Arabischer Raum. Vor fünf Jahren stürmten die arabischen Massen ohne Organisation, Plan oder Vorbereitung den Himmel, wie es Marx ausdrückte. Doch was ist aus der arabischen Revolution geworden, fragt Hamid Alizadeh.
Innerhalb weniger Wochen stürzten sie etwas, was sich scheinbar nach jahrzehntelangen Petitionen von Nichtregierungsorganisationen und akademischen Weltverbesserern keinen Zentimeter bewegt hatte. Der kolossale Staatsapparat, der hunderttausende Spione, Polizisten, und Soldaten einsetzte, konnte nur zuschauen, als die Massen die Straßen eroberten.
Wir sollten alle daran erinnern, die heute den „niedrigen Bewusstseinsstand“ der Massen beklagen, dass die Revolution in jeder Phase von den ArbeiterInnen, der Jugend, den Armen und den unterdrückten Menschen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen, vorangetrieben wurde. Während sich die „ExpertInnen“, professionellen PolitikerInnen und anderen Scharlatane in einem Schockzustand befanden und ihnen vor dieser Bewegung des „Mobs“ der Schrecken im Gesicht stand.
Trotzdem ist die Lage in der Region, fünf Jahre danach, in einem starken Kontrast zu dem Optimismus, der Hoffnung und dem Kampfgeist, welche die ersten Tage der Revolution kennzeichneten. Warum ist das so eingetreten?
Widersprüche bleiben
Im Jänner wurden wir Zeugen weitreichender Proteste in Tunesien, in denen zahlreiche Menschen verletzt wurden, nachdem die Armee in den Straßen eingesetzt und eine Ausgangssperre verhängt wurde. Die Proteste haben sich auch auf drei andere Städte im Süden Tunesiens ausgedehnt, wo die Jugend Arbeitsplätze fordert. Obwohl der unmittelbare Funke der Bewegung von 2011 die tragische Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi war, waren die jahrelange Ungerechtigkeit, Erniedrigung, Unsicherheit und Armut die wahren Gründe für die weitreichende Revolution. Im Gegensatz zu dem enormen Reichtum der Diktatoren, lebten 40% der Menschen in der arabischen Welt von weniger als zwei Dollar am Tag. Die Jugendarbeitslosigkeit lag bei ungefähr 40%, in einigen Regionen sogar bei bis zu 80%.
Fünf Jahre nach dem Sturz von Zine El-Abedine Ben Ali in Tunesien sind keine Probleme gelöst worden. Die Arbeitslosigkeit ist nicht zurückgegangen, sondern offiziell von 12 auf 15,3% gestiegen. In Kasserine ist sie bei über 30% geblieben. Obwohl einige demokratische Rechte gesichert wurden, ist das nur ein kleiner Trost für die Menschen, die um das Überleben kämpfen müssen. Ein Demonstrant erklärte der Nachrichtenagentur AP das folgendermaßen: „Freiheit ist schön, aber damit kann ich meine Familie nicht ernähren“.
In Ägypten, wo die Arbeitslosigkeit mit 12,7% über dem Niveau von 2011 liegt, ist die Lage ähnlich. Hier bereitet das so genannte „revolutionäre“ Regime von Präsident Sisi die Feierlichkeiten für die Revolution mit der Einkesselung von AktivistInnen und Demonstrationsverboten vor. In der Zwischenzeit bahnt sich die Freilassung des abgesetzten Präsidenten Hosni Mubarak an.
Zur gleichen Zeit sind die ursprünglichen Volksproteste in Syrien, dem Irak, Jemen und Libyen in barbarische Bürgerkriege übergegangen, welche diese Staaten in sich bekriegende Fraktionen auseinanderbrechen lassen haben.
In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass sich bei einigen Menschen, welche die Situation aus der Ferne betrachten, Pessimismus breit gemacht hat. Für MarxistInnen geht es nicht darum zu klagen oder zu verzweifeln, sondern in erster Linie die Faktoren zu verstehen, die zu der jetzigen Lage geführt haben.
Ägypten
Obwohl die Spontaneität der Massen durchaus ihre Stärken hat und ihre enorme potentielle Macht offenbart, wäre es falsch sie zu romantisieren. Es war genau der unvorbereitete Charakter der Aufstände, der ihr zum Verhängnis wurde.
