Der Weg zur serbischen Revolution

Am 15. März kam es in Belgrad zur größten Massenkundgebung seit dem Sturz von Slobodan Milošević. Hunderttausende Menschen strömten aus dem ganzen Land in die Hauptstadt. Selbst aus der muslimisch geprägten Region im Süden Serbiens, dem Sandžak, beteiligten sich Studierende; in Niš wurden sie mit einem Iftar-Essen empfangen. Auch Roma und Sinti schlossen sich dem Protestzug an. Von Vincent Angerer.
Ausgelöst wurde die Bewegung durch ein Unglück am Bahnhof von Novi Sad im November 2024, das 16 Todesopfer forderte. Ein erster Versuch der Regierung, die Studierendenproteste mithilfe von Schlägertrupps und dem Geheimdienst zu unterdrücken, ging nach hinten los. Die Bewegung wuchs rasant. Bald waren fast alle Fakultäten Serbiens besetzt. Die Studierenden kontrollierten selbst den Zutritt zu den Unis. Nur wer sich vor der Bewegung legitimieren konnte, wurde eingelassen. Tägliche Vollversammlungen mit teils hunderten Teilnehmern finden statt.
Diese Bewegung hat beeindruckende Ausmaße angenommen, doch konnte sie bislang keine klare politische Perspektive entwickeln. Zwar wurde der Ruf nach einem Generalstreik laut, doch die Arbeiterklasse hat bisher nicht in organisierter Form durch Massenstreiks in den Betrieben eingegriffen.
Diese Beschränktheit der Bewegung trat am 15. März deutlich zutage. Obwohl es möglich gewesen wäre, Präsident Vučić zu stürzen, machte die Führung der Studierenden einen Rückzieher. Nach Provokationen und dem Einsatz einer illegalen Schallkanone durch die Polizei rief sie zur Auflösung der Demonstration auf. Doch dieser Rückzug hinterließ Ernüchterung. Der 15. März war „nur“ die größte Massenkundgebung seit Jahrzehnten – ohne greifbaren Erfolg.
Zwar wurden Zugeständnisse wie kostenlose Öffis oder der Rücktritt des Premiers erzielt, doch das System Vučić blieb bislang unangetastet. Die Studierenden suchen nun die Verbindung zur Arbeiterklasse und haben zu allgemeinen Vollversammlungen (Zborovi) aufgerufen. In Vlasotinac, Niš, Obrenovac, Aranđelovac und Novi Sad wurden inzwischen solche Versammlungen abgehalten. In Niš wurde die Stadtregierung mit Eiern beworfen, als sie versuchte, zur Versammlung zu sprechen.
Doch wie Trotzki schon über die Revolution von 1905 sagte: Eine Bewegung muss voranschreiten, Etappensiege erringen, sonst droht sie zu verpuffen. Die Zborovi sind ein sinnvolles Mittel, aber kein Ziel an sich. Noch fehlt eine klare Perspektive – es fehlt ein Ziel.
Die Nachricht vom Tod von 59 Menschen bei einem Brand in einer Diskothek in Kočani (Nordmazedonien) entfachte neue Wut. Schnell bildeten sich Verbindungen zu Studierenden in Nordmazedonien. In Skopje kam es bereits zu einer Massenkundgebung, ein erstes Plenum ist angekündigt. Die Empörung über das Verbrechen in Kočani überlagert die Demoralisierung nach dem 15. März. Die Bewegung geht weiter. Als am 19. März der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der AKP verhaftet wurde, kursierte in Belgrad bereits der Gedanke: „Neben Griechenland & Mazedonien muss auch die Türkei aufstehen.“
Die Perspektive wird klarer: Es braucht eine gemeinsame Bewegung auf dem gesamten Balkan. Überall haben wir dasselbe Bild: Abwanderung, Korruption, imperialistische Ausbeutung, ökonomischer Zerfall. Doch dafür braucht es ein sozialistisches Programm. Es braucht eine Bewegung, in der die Arbeiterklasse als Klasse in Erscheinung tritt – mit Streiks in den Betrieben, mit Massenorganen der Arbeitermacht. Nur eine sozialistische Revolution kann die Diktatoren, Gangster und Handlanger des Imperialismus stürzen.
Auch in der Türkei brodelt es: In den letzten Wochen gingen in den größten Protesten seit 10 Jahren Hunderttausende Menschen in Istanbul, Ankara und anderen Städten im ganzen Land auf die Straße. Unmittelbarer Auslöser ist, dass der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu verhaftet wurde – genau zu dem Zeitpunkt, als er von der oppositionellen CHP zum Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen gegen Erdoğan gekürt wurde.
Die Gründe für die Größe der Proteste sind aber nicht in der politisch schwachen Opposition selbst zu suchen, die versucht, den Unmut in „sichere“ Bahnen zu lenken. Sie liegen tiefer: Nach Jahren von massiver Inflation ist für Arbeiter, Pensionisten und Studenten schon die Versorgung mit Brot, Gemüse, Strom und das Zahlen der explodierenden Mieten ein tagtäglicher Kampf. Erdoğan muss sich nicht vor der Opposition fürchten, sondern vor einer Revolution der Massen!