Tipps und Tricks für den Weg zum perfekten Körper! Solche Überschriften findet man in den sogenannten „Frauenzeitschriften“ im Überfluss. Die Null-Diät, Punkte-Diät und Mono-Diät etc. schreiben vor, was und wieviel Frauen essen sollen, um „schön“ zu werden. Doch diese Disziplinierung fordert ihren Preis, denn Diäten sind oft der Einstieg, Bulimie oder Magersucht zu entwickeln: Essen zu verweigern oder zu erbrechen aus Angst zuzunehmen.
Seit den 80er Jahren nehmen Essstörungen immer mehr zu; derzeit sollen in Österreich schon ein Prozent der Mädchen zwischen zwölf und 20 Jahren von Magersucht betroffen sein. Mindestens 6.500 Frauen zwischen 20 und 30 leiden an Ess-Brechsucht, insgesamt haben 200.000 Österreicherinnen zumindest einmal im Laufe ihres Lebens eine Essstörung, d. h. etwa jede 15. Frau in Österreich. Die Auswirkungen von Bulimie und Magersucht sind erheblich, schädigen sie doch massiv den Körper: Die Zähne werden durch das Erbrechen kaputt, durch die Mangelernährung kommt es zu Kaliummangel und Blutarmut. Besonders gefährlich ist Magersucht, die bis zum Tod führen kann.
In der Werbung werden uns täglich „schöne“ dünne Frauenkörper vorgeführt, die uns zeigen, wie wir aussehen sollen; die Schönheitsindustrie profitiert von Appetitzüglern, Fettblockern oder Abführmitteln, die gekauft werden, um damit endlich die ersehnte „Traumfigur“ zu erreichen.
Dass allein die sexisitsche Werbung oder Schönheitsindustrie an Essstörungen schuld seien, wäre aber etwas zu kurz gegriffen. Denn es stellt sich die Frage: Warum orientieren sich gerade Frauen so stark an Schönheits- und Schlankheitsidealen und was hat das mit unserem Gesellschaftssystem zu tun?
Die Psychologie geht heute davon aus, dass die Ursache für Essstörungen in einer „Körperschema-Störung“ liegt, in einer gestörten Selbstwahrnehmung vom Bulimikerinnen oder Magersüchtigen, die sich auch bei Untergewicht noch zu dick finden. Diese individualisierende Sichtweise erklärt jedoch nicht, was die Ursachen dieser „Wahrnehmungsstörung“ sind, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür, warum viele Mädchen und Frauen ihren Körper „gestört“ wahrnehmen.
BMI (Body Mass Index) 20 – 25
Essstörungen sind ein Phänomen vor allem westlicher Industriestaaten, von dem zu 95% Frauen betroffen sind. Dabei sind die Betroffenen keine „übersättigten Wohlstandskinder“, die sich in einer Gesellschaft von Nahrungsüberfluss auf Nahrungsverweigerung kaprizieren. Der Zusammenhang ist ein anderer: Gibt es genug Essen und wird die Nahrungsaufnahme nicht mehr von außen – wie etwa durch feste Mahlzeiten – bestimmt, muss man seinen Appetit selbst kontrollieren. Maßstäbe für diese Selbstkontrolle sind Gewichtstabellen, die festlegen, was das „Normalgewicht“ ist, an dem man sich orientieren muss, Kalorientabellen, die vorschreiben, wie viel man täglich essen darf, die Werbung, die ständig und überall überschlanke Körper zeigt und mehr oder weniger wohlmeinende FreundInnen, die darauf hinweisen, dass man doch etwas zu dick wäre.
Die Wertvorstellungen einer kapitalistischen Gesellschaft, die auf Konkurrenz beruht, beeinflussen jeden Bereich unseres Lebens, auch unsere Körper. Leistung, Disziplin, Erfolg, diese Werte lassen sich anscheinend direkt am Körper ablesen: Wer mehr Kilo hat, zeigt offenbar, dass er/sie sich nicht kontrollieren kann, dass er/sie sich gehen lässt und es nicht schafft, sich „zusammenzureißen“.
Das bei uns heute vorherrschende Schönheitsideal bedeutet, extrem dünn zu sein, ohne Fett an den Hüften, dem Bauch, den Oberschenkeln und am Hintern – was für Frauen ein Ideal ist, das unrealistisch ist. Dass man dieses Ideal nie erreichen wird können, bedeutet, dass sich Frauen ihr ganzes Leben mit dem eigenen Körper beschäftigen und eigene Bedürfnisse immer zurückstecken müssen. Für viele Mädchen und Frauen ist es schon normal, ständig auf Diät und ständig mit dem eigenen Körper unzufrieden zu sein. Auch von Männern wird immer mehr erwartet, einen perfekten muskulösen Körper zu haben.
90 – 60 – 90
Ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist es, akzeptiert und geschätzt zu werden. Dass Anerkennung und Selbstwertgefühl gerade über das eigene Aussehen angestrebt wird, gilt besonders für viele Mädchen und Frauen.