Der Sturz eines Diktators kann der Beginn einer Revolution sein, wenn diese aber hier endet, kann die enorme Energie der Massen schließlich verschwendet werden. Die ägyptischen Massen haben diese schmerzlichen Erfahrungen machen müssen. Seit 2011 haben sie sich vier Mal erhoben, drei Präsidenten und vier Premierminister gestürzt, an ihrem täglichen Leben hat sich aber nichts verändert. Am 30. Juni 2013 gingen 14 Millionen ÄgypterInnen auf die Straße, das war wahrscheinlich – zumindest relativ gesehen – die größte Protestaktion in der menschlichen Geschichte. Was konnte man mehr von den ägyptischen Massen verlangen? Sie zeigten eine große Kampfbereitschaft und hatten bei mehreren Gelegenheiten die Macht in den Händen. Einer der Führer der Bewegung vom 30. Juni erklärte der britischen Zeitung The Guardian: „Direkt nachdem Sisi sein 48-stündiges Ultimatum stellte, hatten wir ein Treffen. Ich war beunruhigt, denn ich dachte, es könnte ein Versuch der Armee sein, auf die Welle aufzuspringen, die Situation auszunutzen und selbst die Macht zu ergreifen. Aber ich dachte auch, wenn es zu einem Staatsstreich käme, würde Sisi aus dem Militär mit einer Gegenreaktion rechnen müssen. Ich habe an einer Militärakademie studiert und viele meiner früheren Kollegen hatten mir in den Wochen vor den Protesten versichert, sie würden uns unterstützen“. (The Guardian, 06.07.2013)
Wenn die herrschende Klasse sich dazu entschlossen hätte, die Armee gegen die Revolution einzusetzen, wäre sie entlang der Klassenlinien auseinandergebrochen. Sie war der Revolution ausgeliefert. Da die Führer der Bewegung nicht wussten, was sie mit der Macht anfangen sollten, übergaben sie diese dem Militär unter Führung von Abdel Fattah el-Sisi. Sisi spielte sich als Verteidiger der Revolution auf, um diese an sich zu reißen, aber tatsächlich ist er, genau wie Mohammed Mursi vor ihm, ein Vertreter der herrschenden Klasse Ägyptens, obgleich er eine andere Fraktion repräsentiert, die zwischen 25 und 40% der Wirtschaft kontrolliert. Mit der Übergabe der Macht an Sisi gab man der herrschenden Klasse die Möglichkeit, ihre Kräfte zu reorganisieren. Gleichzeitig wurde Sisi in den Augen der Massen zu einer revolutionären Autorität, der seinen Ruf vorübergehend stärkte, als er hart gegen die verhassten Muslimbrüder vorging.
Heute hat sich nach Jahren des Kampfes Müdigkeit unter den Massen breit gemacht und die Bewegung ist abgeebbt. Sisi hat versucht mit Repressionen gegen die Revolution vorzugehen. Unter dem Deckmantel der Kampagne gegen die Muslimbrüder hat er tausende revolutionäre Jugendliche und AktivistInnen aus der ArbeiterInnenklasse verhaften lassen.
Syrien
Syrien erwies sich als das schwächste Glied der Kette in der arabischen Revolution. Die Bewegung in Syrien war in einem gewissem Sinne unreif. Ohne einen Impuls seitens der revolutionären Bewegungen in der Region (Tunesien, Ägypten usw.) hätte sie sich um einige Jahre hinausgezögert. Das Regime von Baschar al-Assad hatte erst kurz vorher begonnen sich von der verstaatlichten Planwirtschaft abzuwenden und sich in Richtung Kapitalismus zu bewegen. Es fand jedoch noch bei Teilen der städtischen Bevölkerung und der ArbeiterInnenklasse aufgrund der Errungenschaften der Vergangenheit, wie dem Sozialsystem und dem hohen kulturellen Niveau als Folge der kostenlosen Bildung usw. Unterstützung. Die Zustimmung zum Regime ging langsam zurück, aber dieser Prozess befand sich noch in einem frühen Stadium.
Das erklärt, warum die vagen Rufe der revolutionären Jugend nach Demokratie nicht genügend Echo in der ArbeiterInnenklasse als Ganzes erfuhren. Nachdem sie Zeugen des schnellen Sturzes von Mubarak und Ben Ali geworden war, glaubte die syrische revolutionäre Jugend, dass sie durch Massenproteste auf den Straßen das Gleiche erreichen könnte. Als das nicht funktionierte und sie den Sturz Gaddafis mit Hilfe einer westlichen Militärintervention beobachtete, glaubte sie an eine ähnliche Möglichkeit in Syrien. Dies isolierte die Bewegung noch weiter von den ArbeiterInnen, denen klar war, welche Art von „Demokratie“ eine westliche Intervention bringen würde. Die fehlende Beteiligung der ArbeiterInnenklasse war der Hauptunterschied zu den Revolutionen in Tunesien und Ägypten und der Hauptgrund, warum der Ausgang ein anderer war.
