Universitäten: Zwischen Bildungsfabrik und Elitenschmiede

Politik und Experten bemängeln Zustand und Leistungsfähigkeit des österreichischen Hochschulsystems. Zu wenig Spitzenforscher, zu wenig Abschlüsse, zu lange Durchschnittsdauer fürs Studieren, das falsche Menschenmaterial für den Arbeitsmarkt, zu teuer. Zum Sündenbock werden „faule Studenten“ gemacht. Das Problem ist jedoch die allgemeine Fäulnis des Kapitalismus. Von Lukas Frank & Christoph Pechtl.
Laut einer WIFO-Studie (Ausgaben und Finanzierung von Universitäten im internationalen Vergleich, 2023) kommen an der Uni Wien auf einen Professor 20 Studierende, in Oxford vier. Die Folgen: überfüllte Hörsäle, fehlende Plätze in Pflichtkursen, Knock-out-Prüfungen mit 90 % Durchfallquote. Gleichzeitig müssen immer mehr Studierende nebenbei immer mehr arbeiten. 1973 waren 36% der Studenten erwerbstätig, heute 70%.
Dass ein Drittel der Studierenden nach 10 Jahren keinen fertigen Abschluss hat, dafür gibt es gute Gründe.
Um das Problem in die Tiefe zu verstehen – und bei der Wurzel zu packen – lohnt es sich, die Frage zu stellen, was die Universität überhaupt ist. In Europa existieren sie seit dem Mittelalter als Bildungsinstitutionen unter dem Diktat der Kirche.
Moderne Universitäten, die Forschung betreiben und bei denen Einheit von Forschung und Lehre im Mittelpunkt stehen, etablierten sich im deutschen Sprachraum inspiriert von den Umwälzungen der Französischen Revolution. Hier formulierte das deutsche Bürgertum seine Vorstellungen einer rationalen bürgerlichen Gesellschaftsordnung, basierend auf Privateigentum und Nation. Hier sollten sich Menschen herausbilden, die diese Verhältnisse gegen den feudal-mittelalterlichen Schutt durchsetzen. Unter den wichtigsten Fächern der 1809 gegründeten Humboldt Universität in Berlin – dem Prototyp der modernen Universität – befanden sich nicht zufällig Jus und Deutsche Philologie. Die industrielle Revolution intensivierte die Bedeutung grundlegender naturwissenschaftlicher Forschung sowie die systematische Ausbildung von Leitungspersonal wie Ingenieure und Betriebswirte.
Dementsprechend war diese ganz auf die Bildung einer kleinen Elite für Staat und Wirtschaft ausgelegt – 1828 studierten gerade einmal 3.700 Studenten an der Uni Wien. Sie hatte einen klar bürgerlichen Klassencharakter. Das zeigte sich 1848, als die Studentenschaft eine wichtige Bastion im Kampf um die bürgerliche Demokratie war. In der Zwischenkriegszeit, als das Bürgertum keinerlei fortschrittliche Rolle mehr spielte, war die Studentenschaft eine Hochburg des Faschismus, der die Arbeiterbewegung im Blut ertränkte, um den Kapitalismus zu erhalten.
Das änderte sich erst grundlegend nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis in die 1970iger wuchs die Wirtschaft ununterbrochen, die Wirtschaftsleistung vervierfachte sich bis 1980. Der Boom erforderte umfassende Reformen, die in Österreich von der SPÖ-Alleinregierung (ab 1970) umgesetzt wurden. Technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt erforderten für immer mehr Berufe eine akademische Ausbildung, die man nicht mehr aus dem Kleinbürgertum allein rekrutieren konnte. Die Kreisky-Regierung schaffte 1973 die Studiengebühren ab und führte zahlreiche finanzielle Unterstützungsmaßnahmen ein. Erstmals strömten auch viele Kinder aus der Arbeiterklasse auf die Unis. Die Zahl der Studierenden verfünffachte sich von 1970 bis 2001 von 53.000 auf 228.000. Die Universitäten blieben ein Werkzeug der Kapitalisten, um Arbeitskräfte für die neuen kapitalistischen Bedürfnisse zu produzieren, aber die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft veränderte sich dabei.
Die Zahl an Studierenden vervielfachte sich, aber der Ausbau der Kapazitäten hielt damit nicht ansatzweise Schritt. Von 1970 bis 2000 stieg der Anteil der Hochschulausgaben am Bundesbudget gerade mal von 2,11% auf 2,47%. Die Höhe der Hochschulausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung stieg im selben Zeitraum von 0,57% auf 1,09%, 2022 lag er bei 1,17% (Österreichische Bildungspolitik seit den 1990er Jahren, Hans Pechar). Eine große Anzahl wurde ausgebildet, die meisten davon aber schlecht und dementsprechend weniger leicht für den Arbeitsmarkt verwertbar. Gleichzeitig begann Europa den Anschluss an die Spitzenforschung zu verlieren. Die Lösung aus Sicht der Kapitalisten sollte das Bologna System werden, dessen Blaupause das Dokument „Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“ von der EU-Industrielobby (ERT) war: Die Massen sollten einen schnellen Bachelor erhalten, der ausschließlich auf das Berufsleben vorbereitet.
