Dank der türkis-grünen Regierungskrise schien es für einen Augenblick, Rendi-Wagner könnte Kanzlerin werden. Doch gerade in dieser Krise wurden alle Schwächen der Sozialdemokratie deutlich sichtbar.
Als Sebastian Kurz unter dem Druck der medialen Berichterstattung (nach Bekanntwerden der Chats der türkisen Clique) als Kanzler nicht mehr zu halten war, tat sich für die bislang so glücklos wirkende SPÖ-Bundesparteivorsitzende überraschend ein Zeitfenster auf. Emsig machte sie sich an Gespräche mit allen Parlamentsparteien außer der ÖVP und bastelte im Sinne der „Stabilität“ an einer Übergangsregierung, der sie als Kanzlerin vorstehen sollte. Die SPÖ-Spitze hätte in ihrer Funktion als Reservemannschaft der Bürgerlichen fast aufs Spielfeld dürfen, um stabile Verhältnisse zu garantieren. Dieses Projekt scheiterte letztlich daran, dass die ÖVP den türkisen Kanzler zum Rücktritt zwang.
Doch seither kommt Rendi-Wagner und anderen SpitzenvertreterInnen der Sozialdemokratie kein Satz über die Lippen, in dem sie nicht von der nötigen „Stabilität“ sprechen.
In einer offiziellen Stellungnahme „befürchtet“ die SPÖ-Parteivorsitzende, dass die türkis-grüne Koalition eine „Regierung mit Ablaufdatum“ ist. Anstatt auf ein möglichst rasches Ende dieser Regierung hinzuarbeiten, in der Kurz im Hintergrund weiter die Fäden zieht, fällt Rendi-Wagner nur eins ein: „Österreich braucht dringend eine arbeitsfähige Regierung, die für Ruhe und Stabilität im Land sorgt. Dafür ist es auch notwendig, dass Bundeskanzler Schallenberg rasch Klarheit schafft, um Stabilität zu sichern, und dass er eine entschiedene Trennlinie zu den türkisen Machenschaften zieht.“
Perspektive „Fortschrittskoalition“
Doskozil & Co. gaben vor gar nicht so langer Zeit als einzige Perspektive der Sozialdemokratie aus, dass man als Juniorpartner in eine Regierung mit der Kurz-ÖVP eintritt. Diese Idee ist derzeit begraben. Michael Ludwig und die SPÖ Wien haben bereits nach der Wien-Wahl vor einem Jahr die Weichen für eine rot-grün-pinke „Fortschrittskoalition“ gestellt. Die Krise der ÖVP, die internationale Instabilität im Kapitalismus und die politische Entwicklung in Deutschland bringen eine starke Dynamik in diese Richtung.
Nobelpreisträger Joseph Stiglitz warnt aktuell sogar davor, dass der neoliberale FDP-Vorsitzende Christian Lindner in Deutschland Finanzminister der „Fortschrittskoalition“ werden könnte, da er dieser dieses Amt zu „ideologisch“ anlegen könnte. Die Strategen des Kapitals wollen volle Flexibilität (auch bei den Staatsausgaben) um die Profite der Kapitalisten zu stützen, das Nulldefizit ist aktuell nicht das Hauptanliegen der Bourgeoisie.
So erklärt sich die staatstragende politische Linie der SPÖ-Spitze in den Tagen der Regierungskrise. Unterstützt wurde die SPÖ-Führung nach Angabe der Parteivorsitzenden von der SPÖ Wien, der Gewerkschaftsfraktion und den Jugendorganisationen. Diese Konstellation verwundert nur auf den ersten Blick. Am klarsten nachzuvollziehen ist die Haltung der Gewerkschaftsspitze. Sie orientiert sich daran, die sich zuspitzende soziale Frage am Verhandlungstisch zu lösen. Der Rücktritt des Sozi-Hassers Sebastian Kurz macht diese Perspektive wieder greifbar. „Gelingt es nun die Krise an den Spitälern und Kindergärten durch von uns angeschobene öffentliche Investitionen zu lösen, ohne dass der Arbeitskampf tatsächlich organisiert werden muss?“, so oder so ähnlich wird in der ÖGB-Zentrale gedacht.
Ähnlich denken wohl die VerwalterInnen der Stadt Wien: Hauptsache es kommen Leute in die Ministerien, die die Geldhähne für Wien wieder etwas aufschrauben. Die Motivationen der Roten Jugendorganisationen für eine stabilitätsorientierte Rolle der Sozialdemokratie sind komplexer. Für viele GenossInnen fühlen sich die vier Jahre Kurz Regierungen als sehr lang an, man fühlt sich politisch gegängelt, man will nun endlich weiterkommen. Dieses Voranschreiten wird heute auch klar mit einer Regierungsbeteiligung verknüpft. Eine kämpferische sozialistische Opposition der Arbeiterklasse zu den herrschenden Verhältnissen zu sein ist aktuell in den roten Jugendorganisationen nicht mehrheitsfähig.
Genosse Paul Stich, Vorsitzender der SJÖ, bringt in einem Kommentar diese Idee gut auf den Punkt: „Es muss uns in unserer politischen Arbeit immer darum gehen, neue gesellschaftliche Mehrheiten zu erringen. Nur so können langfristige Veränderungen durchgesetzt und abgesichert werden. Denn das Wahlsiege ohne neue Mehrheiten nur die halbe Miete sind, zeigt das Beispiel Deutschland.
Dort wird vieles, wenn nicht gar alles davon abhängen, inwiefern die bürgerlichen Mitte-Parteien FDP und Grüne bereit sind, den Aufbruch in eine progressive Zukunft zu wagen, die einen höheren Mindestlohn, stabile Pensionen gegen Altersarmut oder ein massives Ankurbeln der Wohnbauprogramme bringt. Gelingt diese Aufgabe, gibts eine Regierung der Zukunft unter Olaf Scholz. Gelingt sie nicht, drohen fünf Jahre Stillstand und Politik für Konzerne unter Armin Laschet. So einfach ist die Rechnung.“
Fortgesetzte Krise
Die Linken in der SPÖ tragen also nichts Substanzielles dazu bei, dass die Arbeiterklasse eine eigenständige politische Vertretung auf der Höhe der Zeit hätte. Keines der linken Aushängeschilder kritisiert den staatstragenden Kurs der SPÖ-Spitze. So kommt es zu der absurden Situation, dass gerade der Rechtsausleger Doskozil mit einer Neuwahl-Forderung und konkreten Reformvorschlägen (Mindestlohn, Pflege) öffentliches Profil gewinnt, während die LinksreformistInnen sich damit begnügen, brav ihre Spielwiesen zu beackern. Die Sozialistische Jugend hat zwar drei Mal gemeinsam mit LINKS und der KPÖ Demos gegen Kurz und das „türkise System“, das „in die Opposition geschickt werden“ soll organisiert. Aber mit der Perspektive, dass damit eine schnelle „progressive“ Wende an der Regierung eingeleitet werden könnte, ist nahtlos die Fortsetzung der Krise der großen Arbeiterorganisationen vorprogrammiert.
Um es deutlich zu sagen: eine „progressive Koalition“ ist das Wunschszenario des Kapitals, nicht ein Projekt gegen die Herrschenden. Was die Arbeiterklasse braucht ist ein sozialistischer Kampfplan, nicht eine Erneuerung der Klassenzusammenarbeit unter „progressiven“ Vorzeichen.
(Funke Nr. 198/5.11.2021)