Seit über 20 Jahren schreibe ich im Funke Artikel und oft waren dabei große Emotionen im Spiel. Empörung, Wut oder auch Freude begleiteten mich und halfen, die persönlichen Erfahrungen und Gefühle in größere politische Zusammenhänge zu setzen. Bei diesem Artikel habe ich zum ersten Mal Angst. Angst davor, ihn zu schreiben. Angst davor, zu reden, meine Sichtweise zu erklären und gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit aufzuschreien. Was hat sich verändert?
Wir sind mehr wert
An den Einrichtungen der VKKJ in Wien und Niederösterreich bieten ca. 300 Fachkräfte multidisziplinäre medizinische, psychologische und therapeutische Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien mit besonderen Bedürfnissen an. Das Therapie-Personal, fast alles Frauen, hat mit Hilfe des Betriebsrates seit fast fünf Jahren versucht, mit der Geschäftsführung eine ihrer Tätigkeit entsprechende Entlohnung zu verhandeln. Trotz hochqualifizierter Arbeit lagen die Gehälter teils massiv unter den branchenüblichen Kollektivverträgen des Wiener KAV bzw. des Landes Niederösterreich und in fast allen Berufsgruppen sogar unter dem in Wien üblichen SWÖ-Kollektivvertrag. Die Ambulatorien unterliegen keinem Kollektivvertrag, weshalb auch der Betriebsrat ursächlich für Gehaltsverhandlungen zuständig ist.
Der Weg zur erfolgreichen Gehaltserhöhung
Nach den Jahren des Stillstandes und mehreren Aktionen von den verschiedenen Ambulatorien wurde auf zwei stark besuchten Betriebsversammlungen von der Belegschaft ein öffentlicher Aktionstag im Juni 2019 beschlossen, um bei einer Vorstandssitzung auf die Dringlichkeit unserer Forderungen hinzuweisen. Die Aktion wurde von der für uns zuständigen Gewerkschaft GPA-djp mitorganisiert und fand in der Freizeit der MitarbeiterInnen statt. Der Tag wurde zu einer kraftvollen, konstruktiven und kreativen Manifestation von solidarischer Selbstbestimmtheit. Ein selbst komponiertes Lied wurde vorgetragen, der Betriebsrat übergab dem Vorstandsvorsitzenden eine Chilipflanze und las die „10 guten Gründe für eine Gehaltsanpassung“ vor – eine Zusammenfassung unserer hochwertigen Arbeit, die von den KollegInnen in der Betriebsversammlung erstellt wurde. Danach wurden 200 Rosen (eine anonyme Spende einer Mitarbeiterin) verteilt und u.a. zu dem alten Lied der Arbeiterinnenbewegung „Brot und Rosen“ getanzt. Eine Woche später gab die Geschäftsleitung nach Verhandlungen mit den GeldgeberInnen eine Gehaltserhöhung bekannt. Alle Gehälter wurden zwischen 170 € und 350 € angehoben. Die meisten Berufsgruppen liegen damit gehaltstechnisch nun in der Nähe des SWÖ-KV, allerdings noch immer nicht beim Schema des KAV bzw. des Landes Niederösterreich.
Soweit – so nicht gut!
Nach Bekanntwerden der Gehaltserhöhung war die Freude groß und auch der Stolz über das gemeinsam Erreichte. Diese Stimmung kippte schlagartig ins Gegenteil, als der Betriebsrat per RSB-Brief über eine Unterlassungsklage informiert wurde. Die Geschäftsführung hatte, für alle überraschend, beim Arbeits- und Sozialgericht eine Klage gegen den Betriebsrat eingereicht. Konkret ist die Klage der Versuch, den Tätigkeitsbereich des Betriebsrates massiv einzuschränken. Bei Zuwiderhandlung wird mit Geldstrafen gedroht. Im Antrag heißt es: „Die beklagte Partei ist schuldig, ab sofort bei sonstiger Exekution, es zu unterlassen, Maßnahmen des Arbeitskampfes zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen zu ergreifen, und zwar in dem sie als Betriebsrat allein oder mit Dritten Kundgebungen organisiert, zur Teilnahme an Kundgebungen aufruft oder an diesen teilnimmt, oder in dem sie Arbeitnehmer der klagenden Partei zur Abstimmung über Kampfmaßnahmen auffordert oder zur Teilnahme an der Vorbereitung und der Organisation von Kundgebungen einlädt.“
Im Vorfeld versuchte der Betriebsrat die Geschäftsleitung zu bewegen, die Klage zurückzunehmen und sich gemeinsam auf einen Mediationsprozess einzulassen.
Dies wurde abgelehnt. Aufgrund der allgemeinen Brisanz stellte sich auch die GPA-djp-Vorsitzende Barbara Teiber öffentlich hinter den Betriebsrat und vertrat uns vor Gericht: „Wer Versammlungen und Kundgebungen zur Durchsetzung von legitimen Forderungen verbieten will, stellt die Grundpfeiler unserer Demokratie in Frage. Wer demokratische Rechte mit juristischen Maßnahmen einzuschränken versucht, begibt sich auf ein politisch gefährliches Terrain.“ Am 12. August fand eine Anhörung beim Arbeits- und Sozialgericht statt. Zwei Tage danach wurde die Klage von der Geschäftsleitung ebenso überraschend wieder zurückgezogen. Als Grund wurde die Wahrung des „betrieblichen Friedens“ genannt.
Brot und Rosen 2.0
Es gibt im Moment starke politische Bestrebungen, die Interessenvertretung von Lohnabhängigen sowohl überbetrieblich, als auch im Betrieb zurückzudrängen. Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass mit einer erfolgreichen Klage ein Präzedenzfall geschaffen hätte werden können, der die Arbeit von Betriebsräten massiv behindert und die demokratischen Rechte von ArbeitnehmerInnen am Arbeitsplatz im Allgemeinen eingeschränkt hätte. Doch auch wenn sich das betriebliche Miteinander in vielen Bereichen ins Negative verändert hat, wäre es falsch, dies auf die Haltung einzelner Geschäftsführungen zurückzuführen. Denn die zentrale, überbetriebliche Frage bleibt, wie der vorhandene gesellschaftliche Reichtum verteilt wird und wer darüber bestimmt, wo und wie investiert wird!
Und während ich das schreibe, sehe ich die Bilder vor mir, wie es ist, vor Gericht zu stehen, die Vorwürfe in den Klageschriften, die fassungslosen Gesichter meiner KollegInnen, die Unsicherheit über den gerichtlichen Ausgang, die betrieblichen Konsequenzen, die beginnende Resignation, und ich spüre wieder Angst. Und dann sehe ich wieder die Bilder von den Betriebsversammlungen, wo eifrig diskutiert und dann gemeinsam beschlossen wird, die Aktionsgruppen, in denen in der Freizeit geplant und organisiert wird, die tanzenden KollegInnen, die vielen Aufmunterungsmails, die „Wir sind Betriebsrat“-Rufe als Ausdruck des Zusammenhalts, die solidarischen KollegInnen aus anderen (Gewerkschafts-)Bereichen und ich spüre die Gewissheit, dass wir richtig liegen. Dass wir es wert sind. Dass wir einen Moment geschaffen haben, in dem Menschlichkeit und Selbstbestimmtheit auch außerhalb der Therapieräume gelebt wurde. Dass es richtig war und ist, einfach zu sagen, was ist! Denn noch größer als die Angst vor Konsequenzen, ist die Angst zu verstummen.
Lis Mandl
Betriebsratsvorsitzende
VKKJ Wien GesmbH
(Funke Nr. 176/28.8.2019)