Netanjahu setzt auf einen totalen Krieg im Nahen Osten

In den frühen Morgenstunden des 13. Juni begann Israel einen massiven Angriff auf den Iran, tötete einen Teil von dessen Militärführung und traf einige seiner Nuklearanlagen. Aktuell vollzieht sich eine weitere Welle israelischer Angriffe und trifft Ziele in Teheran, Keradsch und Qom. Die Atomanreicherungsanlage Natanz wurde schon zum zweiten Mal getroffen. Dieser schamlose Akt der Aggression droht, einen tödlichen regionalen Flächenbrand mit weitreichenden Folgen zu entfachen. Von Francesco Merli.
Zuerst veröffentlicht am 13.06.2025 auf marxist.com
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu verfügt über mehr als nur die sprichwörtlichen neun Leben einer Katze – zumindest in politischer Hinsicht. Er hat gerade erst ein weiteres Misstrauensvotum und eine sich anbahnende Regierungskrise wegen der Ausweitung der Wehrpflicht auf orthodoxe Juden überstanden.
Wie schon so oft hat Netanjahu seine einzigartige Fähigkeit unter Beweis gestellt, seine eigene Agenda durchzusetzen und sie Verbündeten wie Feinden gleichermaßen aufzuzwingen. So nutzte er sofort die Gelegenheit, die sich durch das Stocken der US-Iranischen Atomverhandlungen bot, um eine Angriffswelle auf den Iran zu starten, bei der Nuklearanlagen, Militärstützpunkte und Schlüsselfiguren ins Visier genommen wurden. Israel bezeichnet das als Beginn eines längerfristigen Angriffs mit dem Namen „Operation Rising Lion“.
Es ist noch unklar, welche Form die unvermeidliche iranische Vergeltung annehmen wird, aber eins ist sicher: Netanjahus Angriff auf den Iran droht den gesamten Nahen Osten in einen offenen Krieg zu stürzen.
Offensichtlich war die US-Regierung über Netanjahus Pläne gut informiert und wusste höchstwahrscheinlich auch über den Zeitpunkt des Angriffs Bescheid. Es wäre für Israel unmöglich gewesen, ohne grünes Licht aus Washington zuzuschlagen. US-Präsident Trump hat wiederholt eingeräumt, dass Netanjahu schon seit einiger Zeit einen Angriff auf den Iran plant.
Netanjahu hat allerdings auch Trumps wiederholte Aufforderungen, den Angriff nicht durchzuführen, bewusst ignoriert. Das ist ein Warnsignal: Er gestattet niemandem, auch nicht Trump, ihm Vorschriften zu machen. Er geht offensichtlich davon aus, dass er die Beziehungen zu Washington noch weiter strapazieren kann, ohne dass es zum Bruch kommt.
Das zeigte sich schon beim Waffenstillstand in Gaza, den Netanjahu zwar unterschreiben musste, aber von Anfang an zu sabotieren entschlossen war. Als Netanjahu dann einseitig den Waffenstillstand brach, hatte Trump kein Problem damit, weitere Forderungen nach einem Waffenstillstand fallenzulassen. Seither hat Trump Israel freie Hand gelassen, den völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser (einschließlich der gegenwärtigen Aushungerungskampagne) fortzusetzen, weiteres Land auf den syrischen Golanhöhen zu annektieren und eine Reihe neuer Siedlungen im Westjordanland anzukündigen. Der US-Imperialismus und Trump haben keinerlei Interesse am Schutz der Lebensbedingungen der Palästinenser, die weiterhin als Bauernopfer im Spiel der Großmächte missbraucht werden.
Für Netanjahu reicht es aber nicht, den genozidalen Krieg gegen Gaza einfach fortzusetzen, um sich zu retten und an der Macht zu bleiben. Immer wenn der Druck des Kriegs auf die israelische Gesellschaft nachlässt, tritt die tiefe innere Krise Israels wieder in den Vordergrund und Netanjahus Machtposition destabilisiert sich. Gerade deshalb ist Netanjahu mehr denn je auf eine Eskalation des Konflikts im Nahen Osten aus, in dem die USA in einen Krieg mit dem Iran hineingezogen wird. Jetzt hat er seinen Versuch gestartet.
Aber was ist das Interesse des US-Imperialismus? Außenminister Marco Rubio hat die USA offiziell von Netanjahu distanziert und erklärt, Israel sei allein gegen den Iran vorgegangen. „Wir sind nicht beteiligt“, sagte Rubio und betonte: „Der Iran sollte keine US-Interessen oder US-Personal angreifen.“ Diese Aussage soll die US-Stützpunkte in der Region schützen, kann aber auch als direkte Drohung gegenüber dem Iran verstanden werden.
