Nach dem Abflauen der revolutionären Welle und den faschistischen Machtübernahmen in Italien und Ungarn gerieten auch die österreichischen ArbeiterInnen in eine permanente Defensive. Schritt für Schritt versuchte die Bourgeoisie den „revolutionären Schutt“, d.h. die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung, zu beseitigen. Obwohl sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis deutlich zu Gunsten des wiedererstarkten Kapitals verschob und die organisierte Arbeiterschaft durch eine zögernde und abwieglerische Führung immer wieder an ihrer Machtentfaltung gehemmt wurde, manifestierte sich der Widerstandswille und die Solidaritätsbereitschaft der ArbeiterInnenklasse immer wieder.
Im Jahr 1920 verließ die SDAP die Regierung und trat in Opposition, durch das „Genfer Abkommen“ wurden wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen dem Parlament entzogen, und die Sozialdemokratie somit ihrer wichtigsten politischen Bühne beraubt. Weiters wurden in der Volkswehr, der Vorläuferin des Bundesheeres, sozialistische und kommunistische Wehrverbände zurückgedrängt und alte k.u.k. Offiziere wieder mit Posten betraut und mit absoluter Macht ausgestattet. Weiters traten die konservativ-monarchistisch gesinnten Heimwehren und Frontkämpfervereinigungen, wie auch schon die ersten Nazi-Gruppierungen immer forscher und besser organisiert in der Öffentlichkeit auf. Sie wurden von den Christlich-Sozialen nicht nur geduldet, sondern erhielten in einigen Bundesländern sogar den politischen Auftrag zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“. So erzwangen bereits 1922 6000 bewaffnete Heimwehrler die Niederlegung des Streiks im Judenburger Gussstahlwerk. Hier erkannten die Sozialdemokraten zurecht, dass sich hier ähnliches anbahnt wie im faschistischen Italien und beschlossen die „Wehrhaftmachung des Proletariats“ – der „Republikanische Schutzbund“ wurde geboren. Doch der stärkste Arm nützt nichts, wenn das Gehirn ausgeschaltet bleibt. Abgesehen davon, dass entgegen aller bürgerlichen Propaganda der Schutzbund nicht „von Waffen strotzte“ (bis in die späten 20iger paradierten die Schutzbündler mit Ochsenpeitschen und Pappgewehren), beschäftigte sich die sozialdemokratische Führungsriege dieser Jahre v.a. mit der Beruhigung der ArbeiterInnen, die sich wöchentlich mit neuen Attacken konfrontiert sahen. Abgesehen von der „Beseitigung des revolutionären Schutts“, sprich den Errungenschaften der 18er Revolution (Mieter-, Arbeiterurlaubsgesetz, Arbeitslosenfürsorge, Betriebsräte, Kinderarbeitsverbot, 8-Stundentag, Allgemeines Wahlrecht ….) schien dann dem konservativen Bundeskanzler Seipel im Jänner 1927 eine „Ständeordnung“, wo die „produktiven Stände“, sprich: Bauer, Gewerbetreibender und Unternehmer das alleinige Sagen hätten, die zeitgemäße Regierungsform. Neben diesen Attacken aus den Sphären der hohen Politik, sah sich die Arbeiterschaft auch an Leib und Leben bedroht. Ab 1923 bis zu den Ereignissen in Schattendorf am 23. Jänner 1927 wurden sieben Arbeiter von faschistischen Banden erschossen, und ein Wiener Semperit-Betriebsrat zu Tode geprügelt, Dutzende wurden verletzt. Die Täter kamen allesamt ungeschoren davon, so wurde einer dieser Todesschützen zu einer Geldstrafe von hunderttausend Kronen verurteilt, im gleichen Jahr wurde ein Gewerkschaftsfunktionär, wegen der „Nötigung“ Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen, zu einer genau gleich hohen Strafe verurteilt…
Am Nachmittag des 23.1.1927 wurden schließlich drei Teilnehmer eines Schutzbundaufmarsches (darunter ein Kind und ein Kriegsinvalide) im burgenländischen Schattendorf von Frontkämpfern erschossen. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, in den darauffolgenden Tagen kommt es in Österreich zu Protestkundgebungen und Arbeitsniederlegungen. Doch nach den Freisprüchen der Mörder von Schattendorf am 14. Juni konnten auch die geschicktesten Redner aus Partei und Gewerkschaft die Lage nicht mehr beruhigen. Die ersten, die vom Freispruch erfuhren, waren die Arbeiter des E-Werks Mariannengasse, im 9. Wiener Gemeindebezirk. Sie fassten noch in der Nacht, nachdem eine vorstellige Delegation in der Redaktion der AZ von niemanden empfangen wurde (so ließ sich u.a. auch Otto Bauer verleugnen), einen Streikbeschluss. Als die ungeheuerliche Nachricht am nächsten Morgen in den Betrieben bekannt wurde, wurden in vielen Fabriken etwaige Weisungen der Gewerkschaften und Partei gar nicht abgewartet. Zwischen acht und neun Uhr brachen die ersten Belegschaften großer Betriebe aus Simmering, Währing, Döbling und Floridsdorf Richtung Zentrum auf.
