Die Massenproteste gegen den Wahlbetrug, mit dem das politische Establishment einen Sieg des linken Kandidaten, Andres Manuel Lopez Obrador (kurz: AMLO) verhindern wollte, haben in den letzten Wochen eine neue Qualität erlangt. Wie kann eine revolutionäre Perspektive für diese Bewegung aussehen?
Die lateinamerikanische Geschichte ist reich an Beispielen, dass die bürgerliche Demokratie nur dann hochgehalten wird, wenn sie im Interesse der herrschenden Klasse funktioniert. (Hier sei an den Putsch gegen Chiles linken Präsidenten Salvador Allende 1973 oder an den Putschversuch gegen Hugo Chávez 2002 erinnert.) Als abzusehen war, dass Felipe Calderon, der Kandidat der rechtskonservativen PAN, die schon bisher mit Ex-Cola-Manager Vincente Fox den Präsidenten stellte, die Wahl haushoch verlieren würde, ging es daran, den Wahlbetrug noch so glaubwürdig wie möglich erscheinen zu lassen. Es wurde also nur ein „Vorsprung, von 240.000 Stimmen (bei insgesamt 41 Mio. Wahlberechtigten) „erreicht“. Längst ist der Wahlbetrug ausreichend dokumentiert. 904.000 Stimmen wurden erst gar nicht ausgezählt, in einer Zeitung waren Photos von Wahlurnen auf Müllkippen zu sehen“…
Die soziale Lage in Mexiko ist am Brodeln, viele Menschen erhofften sich durch die Wahl von AMLO, der als Bürgermeister von Mexico City mit seiner Sozialpolitik große Popularität erlangte, einen Ausweg aus der Misere. AMLOs Programm geht jedoch über reformistische Ansätze wie Sozialprogramme oder nationale Unabhängigkeit in der Versorgung mit Erdöl und Erdgas hinaus. Der wahre Albtraum der mexikanischen Oligarchie ist nicht im Programm zu finden, sondern in der sozialen Bewegung, die sich zuerst an der Wahlurne äußerte, die aber nicht an den Grenzen von AMLOs Programm Halt machen wird.
Von der Zeltstadt zur NDC…
AMLO rief zu „zivilem Ungehorsam, gegen den Wahlbetrug auf. Schon Ende Juli legte eine 3 Millionen Menschen zählende Demonstration den Verkehr in Mexico City lahm, 48 Tage lang belagerte eine Zeltstadt das Zentrum von Mexico City. Am 15. September findet jedes Jahr eine Militärparade anlässlich des „Grito de Dolores, (Aufruf zur Unabhängigkeit Mexikos) statt. Das Militär konnte erst ihre Parade abhalten, nachdem ihm von der Massendemonstration, die ihren eigenen „Grito de Dolores, abhielt, der Platz überlassen wurde. Es wurde vereinbart, am folgenden Tag erneut zu der von AML einberufenen „Nationalen Demokratischen Versammlung“ (NDC) zusammenzutreffen. Daran beteiligten sich 1.025.724 Delegierte aus dem ganzen Land. Insgesamt befanden sich (trotz strömendem Regen) 1.5-2 Millionen Menschen auf der Veranstaltung, die angesichts einer derartigen Massenbeteiligung natürlich eher einen demonstrations- als einen konferenzartigen Charakter hatte. Eine Reihe von Resolutionen wurde verabschiedet, darunter die Weigerung, Calderon als legitimen Präsidenten anzuerkennen. Es wurde entschieden, dass AMLO eine rechtmäßige Regierung bilden solle, die in Mexico City am
20. November, dem Tag der Mexikanischen Revolution, eingesetzt wird. Der Höhepunkt der Bewegung soll am 1. Dezember stattfinden, „um die Amtseinführung Calderóns zu verhindern“. Weiters wurde ein Aktionsplan beschlossen, der unter anderem einen nationalen Protesttag gegen die Privatisierung der Energieressourcen und eine nationale Aktionswoche zur Verteidigung des freien Bildungszuganges umfasst.
