Die Auffassung, dass Israel eine Klassengesellschaft wie jede andere sei, trifft man nicht oft innerhalb der Linken der arabischen Welt. Im folgenden Interview mit Yossi Schwartz, das von der Kommunistischen Aktionsliga vergangenen Dienstag in Haifa geführt wurde, spricht der israelische Marxist über die Situation in Israel und in den besetzten Gebieten, die Notwendigkeit einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive.
Könntest du den arabischen LeserInnen etwas über dich, deine politische Gruppierung und dein Programm erzählen?
Ich wurde in Palästina während der britischen Besatzungszeit geboren und bin seit meinem 19. Lebensjahr linker Aktivist. Damals bin ich der kommunistischen Partei beigetreten. Die Partei spaltete sich im Jahre 1965. Ich blieb in dem Flügel, der von der sowjetischen Bürokratie unterstützt wurde. Ich trat aus der Partei 1967 aus, als ich wegen deren Unterstützung der israelischen herrschenden Klasse in Widerspruch zur Parteilinie kam.
Danach wurde ich einer der MitbegründerInnen der Neuen Linken in Israel, einer linken kleinbürgerlichen Bewegung. Später wurde mir klar, dass nur die Arbeiterklasse die Gesellschaft verändern kann. Seither betrachte mich als Trotzkist.
Wir haben eine sehr kleine Gruppe in Israel, mit einigen SympathisantInnen in unserem Umfeld. Unsere wichtigste Aufgabe heute ist es, die Ideen des Marxismus innerhalb der israelischen Arbeiterklasse und der Jugend zu verbreiten und eine marxistische Strömung innerhalb der israelischen Arbeiterbewegung aufzubauen. Heute, zum ersten Mal seit vielen Jahren, sehe ich eine historische Chance.
Die israelische Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Es gab Zeiten, als Israel Vollbeschäftigung und einen steigenden Lebensstandard für seine StaatsbürgerInnen garantieren konnte. Heute dagegen hat die Arbeitslosenquote die 10 Prozent-Marke durchbrochen. Die Regierung kürzt unaufhörlich die Sozialausgaben. Sie hat das Pensions-, Bildungs- und Gesundheitssystem angegriffen. Heute säumen BettlerInnen die Straßen Israels! Es gibt eine sich ausweitenden Kluft zwischen Arm und Reich.
Wie bei jedem anderen Land handelt es sich um eine Klassengesellschaft. Es gibt eine Arbeiterklasse – eine jüdische und arabische Arbeiterklasse. Und es gibt eine herrschende Klasse. Die beiden Klassen haben unterschiedliche Interessen – wie die große Anzahl von Streiks beweist.
Wir glauben, dass die Arbeiterklasse gezwungen sein wird, sich gegen ihre UnterdrückerInnen zur Wehr zu setzen. Früher oder später wird es so weit sein. Wir stützen uns auf diese Perspektive. Im Lichte des Klassenkampfes wird so manches klarer sein.
Die nationale Frage verkompliziert unsere Aufgaben ungemein. Während die Arbeiterklasse Israels von ihrer eigenen herrschenden Klasse unterdrückt wird, unterdrückt der Staat Israel gleichzeitig ein ganzes Volk, die PalästinenserInnen. Solange die PalästinenserInnen unterdrückt werden, solange kann es auch keine echte Freiheit für die israelischen ArbeiterInnen geben. Ein wesentlicher Bestandteil des Kampfs der israelischen ArbeiterInnen für ihre eigene Befreiung ist der Kampf für der Rechte der PalästinenserInnen.
Unser Programm steht für einen föderativen Arbeiterstaat, in der die israelische und palästinensische Nation jede ihre eigene territoriale Autonomie im Rahmen einer weiterreichenden Sozialistischen Föderation des Mittleren Osten genießt. Dies kann aber langfristig nur als Teil der weltweiten sozialistische Revolution erreicht werden.
Wie siehst du die gegenwärtige Situation in Gaza? Wie sind die Reaktionen in Israel selbst?
Die Situation in Gaza ist furchtbar. Die Leute sind gezwungen unter menschenunwürdigen Bedingungen zu hausen. Gaza ist wie ein einziges, riesiges Freiluftgefängnis. Die BewohnerInnen Gazas werden dafür bestraft, dass sie nicht den Manövern der Israelis und des US-Imperialismus pariert haben. Sie stimmten gegen die korrupte Verwaltung durch die Fatah und wählten mehrheitlich die Hamas, die sie noch eher als Alternative betrachteten. Das ist tragisch, denn die PalästinenserInnen stehen eigentlich in einer laizistischen und fortschrittlichen Tradition. Die Hamas kann nicht die Probleme des palästinensischen Volks lösen, aber die PalästinenserInnen haben alles Recht zu wählen, wen sie wollen. Die israelische Propaganda spricht fortwährend von Israel als der „einzigen wirklichen Demokratie im Mittleren Osten“, aber sobald das Wahlergebnis der PalästinenserInnen nicht ihren Vorstellungen entspricht werden sie bombardiert. Wo bleibt da die „Demokratie“?
