Anlässlich des heutigen Streiks in Amazon-Niederlassungen in Deutschland veröffentlichen wir folgende Reportage unserer deutschen Schwesterzeitung über die Arbeitsbedingungen bei Amazon und den Kampf zur Durchsetzung eines Tarfivertrags.
Beim Versandhändler Amazon stehen die Zeichen auf Streik. In der Leipziger Niederlassung haben bei einer Urabstimmung kurz vor Ostern nach Angaben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di 97 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten für einen Arbeitskampf zur Durchsetzung ihrer Tarifforderungen gestimmt.
Bislang gibt es für die bundesdeutschen Amazon-Betriebe keinen Tarifvertrag. Mit dem angedrohten Streik soll das Management zur Aufnahme von Tarifverhandlungen und zum Abschluss eines Tarifvertrages gezwungen werden. ver.di fordert für alle Amazon-Betriebe Tarifverträge, die den deutlich höheren Standards für den Einzel- und Versandhandel entsprechen. Amazon jedoch orientiert sich bei Löhnen und Gehältern bisher an den deutlich schlechteren Standards für die Logistikbranche.
In der 2006 eröffneten Leipziger Amazon-Niederlassung arbeiten rund 1200 Festangestellte sowie etwa 800 befristet Beschäftigte. Ihr Einstiegslohn liegt bei 9,30 Euro pro Stunde, nach zwei Jahren bei 10,57 Euro. Weihnachts- und Urlaubsgeld wird derzeit nicht gezahlt. Nacharbeitszuschläge werden erst ab Mitternacht gewährt. ver.di fordert ein tarifliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Nachtzuschläge ab 20 Uhr, eine verbindliche Lohnuntergrenze von 10,66 Euro pro Stunde für alle ab dem ersten Beschäftigungstag und mindestens 11,39 Euro nach einem Jahr.
Tariffragen sind Machtfragen
Da die bundesdeutschen Amazon-Standorte jeweils juristisch selbstständige Einheiten sind, die formal nichts miteinander zu tun haben, und das Management derzeit Haustarife und Flächentarifverträge ablehnt, muss der Druck nun in jedem Betrieb von unten aufgebaut werden. Nach Leipzig scheint sich nun auch im osthessischen Bad Hersfeld die örtliche Amazon-Belegschaft zu bewegen. ver.di hat sie für den kommenden Dienstag, 9. April 2013, zu einer Versammlung in der Mittagszeit unter freiem Himmel aufgerufen und will dabei über den neuesten Stand in der Tarifauseinandersetzung informieren. “Wir werden zeigen, dass wir nicht nur die Backen aufblasen, sondern auch pfeifen können”, sagt die zuständige nordhessische ver.di-Sekretärin Mechthild Middeke auf Anfrage. “Die Beschäftigten haben es verdient, dass die Tarifverträge für den Einzel- und Versandhandel auch für sie gelten”, betont Bernhard Schiederig von ver.di Hessen. Als größter Online-Versandhändler der Republik habe Amazon Vorbildfunktion, so der Gewerkschafter. “Tariffragen sind Machtfragen”, heißt es in eínem ver.di-Flugblatt: “Solange die Arbeitgeberseite nicht den Druck aus der Belegschaft spürt, versucht sie sich argumentativ herauszuwinden und immer neue Gründe zu finden, warum alles so bleiben soll, wie es ist, oder dass allenfalls kosmetische Korrekturen vorgenommen werden sollen.“
Menschenwürde zählt nicht
Dass sich gerade auch in der Amazon-Belegschaft in Bad Hersfeld viel Unmut angestaut hat, zeigen Aussagen einer Arbeiterin. Sie möchte auf Wunsch anonym bleiben und spricht von Schikanen, Lohndrückerei und psychischem Druck im Betriebsalltag. „Junge Manager sind nicht zuletzt aufgrund fehlender Berufspraxis und mangelnder Qualität in Sachen Mitarbeiterführung unfähig, die Nöte der Mitarbeiter zu verstehen und ihnen auch Ernst und Respekt entgegen zu bringen”, beklagt sie: “Die Manager entscheiden nach Gutsherrenart, wer rausfliegt, wer seine individuelle Arbeitszeit auf eigenen Wunsch verkürzen kann oder wer wann Urlaub bekommt. Wir sind für die nur so viel Wert wie ein Stück Dreck. Respekt und Menschenwürde zählen hier nicht.“
Skandal Leiharbeit
Die Bad Hersfelder Amazon-Niederlassung war im Februar nach der Ausstrahlung eines ARD-Dokumentarfilms über kritikwürde Arbeits- und Wohnbedingungen für spanische Leih- und Wanderarbeiter in das öffentliche Rampenlicht geraten. Dieser Filmbericht hat zumindest für kurze Zeit Empörung und eine kritische Diskussion über den Missbrauch von Leiharbeit ausgelöst, Wellen geschlagen und in einer Aktuellen Stunde auch den Deutschen Bundestag beschäftigt. „Der Fall Amazon wirft ein Licht auf die schäbige Ausbeutung, die in Deutschland durch Leiharbeit mittlerweile möglich geworden ist“, brachte es die Abgeordnete Jutta Krellmann (DIE LINKE) in der Debatte auf den Punkt. „Solche Firmen nutzen nur die gesetzlichen Möglichkeiten, die ihnen die Politik gegeben hat“, erklärte sie und erinnerte daran, dass Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen und einer Deregulierung am Arbeitsmarkt 2003 im Rahmen der „Agenda 2010“ prekären Beschäftigungsformen wie Zeit- oder Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Werkverträgen und Scheinselbstständigkeit Tür und Tor geöffnet hat,
Leiharbeit als Dauerzustand – dank Rot-Grün
In früheren Jahrzehnten sollte Leiharbeit lediglich Auftragsspitzen abdecken und Ausfälle durch Krankheit, Schwangerschaft oder Urlaub ausgleichen. Doch die „Höchstüberlassungsdauer“ wurde über die Jahre stetig ausgeweitet und 2004 von Rot-Grün unter dem damaligen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement komplett abgeschafft. Nun können Leiharbeiter auf Dauer im selben Betrieb eingesetzt werden. Das weckt Begehrlichkeiten. So ersetzte schon vor Jahren die inzwischen aufgelöste Drogeriekette Schlecker Stammpersonal durch Leiharbeitskräfte einer konzerneigenen Firma.