Laut erklang der Slogan „Se siente, se siente, tenemos presidente, – „Man kann es spüren, man kann es spüren, wir haben einen Präsidenten!, Schon die jüngsten sozialen Bewegungen gegen die Regierung Fox – die immerhin noch mit eindeutiger Stimmenmehrheit gewählt wurde – waren erfolgreich gewesen. Die Regierung Calderón steht da auf wackligeren Beinen, und das erkennt die Bevölkerung. In der Massenbewegung gegen den Wahlbetrug verschiebt sich das Kräfteverhältnis zusehends nach links. So wurde zum Beispiel der Vorschlag abgelehnt, AMLO nicht zum Präsidenten, sondern nur zum „Anführer der Widerstandsbewegung, zu wählen. Selber diskreditiert haben sich auch die Zapatistas. Sie hatten mit ihrer „Otra Campagna, dazu aufgerufen, weder Calderón noch AMLO zu unterstützen. Indem sie die beiden in den gleichen Topf werfen, vergessen sie vollkommen, dass hinter Calderon die nationale und internationale Bourgeoisie steht, und hinter AMLO eine Massenbewegung ins Rollen gekommen ist, die erstens
berechtigterweise für die Einhaltung demokratischer Rechte kämpft und zweitens schon darüber hinausgeht und AMLO weiter nach links treiben kann, als ihm lieb ist.
… und vom LehrerInnenstreik zur APPO
Während in Mexico City die Bewegung zahlenmäßig am stärksten ist, hat sie im Bundesstaat Oaxaca eine neue Qualität erreicht. Ausgangspunkt dafür war ein Streik der Lehrergewerkschaft um höhere Löhne, der den Rest der Bevölkerung mitgerissen hat. Nachdem die Polizei den Streik mit brutaler Repression beantwortet hatte, gab es eine Massendemo von 400.000 Menschen. Die Forderung: Ende der Herrschaft des verhassten Gouverneurs Ulises Ruiz Ortiz, welcher für Repression bis hin zur Ermordung politischer AktivistInnen verantwortlich gemacht wird.
Die Bewegung organisiert sich in der APPO (Asemblea Popular del Pueblo de Oaxaca) – es werden in den einzelnen Stadtvierteln Delegierte gewählt, die auf der Asamblea über Fragen des Alltagslebens und der Sicherheit entscheiden. Das Gewaltmonopol des Staates wird nicht mehr als gegeben akzeptiert: zur Selbstverteidigung dienen Barrikaden, Stangen und Macheten. Die APPO hat als Reaktion auf die Ermordung von AktivistInnen eine eigene „LehrerInnenpolizei, gegründet. Auch das Medienmonopol wurde durch Besetzung von Radio- und Fernsehstationen gebrochen, in denen jetzt Sendungen von der Bevölkerung für die Bevölkerung gemacht werden.
Von einigen Führern der APPO und der Lehrergewerkschaft wurde versucht, den Streik der LehrerInnen an den Schulen, der das Rückgrat der Bewegung in Oaxaca bildet, zu beenden. Diese sollten durch eine beträchtliche Gehaltserhöhung zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegt werden. Dieser Plan stieß jedoch auf heftigen Widerstand und wurden schließlich von der APPO abgelehnt. Diese Ereignisse zeigen deutlich, welche Stimmung in Oaxaca herrscht. Die Menschen verfolgen dort längst mehr als rein ökonomische Forderungen und beginnen die Machtfrage zu stellen. Allerdings ist das Nebeneinander von altem Staat und der APPO, die den Keim einer Rätedemokratie darstellt, eine äußerst instabile Angelegenheit. Wenn das kapitalistische System nicht zur Gänze überwunden wird, wird es eher früher als später wieder seine Kräfte sammeln und die revolutionäre Bewegung zerschlagen.
Die wichtigste Aufgabe der revolutionären Bewegung in Mexiko besteht zum jetzigen Zeitpunkt darin, die auf der CND am 16. September gewählte Regierung zu ihrer wirklichen Regierung zu machen. Dazu muss es zur Bildung lokaler Aktionskomitees nach dem Beispiel der APPO in Oaxaca kommen: in den Wohnbezirken, den Schulen, Universitäten, Fabriken und Kasernen. Diese sollen Delegierte wählen, die für die Vernetzung der Komitees auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene verantwortlich sind. Unmittelbare Aufgabe der Komitees muss der Kampf für die grundlegendsten Bedürfnisse der Massen sein, wie z.B. der Kampf für die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, mit Lebensmitteln und Wohnungen sowie für höhere Löhne und für den Erhalt der Betriebe in öffentlichem Eigentum. Damit wird der Kampf für wirkliche Demokratie mit dem Kampf für bessere Lebensbedingungen verbunden und bekommt eine sozialistische Perspektive. Auf einige Bundesstaaten hat sich die APPO schon ausgeweitet, neben Oaxaca wurden auch in Guerrero, Michoacán und sogar in Baja California im Norden des Landes an der Grenze zu den USA Volksversammlungen einberufen.
Die GenossInnen der marxistischen Strömung „Militante, fordern als nächsten Schritt einen landesweiten Generalstreik, welcher klar und deutlich zeigen soll, wem die Macht im Land nun gehört.