Es ist offensichtlich, dass die israelische herrschende Klasse nur nach einem Vorwand suchte, um wieder in den Gazastreifen einzudringen. Sie haben permanent die PalästinenserInnen provoziert. Vergessen wir nicht den tragischen Fall einer Familie, die von israelischen Raketen bei einem Strandausflug getroffen wurde, und all die anderen Provokationen. Der Aggressor ist eindeutig Israel. Wir dürfen nicht auf die lächerliche Argumentation hereinfallen, dass die PalästinenserInnen „angefangen haben“.
Die Stimmung in Israel ist widersprüchlich und schwankt sehr mit jedem neuen Ereignis. Man unterstützte Kadima und ihre Koalition, weil man sie als Hoffnung für den Frieden sah. Anstelle dessen herrscht nun Krieg und Unsicherheit.
Hätte die israelische Regierung nur gewollt, sie hätte verhandeln und einige palästinensische Gefangenen freilassen können. Der entführte Soldat wäre freigelassen worden. Aber sie wollten den Krieg.
Sie suchten auch eine Ausrede um den Libanon anzugreifen. Was sie dem libanesischen Volk antun ist barbarisch. Mehr als 200 LibanesInnen, überwiegend ZivilistInnen, wurden getötet, während ein wenig über zwanzig Israelis im Zuge der Auseinandersetzungen umkamen. Alles tragische Fälle, unnötiger Blutzoll! Aber man beachte das Missverhältnis zwischen den beiden Seiten, um zu sehen, wer der eigentliche Aggressor ist!
Jetzt, da die Hisbollah Raketen bis weit ins Landesinnere Israels gefeuert und mehrere ZivilistInnen getötet hat, ist die Stimmung innerhalb Israels umgeschlagen. Die Leute leben in Angst. Einige verlangen, koste es was es wolle zurückzuschlagen; andere fliehen aus der Gefahrenzone. Dass nun Gebiete im Landesinneren getroffen wurden, ist neu. Es löst große Verwirrung innerhalb der Bevölkerung aus. Man fühlt sich nicht mehr sicher. Eines ist klar: Aufgrund der widersprüchlichen Meldungen seitens der Regierung und des Militärs haben die Menschen das Vertrauen in die offiziellen Stellen verloren.
Dieser Krieg kostet Israel viel Geld – Milliarden von Dollar. Wenn er einmal vorbei ist, werden die einfachen Leute für ihn zahlen müssen. Man wird das Sozialsystem angreifen und den Menschen erklären, dass man Opfer bringen müsse. Wie lange werden das die Menschen noch ertragen? Früher oder später werden sich die Klassenwidersprüche ihren Weg an die Oberfläche bahnen.
Was sind deiner Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Linken und der Jugend beider Seiten?
Wir haben einen gemeinsamen Feind – den Imperialismus, die herrschende Klasse Israels und die Herrscher der arabischen Staaten, die mit dem Imperialismus und der israelischen herrschenden Klasse gemeinsame Sache machen, um ihre Macht gegen die ArbeiterInnen und Jugendlichen zu verteidigen. Während wir die israelische Besatzung bekämpfen, darf nicht der Krieg einer Nation gegen eine andere unsere Losung sein, sondern Klassenkampf.
In Mitten des ganzen Konflikts und des Blutvergießens ist es oft nicht einfach, einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Aber es ist nicht möglich, nur eines der Probleme der Völker des Mittleren Ostens auf der Grundlage des Kapitalismus zu lösen. Nur die Arbeiterklasse kann den Kapitalismus stürzen. Nur Internationalismus und die Einheit der Arbeiterklasse über alle Grenzen hinweg kann unsere Losung sein.
Was sind die Perspektiven der Bewegung? Zeichnet sich ein Konflikt ab?
Die heutigen Entwicklungen in Gaza stellen einen Wendepunkt in der Geschichte Israels dar. Viele Israelis wird gerade klar, dass sie in einer regelrechten Todesfalle leben. Und die Krise des Systems wird unweigerlich zum Aufschwung des Klassenkampfs führen. Seit Jahren haben wir diese Krise vorhergesagt und viele sind mit unserer Perspektive vertraut. Wenn sich die ArbeiterInnen in den Kampf einmischen, werden unsere Ideen auf fruchtbaren Boden fallen.
In den vergangenen Jahren sahen wir sehr wichtige Streikbewegungen in Israel. Diese Streiks haben uns einen kleinen Einblick in die zukünftigen Entwicklungen gegeben. Die israelische herrschende Klasse hat keine andere Wahl als die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse anzugreifen. Die ArbeiterInnen haben bereits reagiert, wie etwa in der Frage der Pensionen. Es wird Zeiten der Ebbe und der Flut geben, selbst Zeiten der tiefsten Reaktion. Die herrschende Klasse versucht die ganze Zeit den ArbeiterInnen einzutrichtern, dass „alle Juden gegen den gemeinsamen Feind zusammenhalten müssen“. Aber gleichzeitig geht sie gegen die ArbeiterInnen vor. Wir werden von der Phase der Reaktion direkt übergehen zu revolutionären Ereignissen. Das ist unvermeidlich. Und das gibt den MarxistInnen die historische Möglichkeit, der gegenwärtigen Misere eine vernünftige Alternative entgegenzustellen.