„[W]eitreichend wissenschaftliche Qualifikationen“, d.h. Master und Doktor, sollten hingegen dem „akademischem Stab“ vorbehalten sein.
In Österreich wurde diese Richtlinie mit Schwerpunkt auf Fachhochschulen (FH) umgesetzt. Diese wurden 1993 eingeführt, um frei von den Altlasten der historisch gewachsenen Universitäten (damals noch gegebene interne Demokratie, Rechte für Studierende, breit gefächerte Studieninhalte) Fabriken für Fachkräfte für Unternehmen zu schaffen. Kapitalisten haben hier direkte Kontrolle über die Gestaltung des Curriculums. Im „Fachbeirat“ für den Bachelor Medienmanagement der FH St. Pölten sitzen beispielsweise Vertreter von Red Bull Media House und Kronehit.
Gleichzeitig erschwerte die Bürgerblockregierung 2001 den Zugang zum Studium, unter anderem durch Studiengebühren. Diese wurden 2008 unter dem Druck jahrelanger Studentenproteste wieder weitgehend ausgesetzt. Dennoch findet im Studium eine harte soziale Selektion statt. Wer nicht aus einem „besseren Haushalt“ kommt, hat selten die nötigen kulturellen Kompetenzen gelernt, um sich durch den Bürokratiedschungel zu schlagen, beim Professor begehrte Masterarbeitsprojekte zu ergattern, oder auf Konferenzen mitgenommen zu werden. Wer im Master und im Doktoratsstudium die beste Bildung will, kann sich auf lange unbezahlte Arbeit im Labor einstellen. Die Statistiken sind also nicht überraschend: Nur jedes zehnte Kind von Eltern mit einem Pflichtschulabschluss schafft einen Hochschulabschluss – zumeist Bachelor, gegenüber sechs von zehn Akademikerkindern.
Dieser Kurs wird heute verschärft. Die genannte WIFO-Studie schätzt, dass sieben Mrd. Euro pro Jahr nötig wären, um angemessene Studienbedingungen für alle herzustellen – nahezu eine Verdopplung der jetzigen Hochschulausgaben. Zu teuer, weshalb der Bericht auch als Ausweg Elite-Unis nahelegt. Diesem Geiste entsprechend sind im Regierungsprogramm der gescheiterten FPÖ-ÖVP Koalition brutale Einschränkungen des Hochschulzugangs vorgeschlagen: „Als Regelmodell wird eine transparente Auswahlentscheidung am Ende des ersten Semesters auf Basis von festgelegten Studienplatzkapazitäten angestrebt.“
Österreichs Wirtschaftsstandort ist mehr denn je in der Krise. Spitzenforschung und verwertbare Facharbeiter sind ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Wenn also Bald-Kanzler und ÖVP-Chef Stocker „wild entschlossen [ist], einen Reformkurs für Österreich auf Schiene zu bringen!“, darunter auch explizit das Bildungssystem versteht und den Kapitalismus-Fanatikern der Neos das Bildungsministerium geben will, ist das eine explizite Drohung an die Studenten und Arbeiterklasse, die nach höherer Bildung streben.
Doch während die Herausforderungen unserer Gesellschaft wie der Klimawandel und die Anforderungen unserer Produktion wie KI und Automatisierung eine immer besser ausgebildete Bevölkerung benötigt, haben die Kapitalisten kein Interesse daran, dies gesellschaftlich zu ermöglichen. Unternehmen wollen womöglich hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte ausbeuten, aber sicher nicht auf ihre Kosten ausbilden. Die Industriellenvereinigung schätzt, dass sie bis 2030 60.000 naturwissenschaftlich oder technisch Ausgebildete brauchen wird. Ihr Einkaufzettel ist klar hierarchisch, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel Bildung sollen die künftigen Facharbeiter haben: ein Drittel Lehrabschluss, ein Drittel akademisch, der Rest dazwischen.
Die Zwänge der Profitlogik blockieren nicht nur eine qualitätsvolle Ausbildung für alle Kinder der Arbeiterklasse, sondern verunmöglichen das Potential unserer Gesellschaft auch nur ansatzweise auszuschöpfen. Diese Probleme zu lösen bedeutet, die Universität unter die demokratische Kontrolle der Studenten, Forschenden und Lehrenden zu stellen. Dies ist nur möglich, wenn die gesamte Wirtschaft unter die demokratische Kontrolle der Arbeiterklasse gebracht wird. Nur so kann qualitätsvolle Bildung, Wissenschaft und Kultur von einem Privileg der Herrschenden, das es Jahrtausende lang war, endlich tatsächlich zum Besitz der gesamten Gesellschaft werden.
(Funke Nr. 231/26.02.2025)