Wie aus einem kleinen Protest gegen den Bau eines Einkaufszentrums im Istanbuler Gezi Park eine Massenbewegung gegen die Regierung der konservativen AKP unter Premier Erdogan werden konnte, analysiert Jorge Martin.
Am 28. Mai beschlossen ein paar Dutzend Menschen die Arbeiten an dem Einkaufszentrum, das dort, wo sich im Moment der Gezi Park befindet, gebaut werden soll, zu verhindern. Polizei und paramilitärische Schlägertrupps gingen mit brutaler Gewalt gegen diese kleine Protestaktion vor. Die AktivistInnen wurden umzingelt und mit Tränengas attackiert. Ihr Protestcamp wurde zerstört und ihre Zelte niedergebrannt.
Die türkische Polizei ist für ihre Brutalität bekannt (es gab zum Beispiel heftige Auseinandersetzungen, als sie die 1. Mai- Demonstration daran hinderte, auf den Taksim-Platz zu marschieren). Diesmal ging die Rechnung der Polizei aber nicht auf. Möglicherweise lag es daran, dass die AktivistInnen Nacht für Nacht wieder kamen, obwohl sie jedesmal wieder gewaltsam vertrieben wurden. Vielleicht sah die Öffentlichkeit sie als normale BürgerInnen und nicht als die üblichen Opfer dieser Polizeibrutalität, nämlich abgehärtete „Radikale“ und GewerkschafterInnen. Was auch immer der Grund war, die Proteste und das harte Vorgehen der Polizei lösten jedenfalls eine Welle der Solidarität aus, die rasch zu einer Massenbewegung gegen die Regierung wurde und sich über das ganze Land ausbreitete.
Die erste Reaktion des Premierministers Erdogan war gewohnt arrogant; er verhöhnte die DemonstrantInnen und forderte sie regelrecht heraus: „Wenn ihr 20 Menschen mobilisiert, können wir 100.000 mobil machen und wenn ihr 100.000 Menschen mobilisiert, werden wir dem eine Million entgegensetzen.“ Außerdem fügte er noch hinzu, dass das Projekt beschlossene Sache sei und dass es sicherlich keine Änderungen geben würde.
Die Antwort der Bewegung war eine gigantische Demonstration am 31. Mai. Hunderttausende übernahmen die Straßen Istanbuls. In der Istikal Straße kämpften Zehntausende gegen die Polizei, die eine riesige Menge an Tränengas und Wasserwerfer einsetzte, um die Massen davon abzuhalten auf den Taksim-Platz zu gehen. In der ganzen Stadt wurden Barrikaden errichtet und die Auseinandersetzungen dauerten bis in die Morgenstunden des 1. Juni an. Das war nicht länger eine kleine Bewegung von ein paar AktivistInnen, sondern ein Massenprotest, in den verschiedenste Teile der Bevölkerung involviert waren: „Wir sind keine Aktivisten, wir sind das Volk“, riefen manche. Das Scheppern von Töpfen und Pfannen war überall in der Hauptstadt zu vernehmen, während mancherorts der Protest in Form des An- und Ausschaltens von Lichtern in regelmäßigen Intervallen vorkam. Die gesamte Stadt war auf den Beinen und unterstützte die Proteste. Das Entsetzen über die Brutalität der Repressionen durch die Polizei mobilisierte die Menschen. „Um zirka halb 1 hat die ganze Stadt begonnen zu hallen. Die Menschen klopften auf Töpfe und Pfannen und bliesen in Trillerpfeifen“, teilte ein Augenzeuge BBC News mit.
