Zum 80. Jahrestag der Ereignisse von Kronstadt wollen wir zu diesem noch immer heftig umstrittenen Thema einen Diskussionsbeitrag liefern.
Der Kronstädter Matrosenaufstand 1921 gilt noch heute in anarchistischen Kreisen als bestes Beispiel dafür, dass die Bolschewiki die russische Revolution verraten hätten, und bereits Lenin und Trotzki ihr vorrangiges politisches Ziel nicht in der „Diktatur des Proletariats“ sondern vielmehr in der „Diktatur der Partei über das Proletariat“ sahen. Ebenso wird in bürgerlichen Kreisen Kronstadt als ein Beispiel für die Grausamkeit der Bolschewiki im Umgang mit Andersdenkenden genannt. Was passierte wirklich in Kronstadt? War dieser Aufstand die „dritte Revolution“, die Revolution jenseits der Parteidiktatur, oder war es ein Versuch der Reaktion Fuss zu fassen?
Die soziale Zusammensetzung Kronstadts
In der Revolution von 1905 und später während der Februar- und Oktoberrevolution 1917 standen die Kronstädter Matrosen in vorderster Linie. Durch die Möglichkeit ins Ausland zu fahren und so der zaristischen Zensur zu entfliehen, kamen viele Matrosen mit marxistischen Ideen in Kontakt. Das politische Niveau lag weit über dem Durchschnitt der restlichen Bevölkerung, nicht wenige hatten kleine Bibliotheken, um sich fortzubilden. Im Oktober 1917 war Kronstadt, wie es Trotzki einmal sagte, die „Juwele der Revolution“.
Während der Bürgerkriegsjahre änderte sich aber die soziale Zusammensetzung in Kronstadt. Viele der bewusstesten Matrosen ließen sich an die Front versetzen, um die Revolution zu verteidigen, oder zogen als Propagandatrupps durch das Land, um die Bauern von der Politik der Bolschewiki zu überzeugen. Die leeren Stellen wurden durch Bauern und junge, unerfahrene Arbeiter (vor allem aus der Ukraine) ersetzt. Durch den Abzug der bewusstesten ArbeiterInnen und MatrosInnen fehlte nun jene Kraft, welche die weniger bewussten Schichten Kronstadts nach vorne treiben hätte können. Bereits 1919 wurde über die Undiszipliniertheit der Kronstädter Matrosen berichtet. Immer mehr gewannen kleinbürgerliche Ideen in dieser einstigen Hochburg der Revolution an Einfluss.
Der Anfang des Aufstandes
Am Ende des Bürgerkriegs stieg angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Entwicklung in ganz Russland der Unmut unter den Bauern, aber auch unter Teilen der Arbeiterschaft. Die Industrieproduktion war um ein Vielfaches gefallen, die Städte hatten dem Land keine Produkte anzubieten. Um die Rohstoffe effizient zu verteilen, mussten viele Fabriken geschlossen werden, und durch die Demobilisierung der Roten Armee strömten viele Soldaten in ihre Dörfer und Städte zurück und fanden keinen Arbeitsplatz. Hinzu kam eine schreckliche Missernte, welche die Versorgung der jungen Sowjetrepublik bedrohte. Daher wurden Lebensmittelrequirierungen am Land durchgeführt, um das Versorgungsproblem zu lösen. Bauernunruhen in mehr als 50 Regionen waren die Folge.
Sowohl Lenin als auch Trotzki wussten, dass ohne Unterstützung durch das Proletariat anderer europäischer Länder nicht an den Aufbau des Sozialismus in Russland gedacht werden konnte, sondern es allererste Aufgabe war, die Wirtschaft wiederaufzubauen und die fundamentalen Errungenschaften der Revolution zu verteidigen.
Den einzigen Ausweg sahen sie in der Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen, was auch zu einer weitgehenden Beschneidung der demokratischen Rechte der Räte und der Gewerkschaften führte. Nur durch eine Ausweitung der Revolution auf zentrale europäische Industriestaaten, und damit dem Wegfall der äusseren Feinde, wäre eine weitere Demokratisierung des Systems möglich gewesen. Unter dem Eindruck, dass viele der bewusstesten und politisch gebildetsten ArbeiterInnen im Kampf für die junge Sowjetrepublik gefallen waren, bestand aus der Sicht der Bolschewiki die Gefahr, dass in den Sowjets selbst konterrevolutionäre Kräfte die Mehrheit erlangen würden, womit auch die Sowjets als Stütze für das neue Regime weggefallen wären.