Sozialisiert wird frau immer noch dahingehend, die zugeschriebene Rolle innerhalb der Arbeitsteilung zu erfüllen: Und zwar neben dem Job die „Reproduktionsarbeit“ zu leisten, Familie, Haushalt und Kinder zu versorgen. Damit diese Versorgungsarbeit auch funktioniert, muss sie das Ideal einer sozialen und Mann und Kinder umsorgenden Mutter erfüllen können.
Daher werden Mädchen so erzogen, dass sie sauber, brav und nett sind, diszipliniert und auf andere orientiert. Selbstbehauptung, Aggression auszuleben und eigene Bedürfnisse wichtig zu nehmen ist nichts für sie.
Mit solchen antrainierten Eigenschaften ist es kein Wunder, dass viele Mädchen und Frauen dazu tendieren, sehr stark von der Anerkennung anderer abhängig zu sein und andauernde Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln.
Kritisch wird das für Mädchen vor allem in der Pubertät, wo sich der Körper verändert, frau merkt, dass sie der männliche Blick entdeckt und dass sie angestarrt wird, dass sie in erster Linie darüber definiert wird, ob sie „attraktiv“ ist.
Widersprüchliche Anforderungen kommen von allen Seiten: Einerseits werden Mädchen und Frauen immer wieder auf Rollenklischees zurückgeworfen, das heißt, sie sollen sanft und anpassungsfähig sein, während andererseits in der Schule, in der Lehre oder in der Arbeit ständig Leistung und Durchsetzungsvermögen gewünscht wird – viele scheitern an diesen widersprüchlichen Anforderungen, wenn sie versuchen, alle an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen.
Als Mensch wertgeschätzt zu werden, diese Erfahrung macht man selten in der Ausbildung oder im Job. Wenn das, was man tut, keine große Befriedigung bietet, versuchen viele darüber Selbstbestätigung zu finden, wofür man leicht Anerkennung bekommen und sich „begehrt“ fühlen kann: Oft ist es das eigene Aussehen. Diese Orientierung auf das Aussehen birgt das große Risiko in sich, sich selbst zu schädigen: Zunächst viel Zeit dafür aufzuwenden, sich mit dem Äußeren zu beschäftigen, sich mit anderen zu vergleichen und abzunehmen, um dem angestrebten Idealbild zu entsprechen. Und wenn das Leben einfach zum Kotzen ist, oder frau sich dem ganzen Scheiß einfach verweigern will, wenn noch viele andere Probleme dazukommen, kann sich das sehr schnell in Essstörungen äußern.
DDR
Wie sehr Essstörungen mit einem bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund zusammenhängen, zeigt sich bei einem Vergleich mit der DDR, wo die Verbreitung von Bulimie und Magersucht signifikant geringer war als etwa in der BRD. Eine Studie von Katharina Ratzke zeigt, wie sehr sich das Rollenverständnis von Ost- und Westfrauen unterschied und unterscheidet.
Genauso wie im Westen existierte auch in der DDR die Doppelanforderung an Frauen, sich um die Familie und den Haushalt kümmern zu müssen und gleichzeitig einen Beruf auszuüben. Aber im Kapitalismus wird das Kinderaufziehen als individuelles Problem gesehen: Viele Frauen müssen ihre Berufstätigkeit deswegen unterbrechen oder auf flexible Beschäftigung oder Teilzeit umsteigen und können Beruf und Familie meistens nur dann vereinbaren, wenn sie die Mittel dazu haben.
In der DDR wurden Frauen diese Anforderungen mit einer staatlichen Versorgung der Kinder, mit Kinderkrippen und Kindergärten erleichtert. Damit hatten Mädchen und Frauen eine ganz andere Perspektive ihres Lebensweges, nicht wegen der Familie eigene Berufspläne aufgeben zu müssen und sich auf ihre berufliche Tätigkeit konzentrieren zu können. Im Vergleich zur BRD waren sie besser ausgebildet und ergriffen viel mehr „frauenuntypische“ Berufe.
Nachdem Frauen in der DDR aufgrund der besseren Ausgangsbedingungen mehr Selbstbestätigung aus ihrer beruflichen Tätigkeit beziehen konnten, wurde die Verknüpfung Selbstbewusstsein – Aussehen gelöst. Auch wenn die klassische Rollenverteilung in der DDR nicht aufgehoben war, so gab es für Frauen doch mehr Möglichkeiten, ein anderes Rollenverhalten zu leben, das nicht so stark fixiert auf die äußere Erscheinung war.
Wenn SchulärztInnen in den Klassen Aufklärung betreiben, wird das nicht viel nützen, wenn gleichzeitig in den Gängen dm- und Palmers-Werbungen hängen. Sondern erst, wenn die gefährliche Kette aus Arbeitsteilung, reaktionären Rollenbildern und der Fixierung auf den „Idealkörper“ durchbrochen wird.
Lesetip:
Christine J. Thies, Bulimie als soziokulturelles Phänomen, Pfaffenweiler 1998.