Ein anderer Augenzeuge beschrieb die Zusammensetzung der Massen wie folgt: „Es waren Mitglieder der Kommunistischen Partei mit ihren roten Fahnen zu sehen, aber auch „Antikapitalistische Muslime“, revolutionary-sozialistische Organisationen, Gewerkschafter, kurdische Parteien, sogar die CHP (Sozialdemokratische Nationalisten) und ältere Männer und Frauen, arbeitslose Jugendliche, Fachleute (Lehrer, Architekten), Leute aus der Unter- und Mittelschicht und sogar ein paar aus der Oberschicht waren da.“
Fußballfans aus rivalisierenden Teams trafen die Übereinkunft ihre Kräfte gegen die Polizeibrutalität zu bündeln und setzten, wie auch schon in Tunesien und Ägypten, ihre Erfahrung im Straßenkampf gegen die Polizei gezielt ein. Die Teilname von Kurden und Aleviten ist ebenfalls signifikant und sollte nicht als Selbstverständlichkeit abgetan werden. Der Anblick von kurdischen Flaggen neben türkischen mit dem Gesicht Atatürks darauf, neben den roten Flaggen der sozialistischen und kommunistischen Organisationen veranschaulicht das breite Spektrum dieser Bewegung.
Ein Reuters-Bericht beschreibt die folgende Szene am Samstag: „Nachdem sich die Polizei vom Taksim-Platz zurückgezogen hatte, tanzten einige Befürworter von Türkeis pro-kurdischer Partei BDP einen kurdischen Tanz, während nur wenige Meter entfernt die türkischen Fahnen der Nationalisten wehten. Sie sangen ‘Schulter an Schulter gegen Faschismus’.”
In der Tat haben wir lange Zeit argumentiert, dass die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung als ArbeiterInnen in den Städten (Istanbul, Ankara) lebt, und dass ihre Zukunft durch das, was dort geschieht, bestimmt werden wird. Ihre nationalen und demokratischen Forderungen können nur als Teil eines vereinten Kampfes mit ihren türkischen Klassenbrüdern und -schwestern gegen den Kapitalismus gelöst werden. Nur vor ein paar Monaten hätten viele argumentiert, dass dies nicht möglich sei, weil die türkischen ArbeiterInnen und sogar ein beträchtlicher Teil der linken türkischen Organisationen von nationalem Chauvinismus infiziert seien. Das war und ist noch immer bis zu einem gewissen Grad wahr. Aber ein paar Tage des kollektiven Kampfes gegen die Polizei und gegen die Regierung Erdogan scheinen einen großen Schritt im Bemühen um die Vereinigung der türkischen und kurdischen ArbeiterInnen und Jugendlichen hin zu einem gemeinsamen Kampf gebracht zu haben. Hier wird nun spürbar, was in einer Massenbewegung möglich wird.
Längst haben sich die Demonstrationen auf die Hauptstadt Ankara und viele andere Städte wie Izmir, Izmit etc. ausgebreitet. Die Forderungen und Slogans der Protestierenden haben sich von der Erhaltung des Gezi Parks zu einer generellen Opposition zur Regierung und der Forderung nach dem Rücktritt Erdogans ausgeweitet.
Am Samstag, dem 1. Juni, marschierte eine riesige Demonstration von Zehntausenden von Menschen, die sich in Kadikoy, dem asiatischen Teil der Stadt, versammelt hatten, mit dem offensichtlichen Ziel ihn zu übernehmen und zum Gegenschlag gegen Polizeibrutalität aufzuholen, in Richtung Taksim-Platz. Sie gingen die 20 km von Kadikoy nach Taksim und nichts konnte sie aufhalten. Der Präsident des Landes rief dazu auf, die Polizei zurückzubeordern und ein Gericht beschloss, dass das Projekt im Gezi Park gestoppt werden soll (der Bürgermeister erhielt nur eine Genehmigung für den Bau einer Tiefgarage!). Um 4 Uhr wurde der Befehl an die Polizei ausgegeben, sich zurückzuziehen. Hätten sie das nicht getan, wären sie wahrscheinlich von den wütenden und sich ihrer Stärke mittlerweile bewussten Massen überrannt worden. Die Massen betraten unter großem Jubel den Taksim-Platz. Ein erster Teilerfolg war erzielt worden. Es wurde bewiesen, dass die Polizei trotz all ihrer Brutalität nicht unbesiegbar ist.