Trump unterstreicht unterdessen sein Angebot, sofort einen Deal mit dem Iran zu schließen. Er behauptet, das würde Israel davon abhalten, „noch brutalere“ Angriffe durchzuführen. Gleichzeitig spricht er offene Drohungen aus und gibt dem Iran die Schuld an Israels Angriff, da dieser bisher keinem Deal zugestimmt habe. Bemerkenswert ist, dass Trump Israel explizit weitere US-Militärlieferungen zusichert.
Was heißt das? Trump scheint Netanjahus Entscheidung vorübergehend zu unterstützen, um Israel als vorgehaltene Waffe gegenüber dem Iran einzusetzen und so einen besseren Deal für den US-Imperialismus zu erzwingen. Im Kern bleibt für Trump ein Deal mit dem Iran das Ziel. Für Netanjahu hingegen ist das Ziel eine Eskalation des Kriegs. Trump und Netanjahu spielen ein äußerst gefährliches Spiel, das in einer vollständigen Eskalation des Krieges im Nahen Osten münden kann.
Macron hat im Namen der europäischen Staatschefs – die ihre leise Kritik an Israels „Exzessen“ in Gaza längst vergessen haben – alle Seiten zur „Deeskalation“ aufgerufen (was bedeutet, dass der Iran als Aggressor gilt, falls es zur Vergeltung kommt), während er Israels „Recht auf Selbstverteidigung“ ausdrücklich unterstützt. Ausnahmsweise ist Macron dabei langsamer als das deutsche Auswärtige Amt, das „den wahllosen iranischen Angriff auf israelisches Territorium aufs Schärfste verurteilt“ hat. Beides ist Heuchelei par excellence.
Am israelischen Angriff auf den Iran waren mehr als 200 Kampfflugzeuge beteiligt, die unversehrt zu ihren Basen zurückkehrten. Die Angriffe durchbrachen das aus Russland stammende Luftabwehrsystem des Iran, was in Moskau und darüber hinaus für Verlegenheit und Konsequenzen sorgen dürfte. Israel rühmt sich, dass Irans Luftabwehr durch Drohnen ausgeschaltet wurde, die zuvor eigens zu diesem Zweck in den Iran eingeschleust worden waren.
Der israelische Geheimdienst hat im Juli 2024 den Hamas-Führer Ismail Haniyeh ermordet, während dieser von den Revolutionsgarden in Teheran beherbergt wurde, und damit erneut bewiesen, dass er über direkten Zugang zu Informationen höchster Geheimhaltungsstufe über das iranische Regime verfügt. Die Tötung mehrerer iranischer Generäle wie Mohammad Bagheri, Hossein Salami und Gholam Ali Rashid sowie führender Wissenschaftler des Atomprogramms belegt dies zusätzlich.
Allerdings hat Israel eine lange Geschichte gezielter Attentate auf ranghohe iranische Amtsträger und Wissenschaftler. Diese Angriffe haben das iranische Atomprogramm nie dauerhaft verlangsamt oder ernsthaft beschädigt. Dieser Angriff scheint – mehr noch als frühere – eher als Provokation gedacht zu sein statt als Versuch, das iranische Atomprogramm ernsthaft zurückzuwerfen.
Dass der Iran in der Lage ist, direkt gegen Israel Vergeltung zu üben, hat er am 1. Oktober 2024 bewiesen, als er mit mehr als 300 Raketen und Drohnen auf die Ermordung Haniyehs durch Israel reagierte. Trotz einer Vorwarnung durch den Iran durchdrangen Dutzende iranische Raketen Israels Verteidigung und trafen mehrfach ihre Ziele, darunter auch Militärbasen. Die damalige Reaktion der Biden-Regierung drückte die Panik über das Scheitern der israelischen Luftabwehr aus. Um Israel einen Vorteil zu verschaffen, wurden sofort hundert US-Soldaten nach Israel entsandt, um ein komplexes US-Luftabwehrsystem zu bedienen.
Die iranische Vergeltung könnte jedoch weit über eine direkte Antwort hinausgehen. Die Hisbollah scheint im Moment nicht gewillt, Israel anzugreifen. Sie wurde durch Israels Angriffe und die Invasion des Libanon im Oktober geschwächt und organisiert ihre Kräfte noch neu, obwohl sie weiterhin über ein großes Arsenal an Raketen und Drohnen verfügt. Israel hat sich als verwundbar gegenüber groß angelegten, tieffliegenden Drohnen- und Raketenangriffen erwiesen. Jeder Versuch der Hisbollah, anzugreifen, würde jedoch unmittelbar eine neue Eskalation von Israels Krieg gegen den Libanon provozieren.