Am 1. März 1921 wurde bei einer vom ersten und zweiten Geschwader der baltischen Flotte einberufenen Versammlung eine Resolution verabschiedet, die den kleinbürgerlichen Charakter der Bewegung in Kronstadt bereits klar zum Ausdruck brachte: So wurde die Wiedereinführung des Kleinhandwerkes gefordert, freie Verfügungsgewalt der Bauern über ihr Land und Vieh (was den Tod von Millionen ArbeiterInnen in den Städten bedeutet hätte). Weiters forderten die Matrosen ein sofortige, geheime Neuwahl des Sowjets und die völlige Selbstverwaltung Kronstadts. Ausserdem sprachen sie sich für die Einberufung einer überparteilichen Konferenz bis zum 10. März aus. Am 6. März kam die Forderung „Sowjets ohne Kommunisten!“ auf.
Alle diese Forderungen scheinen auf den ersten Blick progressiv und der Revolution dienlich zu sein. Für die Bolschewiki war jedoch klar, dass die Erfüllung dieses Programms unter den gegebenen Umständen einen raschen Zerfall der Sowjetrepublik und den Sieg der Reaktion bedeutet hätte. Durch ein Nachgeben in diesem Fall wäre es innerhalb kürzester Zeit zu einem erneuten Aufflammen von Bauernunruhen im ganzen Land gekommen, und der Kapitalismus hätte sich innerhalb kürzester Zeit wieder etabliert. In einer Zeit des allgemeinen Hungers und der Kriegsmüdigkeit, war kein Platz für Kompromisse.
Es ist auch kein Zufall, dass sich die Bewegung selbst einen linken Anstrich gab. Dies war einfach deswegen notwendig, um die wenig bewussten Matrosen, die nicht offen für ein konterrevolutionäres Projekt zu haben waren, hinter sich zu sammeln. Es lag nicht im Interesse der bäuerlichen Matrosen, den Kapitalismus wieder zu etablieren. Die bewusstesten und treibenden Elemente hinter dem Aufstand waren aber klar prokapitalistisch. Gerade die Forderung „Sowjets ohne Kommunisten!“ zeigt dies. Alle anderen linken Parteien hatten sich im Lauf der Revolution auf die Seite der Konterrevolution geschlagen (so unterstützten beispielsweise die Sozialrevolutionäre die Bauernunruhen). Ohne eine bewusste Führung wären die Sowjets binnen kürzester Zeit zu einem Instrument der Konterrevolution geworden.
Nach kontroversiell geführten Debatten in den Führungsgremien der Bolschewiki begann am 7. März 1921 um 18.45 Uhr der Kampf um Kronstadt, bolschewistische Truppen stürmten über das gefrorene Eis Richtung Kronstadt. Aus rein militärstrategischen Gründen war ein möglichst schneller Angriff auf Kronstadt notwendig, denn wenige Tage später wäre mit dem Frühlingseinbruch das Eis geschmolzen. Über das Land wäre Kronstadt nicht mehr erreichbar gewesen, den Matrosen wäre ausserdem die gesamte baltische Flotte zur Verfügung gestanden und Kronstadt somit zur uneinnehmbaren Festung geworden. Hunderte Soldaten brachen ins Eis ein, bevor noch der erste Schuss fiel. Vom Festland her wurde Kronstadt durch die Artillerie beschossen. Bis zum 18. März wurde um jeden Meter auf der Insel gekämpft. Auf beiden Seiten gab es Tausende Todesopfer.
Die Lehren von Kronstadt
Kronstadt war die letzte von vielen, durch bäuerliche und kleinbürgerliche Kräfte getragene Erhebung gegen die junge Sowjetmacht. Um die sozialen Spannungen zu mildern, führten die Bolschewiki die NEP (Neue Ökonomische Politik) ein, welche einen begrenzten Kleinhandel für die Bauern erlaubte. Damit wurden die Forderungen der Bauern größtenteils erfüllt. Die Probleme, die sich dadurch ergaben, nämlich Stärkung der Kulaken (reiche Bauern) und das Aufkommen der NEP-Männer (Spekulanten) zeigt auch, wozu eine unkontrollierte Einführung solcher wirtschaftlicher Maßnahmen geführt hätte. Ohne zentrale Kontrolle wären die sozialen Errungenschaften der Revolution von 1917 auf einen Schlag verlorengegangen. Schnell hätten diese bürgerlichen Schichten Einfluss in den Sowjets erlangt und wären dabei aus dem Ausland unterstützt worden. Die Restauration des Kapitalismus hätte voll eingesetzt.
Nicht umsonst sehen sowohl Anarchisten wie Volin und Alexander Berkmann, als auch bürgerlich-reaktionäre Geschichtsschreiber, wie Stephane Courtois und Nicolas Werth (bekannt für „Das Schwarzbuch des Kommunismus“) im Kronstädter Aufstand die Erhebung des „wahren Volkes“ gegen die „bolschewistische Minderheitsdiktatur“.