Die Bewegung hatte sich nun wirklich über das ganze Land ausgebreitet. Nach offiziellen Angaben des Innenministeriums gab es allen am 31. Mai und am 1. Juni mehr als 90 Demonstrationen in 48 Provinzen des Landes, mit mehr als 1000 Verhaftungen. Am 2.Juni waren es über 200 Demonstrationen in 97 Städten.
Hintergründe
Wie ist es möglich, dass eine auf den ersten Blick kleine Angelegenheit (“ein paar Bäume”, wie Erdogan sagen würde) solch eine Massenbewegung auszulösen vermag? Wie kann so etwas passieren, obwohl die türkische Ökonomie über Jahre hohe Wachstumsraten verzeichnet hat und sich das BIP/Kopf in den zehn Jahren unter der AKP-Regierung mehr als verdreifacht hat?
Was in der Türkei derzeit passiert, sei mit dem “Arabischen Frühling” nicht vergleichbar. Die Türkei habe ein demokratisches System und bei weitem nicht so gravierende wirtschaftliche und soziale Probleme wie Tunesien und Ägypten. Doch unter der Oberfläche hat sich in der Türkei sehr viel brennbares Material angehäuft, das nun entzündet wurde. Zu allererst ist der Bau eines Shoping-Centers im Gezi Park ist nicht nur eine Frage von “ein paar Bäumen”. Der Taksim-Platz ist für die türkische Linke und die Gewerkschaftsbewegung von historischer Bedeutung. Am 1. Mai 1977 demonstrierten auf diesem Platz eine halbe Million Menschen, als sie von paramilitärischen Banden (wahrscheinlich in enger Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat und dem CIA) angegriffen wurden. Damals wurden 42 DemonstrantInnen getötet, Hunderte verletzt. Die Forderung nach einer gerichtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für dieses Massaker hat für die türkische Linke große Symbolkraft.
Doch es steckt mehr dahinter. Der offizielle Plan der Stadtverwaltung von Istanbul sieht eine Rekonstruktion der Militärkaserne des ottomanischen Reiches am Taksim-Platz vor, wo das Shopping-Center untergebracht werden soll. Die AKP versucht mit solchen Projekten die einstige Größe der Türkei zu beanspruchen. Letzte Woche kündigte man an, eine dritte Großbrücke über den Bosporus bauen zu wollen, die nach Sultan Selim I. benannt werden soll. Das ist eine offene Provokation für die Minderheit der Aleviten, die im 16. Jahrhundert unter Selim brutalst verfolgt wurden. Indem sich die AKP-Regierung auf das Erbe des Ottomanischen Reich beruft, provoziert sie aber auch all jene in der Türkei, die sich in der säkularen Tradition des bürgerlich-nationalistischen Bewegung von Atatürk und der von ihm gegründeten Republik verstehen.
Der jetzige Konflikt geht aber weit über die Frage “religiös versus säkulae” hinaus. Das geplante Einkaufszentrum am Taksim-Platz steht symbolisch für jenen Typus eines spekulativen Stadtentwicklungsmodells, das einen zentralen Eckpfeiler des türkischen Wirtschaftserfolgs der letzten Jahre ausmacht. Dieser von der Bauwirtschaft getragene Spekulationsboom scheint nun aber zu Ende zu gehen. Der Widerstand gegen die Gentrifizierung ganzer Stadtteile, die Korruption im Zuge solcher Bauvorhaben und die Verdrängung sozial Schwacher an den Stadtrand spielte im Kampf gegen Bulldozer im Gezi Park eine wichtige Rolle.