Die Huthi haben angekündigt, ihre Vergeltung aus dem Jemen zu verstärken. Im Mai wurde eine einmonatige massive US-Bombenkampagne gegen die Huthi von Trump eingestellt, weil dem US-Generalstab klar geworden war, dass die Bombardierung die Verteidigung oder die militärischen Fähigkeiten der Huthi in keiner Weise beeinträchtigt hatte. Trump zog sich aus der direkten Konfrontation zurück und schloss einen Separatdeal mit den Huthi, um Angriffe auf US-Schiffe im Roten Meer zu verhindern. Bemerkenswert ist, dass dieser Deal sich nicht auf israelische Schiffe erstreckt.
Sollten die USA Israel bei der Abwehr iranischer Vergeltungsmaßnahmen unterstützen, hätte das erneut weitreichende Folgen für den Schiffsverkehr im Roten Meer. US-Militärschiffe und Stützpunkte in der Region könnten dann wieder Ziel von Angriffen werden.
Das hätte gravierende Folgen für die Ölpreise und die internationalen Handelsrouten, während die Weltwirtschaft ohnehin kurz vor einer schweren Rezession steht. Sollte der Iran die Straße von Hormus schließen, durch die 20% des weltweiten Ölhandels laufen, wären die Auswirkungen noch gravierender.
Die Huthi haben ihrerseits mehrfach gezeigt, dass sie in der Lage sind, Ziele in Israel zu treffen. Mehrere ihrer Langstreckenraketen durchdrangen bereits die israelische Abwehr, was sogar zur Schließung des Ben-Gurion-Flughafens in Tel Aviv führte.
Die pro-iranischen Milizen im Irak sind im Wesentlichen intakt und könnten ebenfalls für Vergeltungsmaßnahmen gegen Israel oder US-Stützpunkte in der Region eingesetzt werden.
Eine offensichtliche Folge des Angriffs ist, dass der Iran sein Atomwaffenprogramm sofort intensivieren wird. Der israelische Angriff wird die Fortsetzung dieses Programms kaum verhindert oder auch nur verlangsamt haben. Tatsächlich erreicht Netanjahu das genaue Gegenteil seiner angeblichen Ziele, indem er die Verhandlungen der USA mit dem Iran sabotiert. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass es ihm in Wirklichkeit um eine Eskalation des Krieges im Nahen Osten geht.
Der Iran gibt zudem an, Beweise für Israels „schlecht gehütetes Geheimnis“, das israelische Atomwaffenprogramm, gesammelt zu haben. Der Iran droht damit, Dokumente zu veröffentlichen, die die Unterstützung und Beteiligung Dritter an der Entwicklung israelischer Atomwaffen beweisen sollen. Allerdings würde der Beweis dessen, was ohnehin ein offenes Geheimnis ist, an der Gesamtsituation wenig ändern.
Israels Angriff hat erneut die Verwundbarkeit des Iran offengelegt und das Regime gezielt bloßgestellt. Eine Vergeltung ist mehr als wahrscheinlich. Im Oktober 2024 war offensichtlich, dass der Iran Israel zwar eine ernste Warnung senden, aber keine Eskalation wollte. Diesmal ist ebenfalls klar, dass Israel sich ohne direkte US-Beteiligung und eine gewisse Kooperation Jordaniens und anderer reaktionärer arabischer Regimes in der Region nicht schützen kann.
Ein offener Krieg zwischen Israel und Iran würde die Stabilität all dieser Regime gefährden, militärische und wirtschaftliche US-Einrichtungen Vergeltungsangriffen aussetzen und so die USA weiter in den Konflikt hineinziehen.
Bereits jetzt hat die US-Marine den Zerstörer USS Thomas Hudner, der über Raketenabwehr verfügt, ins östliche Mittelmeer geschickt. Ein zweiter Zerstörer wurde ebenfalls auf den Weg geschickt, um sich auf entsprechende Anordnungen des Weißen Hauses vorzubereiten.
Netanjahu hat die Krise im Nahen Osten ein weiteres Mal massiv verschärft. Die Konsequenzen für die Stabilität der Region und die Weltwirtschaft werden enorm sein. Eine Intervention der USA in der Region droht wieder auf die Tagesordnung gesetzt zu werden.