Die Anarchisten sehen, ausgehend von einer falschen Analyse des Staates, in Kronstadt einen Versuch der dritten Revolution, die den Staat endgültig aufhebt. Ohne Rücksicht auf die objektive Situation (Scheitern der proletarischen Revolutionen in Europa, 3jähriger Bürgerkrieg, Verwüstung des Landes, Demotivation der Bevölkerung) forderten und fordern sie eine Lockerung und Dezentralisierung der Staatsmacht und einen Aufbau des „wahren“ Sozialismus. Gleichzeitig zeigt sich hier auch die völlig falsche Analyse von der Rolle der Arbeiterklasse. Eine Forderung, die von ArbeiterInnen kommt, muss nicht automatisch progressiv sein. Die Arbeiterklasse ist nicht homogen, sondern immer in progressivere und zurückgebliebene Schichten gespalten. Während einer Revolution muss es der Avantgarde gelingen, die weniger politisierten Schichten auf ihre Seite zu ziehen oder zumindest die neutrale Duldung dieser Mehrheit zu bekommen. Fehlt diese Avantgarde jedoch, wie es in Kronstadt 1921 eindeutig der Fall war, so fallen die zurückgebliebenen Schichten sehr schnell wieder zurück und suchen nach neuen Perspektiven. Daher waren natürlich Forderungen wie völlige Selbstbestimmung und Wiedereinführung des Kleinhandwerkes für viele verlockend.
Auf der anderen Seite erkennen die Bürgerlichen, dass eine Dezentralisierung der Staatsmacht der Reaktion, unterstützt durch die politisch wenig gebildeten Teilen der Bevölkerung wieder Auftrieb gegeben hätte und so eine Restauration des Kapitalismus (welche eine kräftige Unterstützung durch den Westen gefunden hätte) nur mehr eine Frage der Zeit gewesen wäre.
So schreibt etwa Victor Serge, der sehr viel Sympathien für den Anarchismus hatte, über den Kronstädter Aufstand:
„Die Konterrevolution verwandelte die Forderung nach der freien Wahl der Sowjets zu einer ´Sowjets ohne Kommunisten´. Wäre die bolschewistische Diktatur gescheitert, wäre es nur mehr ein kleiner Schritt zum Chaos gewesen, und zu erneuten Bauernunruhen, ein Massaker an Kommunisten, die Rückkehr der Emigranten, und schließlich, durch reinen Druck der Ereignisse, zu einer anderen Diktatur, diesmal aber anti-proletarisch. Depeschen aus Stockholm und Talinn zeigten, dass dies eine kurzfristige Perspektive der Emigranten war: dies bestärkte die Bolschewiki Kronstadt so schnell wie möglich zu unterwerfen, was immer es auch koste.“
Und Leo Trotzki über die Forderung ´Sowjets ohne Kommunisten´:
„Genau das war der Sinn der Kronstädter Losung: ´Sowjets ohne Kommunisten´, die sofort nicht nur von den Sozialrevolutionären, sondern auch von den bürgerlichen Liberalen aufgegriffen wurde. So hat auch ein relativ weitsichtiger Repräsentant des Kapitals, Professor Miljukow, verstanden, dass die Befreiung der Sowjets von der Führung durch die Bolschewiki in kurzer Zeit die Zerstörung der Sowjets selbst bedeutet haben würde. Die Erfahrung der russischen Sowjets unter menschewistischer und sozialrevolutionärer Herrschaft, und noch deutlicher, die Erfahrung der deutschen und österreichischen Räte unter den Sozialdemokraten, hat dies bewiesen. Sozialrevolutionär-anarchistische Sowjets konnten nur als eine Brücke von der proletarischen Diktatur zur kapitalistischen Restauration dienen. Sie konnten keine andere Rolle spielen, ohne Rücksicht auf die ´Ideen´ der daran Beteiligten. Deshalb hatte der Kronstädter Aufstand einen konterrevolutionären Charakter.“
Der Kronstädter Aufstand war sicherlich nicht das ruhmreichste Kapitel der russischen Revolution, gleichzeitig ist es aber auch klar, dass ein Erfolg des Aufstandes das Ende der Diktatur des Proletariats in Russland bedeutet hätte und ein schwer Rückschlag für die internationale Arbeiterbewegung gewesen wäre. Die Verteidigung der Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt darf sicher nicht aus einem Personenkult um Lenin und Trotzki heraus erfolgen, sondern mit dem Hintergrund, dass die Bolschewiki selbst Getriebene der objektiven Situation waren und im Bürgerkrieg kein Platz für Kompromisse war.
Quellen:
Trotzki, Leo: „Das Zetergeschrei um Kronstadt“; aus: „Die Internationale – theoretisches Organ des revolutionären Marxismus“, Nr. 4 / 12. Jahregang; November 1967: Paris.
Grant, Ted: „Russia – from revolution to counterrevolution“; Wellred: London, 1997.
Volin: „Der Aufstand von Kronstadt“; Unrast: Münster, 1999.