Nach dem Stillstand an der politischen Front wandte sich die Bewegung in Richtung des “bewaffneten Kampfes”, aber wenn dieser keine Verbindung zur organisierten ArbeiterInnenklasse hat, kann das verhängnisvoll verlaufen. In einer reinen militärischen Konfrontation, ohne die volle Unterstützung der städtischen ArbeiterInnen, wird die Revolution immer die schwächere Partei sein. Diesen Weg gehend machte sich die Bewegung verletzlich und geriet unter die Kontrolle ausländischer imperialistischer Mächte.
Die CIA sah nun, genau so wie einige andere Staaten aus dem Westen und dem Mittleren Osten, die Gelegenheit zu intervenieren und pumpte Milliarden an Dollar zur Unterstützung reaktionärer Gruppen, deren Interessen sich an jene der Imperialisten anlehnten, nach Syrien. Die islamistische Entartung der Bewegung stärkte Assads Stellung unter dem überwiegend säkularen Teil der Bevölkerung. Die einzige Frage, auf die sich Assad und die USA und ihre Verbündeten einigen konnten, war die Notwendigkeit der Zerschlagung der revolutionären Kräfte.
Wie beabsichtigt, hat die blutige Niederlage in Syrien (und in Libyen, wo sich ein ähnlicher Prozess abspielt) und das brutale Blutbad viele revolutionäre Bewegungen in der Region zum Erliegen gebracht. Viele Menschen haben daraus den Schluss gezogen, dass eine „Revolution“ nur Chaos und Barbarei erzeugt.
Eine Frage der Führung
Es ist eine Tatsache, dass die Revolutionen in Ägypten und Tunesien auf halbem Wege stehen geblieben und zum Stillstand gebracht worden sind. Das hat es reaktionären Kräften ermöglicht, die Bewegung zu entgleisen und in Richtung Konterrevolution zu bewegen. In Ägypten bedeutete das, dass man den Staatsapparat intakt und die Ökonomie in den Händen der alten herrschenden Klasse ließ. In Syrien beschränkte sich die Opposition auf die Forderung nach demokratischen Rechten, in der wirtschaftlichen und sozialen Frage stand sie für Privatisierungen und Kürzungen im Sozialwesen. Sie hatte das gleiche Programm wie Assad, nur mit einem höheren Tempo.
In beiden Fällen glaubten die Führer der Bewegung, dass „Mäßigung“ der beste Weg sei, um die Bewegung auf breitere Beine zu stellen. In Wirklichkeit gaben sie aber der Konterrevolution Raum zum Taktieren, was tragische Konsequenzen hatte. Eine ähnliche Lage entwickelte sich in der gesamten Region. Daher ist die Bewegung momentan verebbt, aber keines der wichtigen sozialen oder ökonomischen Probleme, die eigentlich der ursächliche Grund für die Aufstände waren, ist gelöst worden.
In Ägypten ist die Sisi-Diktatur extrem schwach und kann sich nur halten, weil die Massen nach Jahren des Kampfes müde und desorientiert sind. Aber die ägyptische Revolution ist nicht in einem offenen Kampf besiegt worden. Die Massen erinnern sich daran, wie sie in drei Jahren vier Regierungen gestürzt haben. Als Vorwegnahme zukünftiger Aktionen sollten wir nicht vergessen, dass sie Al Sisis erste Regierung im Frühjahr 2014 gestürzt haben. Früher oder später wird sich diese Kraft erneut erheben.
Solange die Revolution sich auf dem Rückzug befindet, wird die hässliche Fratze der Reaktion dominieren. Unter der Oberfläche scheinbarer Ruhe wirken jedoch die Widersprüche, die zur Revolution führten, weiter. In Ländern wie Syrien und Libyen ist die Revolution sehr weit zurückgedrängt worden. In Ägypten, der Türkei und dem Iran, wo es eine starke Arbeiterklasse gibt, sind neue Bewegungen im Entstehen. Der Schlüssel liegt in der Schaffung einer Führung, welche in diesen Bewegungen eingreifen kann, um vergangene Fehler nicht zu wiederholen.
Trotz alledem hat der Kapitalismus es nicht geschafft, die Probleme, vor denen die Massen in den arabischen Ländern und dem gesamten Mittleren Osten stehen, zu lösen. Tatsächlich hat sich die gesamte Lage verschlechtert. Der Kampf gegen Ungerechtigkeit, Armut und Barbarei wird zwangsläufig neu belebt. Aber er kann nur siegreich sein, wenn das verrottete kapitalistische System, das die Hauptursache für all diese Probleme ist, gestürzt wird.