Unterwegs schlossen sich ihnen Bauarbeiter und Belegschaften anderer Betriebe an. Bereits um 8 Uhr traten die Wiener MagistratsbeamtInnen in den Ausstand. Um 9 Uhr 30 ritt die Polizeikavallerie den ersten Angriff auf die Demonstration, eine Stunde später wurde der erste Arbeiter getötet In der Folge wurden zahlreiche Polizeistationen und die Redaktionen der deutschnationalen „Wiener Neuesten Nachrichten“ und der christlichsozialen „Reichspost“ zerstört, zum Schutz gegen weitere Reiterattacken wurden in der Innenstadt Barrikaden gebaut. Nachdem vor dem Parlament nichts auszurichten war, zogen immer mehr DemonstrantInnen zum Justizpalast, der schlussendlich in Feuer aufging. Diese spontanen Proteste versuchte die Parteiführung mit allen Mitteln unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine wichtige Rolle sollte dabei der Schutzbund spielen. Nur mühsam gelang es dem Schutzbund, der den Ordnungsdienst versah, die eingeschlossenen Polizisten zu retten und der Feuerwehr Zugang zum Brandherd zu schaffen. Als sich nach harten Auseinandersetzungen der Ordnerdienst durchgesetzt hatte und die Feuerwehr die Löscharbeiten begann, fing die Polizei an in die Menge zu schießen. Währenddessen tagte der sozialdemokratische Parteivorstand im Parlament. Die geführte Diskussion ist nur schwer nachzuvollziehen, klar ist allerdings, dass sich gewaltige Gräben aufgetan haben müssen. Während Exponenten des rechten Flügels meinten, dass „Demonstrationen nicht mehr zeitgemäß seien“, meinte eine Minderheit, dass man jetzt „aufs Ganze gehen solle“, was auch bedeutete, dass Waffen ausgeteilt werden sollen. Diese Forderung wiederum wurde an diesem und am folgenden Tag immer wieder gestellt. Julius Braunthal, Mitglied des Vorstands, schilderte dies später so: „Sie stürzten herein und heischten stürmisch, flehentlich, mit Tränen in den Augen Waffen“.
Schlussendlich wurde ein eintägiger Generalstreik für Wien, ausgenommen lebenswichtige Betriebe, sowie die Verhängung eines gesamtösterreichischen Verkehrs- und Telekommunikationsstreiks und ein Zeitungsstreik beschlossen. Ausgenommen davon waren einige wenige sozialdemokratische Zeitungen und Kommunikationslinien. Alle Maßnahmen hatten rein defensiven Charakter, die in erster Linie dazu dienen sollten, dass die entstandene Situation etwa nicht von der Reaktion ausgenützt werden könnte, außerdem galt es Kanäle zu schaffen, um die entstandene Radikalisierung wieder abklingen zu lassen und wieder die Kontrolle über die Arbeiterschaft zu gewinnen. Gemäß dieser Strategie wurde am nächsten Tag dann die Schuld an der brutalen Auseinandersetzung des Vortags als „die Schuld von zwei- oder dreihundert disziplinlosen Burschen“ bezeichnet. Kein Wort von der Polizei.
Zurück zu den Ereignissen. Nachdem die Innenstadt „gesäubert“ worden ist, fuhr die Polizei durch die ArbeiterInnenbezirke und schoss wahllos in Menschenansammlungen, bis hinein in den Samstag kam es in den Bezirken zu Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterschaft und der Polizei. An diesem Tag starben 90 Menschen, 85 davon waren ArbeiterInnen, darunter waren 40 SozialdemokratInnen (unter anderem Rote Falken und Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterjugend), 11 Schutzbündler und zwei Mitglieder der KPÖ. Über Tausend wurden in Krankenhäuser eingeliefert, die Zahl der Verwundeten war aber sicher höher, da sich viele nicht trauten, ins Krankenhaus zu gehen. Ein Jahr zuvor gab sich die österreichische Sozialdemokratie auf dem Parteitag in Linz ein neues Programm, eines der wichtigsten Dokumente des Austromarxismus. Dieses Programm lässt an Radikalität nichts zu wünschen übrig. In der Realität, konfrontiert mit einer klaren Provokation durch die Bourgeoisie und spontanen Massenprotesten, zeigte die sozialdemokratische Parteispitze ihr wahres Gesicht. In Worten radikal, aber in der Praxis unfähig und nicht willens, die ArbeiterInnenklasse zur sozialistischen Machtübernahme zu führen. Die Ereignisse dieser Tage wurden in der Partei sehr gespalten gesehen. Karl Renner und Julius Deutsch traten als scharfe Kritiker der DemonstrantInnen auf. Max Adler allerdings meinte, dass die Wiener ArbeiterInnen ein „Zeugnis von der Lebendigkeit der moralischen Kraft im Proletariat“ gezeigt hätten und drehte den Vorwurf der Disziplinlosigkeit und falschen Erziehung um; die Führung nämlich sei falsch erzogen: „zu staatsmännischem Denken“ statt „zum sozialistischem Denken“.