Ein wichtiges Element in dieser Protestbewegung sind die demokratischen Forderungen. Über zehn Jahre hat die AKP mit eiserner Ferse regiert. Unabhängige Journalisten wurden verhaftet, die Medien zensuriert, Tausende aus politischen Gründen inhaftiert, Gewerkschaftskämpfe mit Repression beantwortet. Damit einher ging ein ständiger Angriff auf den säkularen Charakter der türkischen Republik. Die jüngste Maßnahme war ein Gesetzesentwurf, der das Verbot öffentlichen Alkoholverkaufs vorsieht.
Solange die Wirtschaft funktionierte, wurde vieles davon still geduldet. Das Wirtschaftswachstum legte die Basis für die Wahlerfolge der AKP, die 2011 fast 50% der Stimmen erhielt (2002: 34%). Die Türkei wurde zwar auch von der Krise der Weltwirtschaft 2008 erfasst, doch konnte sich recht schnell schon wieder erholen. 2010 und 2012 verzeichnete sie wieder Wachstumsraten von 9% bzw. 8,5%. Ein wesentliches Element dieses Wachstums war der massive Anstieg der Direktinvestitionen aus dem Ausland. Die Privatisierungspolitik der AKP-Regierung hat Auslandskapital in großem Stil angezogen. Die Auslandsverschuldung gemessen am BIP nahm stark zu. Diese Entwicklung ist auf die Dauer nicht zu halten.
Lange Zeit profitierte die Türkei von Handelsabkommen mit der EU. Aufgrund der Krise des europäischen Kapitalismus war die Türkei jedoch gezwungen eine aggressivere Politik Richtung Nordafrika und den Nahen Osten zu entwickeln. Die Türkei nimmt dabei in der Region die Rolle einer imperialistischen Macht ein, die durch ihre Beziehungen zu den neuen islamistischen Regierungen in Tunesien und Ägypten Märkte und Einflusssphären abzusichern wusste. Enge Verbindungen knüpfte die AKP-Regierung außerdem zur kurdischen Regionalregierung im Nordirak. Auch in Syrien spielt die Türkei ihr eigenes Spiel und unterstützt aktiv die Rebellen der Free Syrian Army gegen das Regime von Assad.
All die Faktoren, die den “Ottomanischen Tiger” ausmachten, verkehren sich jetzt aber in ihr Gegenteil. Dem Tiger geht schön langsam die Luft aus. Aus ökonomischer Sicht ist das “Wunder” zu Ende. Das Wirtschaftswachtum ist 2012 auf 2,2% zurückgegangen. Die private Inlandsnachfrage ging um 0,8% zurück. Die Schlagzeilen über dieses Wirtschaftswachstum haben aber geflissentlich die wachsende soziale Ungleichheit in der türkischen Gesellschaft ausgespart. Das Steuersystem verschärft die Ungleichverteilung weiter. 2/3 der Steuerentnahmen entfallen auf indirekte Steuern, die ArbeiterInnen und Arme besonders treffen. Die Mehrwertsteuer auf Luxusgüter liegt deutlich niedriger als bei Gütern des täglichen Bedarfs. Die Arbeitslosenrate blieb konstant bei 9 %, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 20%. Offiziell leben 16% unter der Armutsgrenze.
Jetzt, wo die Wirtschaft wieder schwächer läuft, treten alle Widersprüche offen zu Tage. Es ist diese Mischung aus demokratischen Fragen und sozialen Spannungen, die jetzt explodierte und zu einer massiven Protestbewegung gegen die Regierung Erdogan führte, die alle überrascht hat.
Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Bewegung herausgebildet hat, zeigt einmal mehr in welch turbulenter Periode wir derzeit leben. Der Sturz von Mubarak und Ben Ali 2011 oder die Proteste gegen die Sparpolitik in Südeuropa hatten zweifelsohne einen Eindruck auf das Bewusstsein von Millionen Menschen in der Türkei gemacht. Die Bedingungen sind jetzt so weit gereift, dass auch in der Türkei die Idee, dass Massenaktionen einen Weg vorwärts weisen können, zu einer materiellen Kraft geworden ist.
