. Die Empörung war umso größer, da zeitgleich die ArbeiterInnen in Ungarn erst in den Streik getreten waren und die Bewegung in den Betrieben noch an Dynamik gewann.
Die Mehrheit der Arbeiterklasse hielt sich an den Streikabbruch, doch in vielen Fabriken waren die ArbeiterInnen nicht bereit klein beizugeben. In Wiener Neustadt wurde der spätere Staatskanzler und Bundespräsident Karl Renner kurzerhand von den Streikenden eingesperrt. Nach drei Tagen mussten aber selbst die radikalsten Teile der Bewegung einsehen, dass es sinnlos war, den Streik in einigen wenigen Betrieben, wo die Linksradikalen die Mehrheit hinter sich hatten, weiterzuführen. Die Bewegung endete mit einer ersten Niederlage. Der Austromarxismus hatte sich als funktionstüchtiges Sicherheitsventil der herrschenden Ordnung erwiesen.
An den miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen änderte sich natürlich nichts. Kein Wunder, dass es in der Arbeiterschaft weiter brodelte, und es nur eine Frage der Zeit war, bis es erneut zu Streiks und Unruhen kommen sollte. Im Oktober/November 1918 brach sich die Revolution endgültig ihren Weg. Die Monarchie wurde gestürzt.
Unser politisches Erbe
Dass es nicht zu einer sozialistischen Revolution kam, lag vor allem daran, dass es anders als in Russland keine revolutionäre Partei mit Massenverankerung gab. Die Ansätze, eine Organisation wie die Bolschewiki aufzubauen, waren mit der Niederlage des Jännerstreiks weit zurückgeworfen worden. Die wichtigsten Köpfe der linksradikalen Bewegung wurden verhaftet oder zum Kriegsdienst abkommandiert. Die wenigen, die sich der Repression entziehen konnten, kamen unter dem Eindruck der Niederlage zu dem Schluss, dass es eine „neue Organisation des Kampfes und der Befreiung“ brauche.
Mit der Gründung der Kommunistischen Partei im November 1918 hätte eine solche Organisation das Licht der Welt erblicken sollen. Angesichts der staatlichen Repression war es der jungen kommunistischen Bewegung aber nicht möglich, die Niederlage vom Jänner politisch aufzuarbeiten. Aufgrund der theoretischen Unreife und dem Sektierertum der Gründungsmitglieder der KPÖ, fast durch die Bank Zufallsgestalten, die zuvor kaum eine Rolle spielten, war dieses Parteiprojekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Der Jännerstreik war der größte Massenstreik in der Geschichte unseres Landes. Er steht für die revolutionären Traditionen der österreichischen Arbeiterklasse, die von den Bürgerlichen und vom Reformismus systematisch totgeschwiegen werden. Die Geschichte dieses Streiks liefert uns aber auch Hinweise, wie sich künftige revolutionäre Bewegungen entfalten könnten, welche Rolle die traditionellen Führungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie spielen werden und mit welchen Methoden Revolutionäre in solchen Ereignissen Wirkmacht entfalten können.
(Funke Nr. 210/19.1.2023)