Um 1990 herum führte die Bürokratie – die privilegierte Schicht aus Partei-, Militär- und Staatsfunktionären – in fast allen stalinistischen Ländern den Kapitalismus wieder ein. Warum war sie in Nordkorea bis jetzt nicht in der Lage dazu? Und warum ist sie es jetzt? Von Sandro Tsipouras.
Das Kapital kommt nach Korea
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 war die nordkoreanische Planwirtschaft nicht mehr lebensfähig. Von 1994 bis 1998 wütete daher eine verheerende Hungersnot mit hunderttausenden Opfern. Die Verteilung von Konsumgütern und Lebensmitteln wurde von Kleinhändlern übernommen, die Waren aus China hereinschmuggelten. So fasste das Kapital erstmals Fuß in Nordkorea.
Nach der Hungersnot wuchs der Schwarzmarkt weiter. Es entstand eine embryonale nordkoreanische Bourgeoisie, die „Donju“ („Herren des Geldes“). Sie betätigten sich als Unternehmer in Immobilien, Gastronomie, Einzelhandel. Chinesische Investoren bauten Fabriken im Land, staatliche Unternehmen wurden von Bürokraten wie Privatunternehmen geführt, das Militär wurde zum Selbstbedienungsladen für Offiziere. Um eine durchschnittliche nordkoreanische Familie zu ernähren, musste bis zur Pandemie mindestens eine Person (meistens die Frau) einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen.
Das Zögern der Bürokratie
Wie Leo Trotzki schon 1936 in seinem Meisterwerk „Verratene Revolution“ feststellte, streben reiche Bürokraten organisch die Wiederherstellung des Kapitalismus an, weil sie eine Gesellschaftsform brauchen, in der ihr Reichtum, seine Vermehrung und seine Vererbung legal und unkompliziert sind. Aber in Nordkorea steckten sie in einer Zwickmühle, die ihnen nicht gestattete, die Privatwirtschaft zu legalisieren. Der Markt musste illegal bleiben.
Die südkoreanischen Monopole lecken sich die derweil Finger nach den nordkoreanischen Arbeitskräften, die die gleiche Sprache sprechen und an Hungerlöhne gewöhnt sind. Die stalinistische Kaste Nordkoreas kann aber nicht mit Samsung und Hyundai koexistieren. Die Annexion der DDR, die Ausplünderung ihrer Wirtschaft durch die BRD-Bourgeoisie und das erbärmliche Schicksal ihrer Bürokratie (lediglich 5% des DDR-Eigentums ging an Ostdeutsche) dienten den Nordkoreanern als mahnendes Beispiel. Der Druck des Kapitalismus aus Südkorea würde die bestehende gesellschaftliche Elite in Nordkorea hinwegfegen.
Zudem waren die USA, die imperialistische Schutzmacht Südkoreas, nie bereit, einen souveränen, nichtkapitalistischen Staat zwischen ihrer Armee in Südkorea und der chinesischen Grenze zu tolerieren. Schon im Koreakrieg (1950-53) begannen die USA, Nordkorea mit immer härteren Sanktionen zu belegen. Der Außenhandel ist seitdem für das Land fast völlig illegalisiert. Das ist das zweite Hindernis für die Restauration des Kapitalismus in Nordkorea.
Einerseits musste die Bürokratie eine Lockerung der US-Sanktionen erreichen, andererseits durfte diese Lockerung nicht dazu führen, dass südkoreanisches Kapital unkontrolliert ins Land eindrang. Bis jetzt war dieses Dilemma unlösbar. Das bezeugen Jahrzehnte gescheiterter Verhandlungen zwischen den koreanischen Staaten, den USA und China.
Die Neuaufteilung der Welt
Im Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein. Wenige Tage später schloss sich die Bürokratie der Offensive des russischen Imperialismus an und begann sich als treuester Verbündeter Russlands zu profilieren.
Das im Juni 2024 geschlossene Militärbündnis zwischen Russland und Nordkorea macht die innerkoreanische Grenze zu einer weiteren Front zwischen den Imperialisten. Ab jetzt wird an dieser Grenze der gleiche Blockkonflikt ausgetragen wie in der Ukraine – ein strategischer Erfolg für Russland.
Mit China konnte Nordkorea nie stabile Handelsbeziehungen entwickeln, weil China vom Weltmarkt abhängig ist und so nie offen gegen die Sanktionen der USA verstoßen wollte. Doch der russische Imperialismus hat weniger zu verlieren. Die Zuspitzung von Konflikten mit den USA und die Untergrabung von Sanktionen sind sein explizites Programm. Indem sich Nordkorea dem russischen Imperialismus anschließt, kann es sich ökonomisch öffnen, ohne sich dem südkoreanischen Kapital auszusetzen. Die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern entwickeln sich seit Juni rasant und umfassen ständig neue Wirtschaftszweige: Waffen, verschiedenste Konsumartikel und zuletzt tausende nordkoreanische Söldner für den Ukrainekrieg. Durch das Bündnis mit Russland hat die Bürokratie freie Hand, den Kapitalismus wieder einzuführen.
Neues Jahr, neue Nation
Dieser Perspektive opfert sie ihr ganzes ideologisches Erbe. Mit Neujahr 2024 wurde das Staatsziel der Wiedervereinigung Koreas aufgegeben. Die imperialistische Blockkonfrontation überlagert jetzt die nationale Frage. Jahrzehntelang hieß es in Nordkorea, „unser Volk allein“, also unabhängig von jeder imperialistischen Einmischung, müsse die Vereinigung Koreas durchführen. Jetzt flüchtet man sich in die Arme einer aufsteigenden imperialistischen Macht und leugnet die Existenz dieses Volkes. Südkoreaner gelten jetzt als feindliche Ausländer und ihr Staat als „ewiger Hauptfeind“ Nordkoreas, wie man per Verfassungsänderung festgehalten hat. Damit widerlegt die Bürokratie auf ihre Weise die Utopie vom „Sozialismus in einem Land“.
Wir sind gegen die Wiedereinführung des Kapitalismus in Nordkorea, weil diese Perspektive zwangsläufig zu einer massiven Verschärfung der ohnehin schon entsetzlichen Lebensbedingungen in Nordkorea und zu einer deutlich erhöhten Kriegsgefahr führt. Wir sind für die Vereinigung Koreas durch die proletarische Revolution, die die imperialistischen Mächte von der Halbinsel vertreibt, die Konzerne enteignet, die Bürokraten und Militärs stürzt und eine demokratische Planwirtschaft errichtet.
(Funke Nr. 228/09.11.2024)