Auswirkungen in der Region
Revolutionäre Entwicklungen in der Türkei würden in der gesamten Region einen gewaltigen Einfluss haben. Eine erfolgreiche Massenbewegung gegen die konservativ-islamistische, kapitalistische Regierung würde auch die revolutionäre Bewegung gegen die Ennahda-Regierung in Tunesien und die Muslimbruderschaft in Ägypten stärken. Es gab bereits erste Demonstrationen im türkischen Teil Zyperns. Auf der geteilten Mittelmeerinsel könnten somit auf beiden Seiten revolutionäre Entwicklungen auf der Tagesordnung stehen. In Griechenland fanden ebenfalls Solidaritätsdemos statt, und eine revolutionäre Bewegung in der Türkei wäre der beste Weg, um den antitürkischen Chauvinismus zurückzudrängen.
Für Washington ist die Türkei ein ganz wichtiger Bündnispartner in dieser strategisch so bedeutsamen Region. Für eine imperialistische Intervention in den Bürgerkrieg in Syrien, der die ganze Region zu destabilisieren droht, brauchen die USA die Türkei. Nur revolutionäre Ereignisse in den Ländern mit einer starken Arbeiterklasse können verhindern, dass die Region in einem Inferno blutiger Kriege und Bürgerkriege mit imperialistischen Mächsten auf beiden Seiten untergeht. Das Letzte, was die USA wollen, wäre ein revolutionärer Umsturz. Washington braucht Erdogan. Deshalb beschweren sich die USA auch nur sehr lauwarm wegen des “exzessiven Einsatzes von Gewalt”. Sie hätten natürlich kein Problem damit, wenn sie sich sicher sein könnten, dass die Gewalt ihren Zweck erfüllen und die Bewegung zerschlagen könnte. Doch es besteht aus ihrer Sicht die Gefahr, dass die Polizeigewalt einen gegenteiligen Effekt haben könnte.
Erdogan steht für eine Mischung aus Arroganz und brutaler Repression (man denke nur an den Einsatz von Hubschraubern, die über Wohngebieten Tränengas einsetzen). Dabei setzt er gezielt die religiöse Karte ein (so kündigte er jetzt an, im Gezi Park eigentlich eine Moschee bauen zu wollen). Er will als starker Mann erscheinen, der entschlossen seine Politik durchsetzt. Doch selbst in seiner eigenen Partei regen sich erste kritische Stimmen.
Wie wir in Tunesien und Ägypten gesehen haben, wird es für ein Regime eng, wenn e seine Protestbewegung nicht mehr mit Gewalt zerschlagen kann, aber Zugeständnisse die Bewegung erst recht anstacheln würden. Vor diesem Dilemma stehen jetzt auch Erdogan und jene Teile der herrschenden Klasse, die er gegenwärtig vertritt.
Erdogan kann sich gewiss noch auf die rückständigeren und konservativeren Schichten in der türkischen Gesellschaft stützen. Doch diese sind mit größer Wahrscheinlich passiv und träge, lassen sich aber nicht gegen die Massenbewegung mobilisieren. Es gab Berichte von AKP-Anhängern, die der Polizei halfen gegen die DemonstrantInnen vorzugehen, doch das sind nur kleine Banden, keine Massenbewegung. Schon jetzt setzt die Regierung auf “Zugeständnisse”, um die Bewegung zu spalten. Staatspräsident Gül hat sich von Erdogan distanziert und zeigte Verständnis für die DemonstrantInnen. Während Erdogan auf Prügel setzt, hat Gül die symbolische Karotte herausgezogen, doch beide wollen dasselbe: Die Massen sollen wieder heimgehen und die Straßen räumen. Was in den nächsten Tagen pasiert, wird von entscheidender Bedeutung sein. Wenn die Bewegung entschlossen und vorwärts geht, dann kann sie die Regierung stürzen.
Wie kann es weiter gehen?
Der Charakter der Bewegung war, wie könnte es anders sein, bis jetzt größtenteils spontan. Sie entwickelte sich extrem schnell von einem kleinen Protest mit 50 TeilnehmerInnen zu einer Massenbewegung, die mittlerweile wahrscheinlich Millionen in der einen oder anderen Weise umfasst. Sie hat es auch geschafft, verschiedene Sektoren der Gesellschaft und verschiedene Nationalitäten und Minderheiten zu vereinen. Das ist die große Stärke dieser Bewegung.
Aber die Bewegung kann nicht auf dieser Stufe stehen bleiben, wenn sie weiter gehen soll. Schon am Sonntag gab es intensive Diskussionen über die Notwendigkeit eines Generalstreiks. Das ist der wirkliche Weg vorwärts für die Bewegung. In großen Teilen des Landes haben schon Massendemonstrationen stattgefunden. Die Menschen haben Angriffe der Polizei zurückgeschlagen. Der Staatsapparat hat es bis jetzt nicht geschafft, die Bewegung zu zerschlagen. Aber die Regierung ist noch immer an der Macht und der Staatsapparat ist weiter intakt.
Das Kräfteverhältnis könnte sich entscheidend verändern, wenn die Arbeiterklasse als organisierte Kraft in die Bewegung eintritt. Jetzt ist ein Generalstreik nötig! Die Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, KESK, hat ihren bereits geplanten nationalen Streiktag vom 5. Juni auch auf den 4. Juni ausgedehnt. Die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes DISK war auf dem Taksim-Platz präsent, und ihre Generalsekretärin hat eine Rede vor den DemonstrantInnen gehalten. DISK hat heute auch zu Arbeitsniederlegungen zwischen 12 und 14 Uhr aufgerufen, um dabei die Situation zu diskutieren und plant außerdem ein Treffen der nationalen Führung, um die Frage eines Generalstreiks zu diskutieren.
Gestern trafen sich DISK und KESK, um gemeinsam zu diskutieren, ob sie zeitgleich mit dem Streik im öffentlichen Dienst am 5. Juni auch zu einem Generalstreik aufrufen sollten. Einigen Berichten zu Folge hat die Istanbuler Bildungsgewerkschaft Nr. 6 schon zu einem Streik aufgerufen. Sie organisiert die Bedienstete der Universitäten und Fachhochschulen. Es wurde auch gemeldet, dass die Krankenhäuser in Ankara bestreikt werden.
In der Türkei gibt es eine starke Arbeiterklasse, die in den letzten 20 bis 30 Jahren durch einen enormen Zustrom von Zuwanderern vom Land erneuert und gestärkt worden ist. Ihre revolutionären Traditionen sind unübertroffen. In der Türkei gibt es viele rückständige Gebiete, aber auch eine sehr moderne Industriearbeiterschaft.
Der Aufruf zu einem Generalstreik sollte damit kombiniert werden, dass die ArbeiterInnen in ihren Fabriken, ihren Betrieben und Stadtvierteln Aktionskomitees wählen, die der Bewegung einen organisierten und demokratischen Charakter geben würden. Diese Komitees könnten auf lokaler, auf regionaler und auf nationaler Ebene durch wähl- und abwählbare Repräsentanten vernetzt werden.
Wenn es eine revolutionäre Führung mit starker Verankerung in der Arbeiterklasse gäbe, wäre die Türkei jetzt am Vorabend einer Revolution, die zum Sturz des Kapitalismus führen könnte.
Diskussion: Arabischer Frühling jetzt auch in Istanbul?
Mi., 12. Juni, 19 Uhr
Lustkandlgasse 10/1, 1090 Wien
Einschätzung und Bericht über die jüngsten Ereignisse in der Türkei
Es wird ein kurdischer Aktivist und Politologe referieren. Außerdem kommt eine linke Aktivistin mit türkischen Wurzeln, die bei der Organisierung der Solidemos in Wien aktiv ist.