Wolfgang Clement, der nach dem Ausscheiden aus dem Ministeramt 2005 einen hochdotierten Managerposten beim Leiharbeitskonzern Adecco übernahm, rechtfertigte die Deregulierung mit einem angeblichen „Klebeeffekt“. Demnach könnten viele Leiharbeiter nahtlos vom Einsatzbetrieb übernommen werden, so die Theorie. „Der Klebeeffekt ist äußerst gering“, stellt Mechthild Middeke klar. Eine Untersuchung des RWI-Instituts gibt ihr Recht und geht davon aus, dass in der Praxis im Schnitt nur sieben Prozent aller Leiharbeiter im Einsatzbetrieb fest übernommen werden.
Die Firma Trenkwalder Personaldienste, die für Amazon frische Arbeitskräfte rekrutiert, ist mit dem Leiharbeitsboom der letzten zehn Jahre gewachsen und gehört zu den Großen der Branche. Sie stützte sich lange auf die niedrigsten Dumpingtarife „christlicher Gewerkschaften“ und pflegt beste Beziehungen zu Arbeitsagenturen und Wirtschaftseliten. Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), saß von 2007 bis 2009 in ihrem Aufsichtsrat. Weil der örtliche Amazon Betriebsrat in Bad Hersfeld jetzt einen weiteren Einsatz von Leiharbeitern über Trenkwalder ablehnt, hat die Geschäftsleitung das Arbeitsgericht Fulda angerufen. Ein erster Gütetermin endete vor wenigen Tagen ergebnislos, der Konflikt schwelt weiter.
„Mein Wunsch wäre es, dass die kommerzielle Leiharbeit abgeschafft wird und die staatlichen Arbeitsagenturen quasi als einzige ‚Leiharbeitsfirma‘ fungieren, die mit den Arbeitern keinen Gewinn machen darf, so dass sich niemand den Hals voll stopft“, erklärte ver.di-Mitglied Jens Brumma bei einem Podiumsgespräch über Leiharbeit, Dumpinglöhne und prekäre Jobs, zu dem die LINKE und die Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig (DIE LINKE) Betroffene und Gewerkschafter nach Bad Hersfeld eingeladen hatte.
Weil Amazon viele Arbeitskräfte rasch auspresst und bald wieder auf die Straße setzt, sucht der Konzern ständig nach neuem Personal. 2011 vermittelte die Arbeitsverwaltung in Bad Hersfeld dem Betrieb mehrere tausend Erwerbslose für „berufliche Wiedereingliederungs- und Trainingsmaßnahmen“ zwei Wochen lang gratis „zur Probe“. Wer Glück hatte, blieb ein paar Wochen oder wenige Monate bis zum Ende des Weihnachtsgeschäfts im Betrieb. Die Sehnsucht nach einem unbefristeten Job im ersten Arbeitsmarkt blieb für die allermeisten ein Traum.
Dies beschreibt auch der Bericht eines Arbeiters aus Bad Hersfeld:
„So wurden Menschen ohne Job zum Probearbeiten geschickt, nach etwa vier Wochen wurden sie von Amazon (nach der Saison) nicht weiterbeschäftigt; Begründung: Zu geringe Arbeitsleistung, und sie könnten es im nächsten Jahr nochmals versuchen. Das sind Leute aus meinem Umfeld, die fleißig und zuverlässig sind.
Bezahlt wird das Ganze aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit, also aus Beiträgen der abhängig Beschäftigten für die Arbeitslosenversicherung! Eine Schande der Politik! Die Kommunalpolitiker in Bad Hersfeld und im Kreis Hersfeld-Rotenburg preisen die Logistik als Jobmotor an; es ist an der Zeit solche „Flachschippen“ abzuwählen!“
Und wer in Bad Hersfeld schon einmal befristet bei Amazon gearbeitet hat, kommt kaum wieder rein, meint eine Insiderin; „Vielleicht befürchtet die Geschäftsleitung, dass die Leute dann auf eine unbefristete Anstellung pochen.” Auch deshalb setzt das Management inzwischen verstärkt auf spanische und polnische Wanderarbeiter vor allem in der Hochsaison vor Weihnachten.
Amazon setzt Maßstäbe…
Dass Amazon als größter Arbeitgeber der Region Maßstäbe für Lohndrückerei, Tarifflucht und Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten setzt und gleichzeitig nur die Spitze des Eisbergs darstellt, bestätigt auch der örtliche DGB-Sekretär Klaus Schüller: „Da werden Branchen aufgespalten und Unternehmensteile ausgegliedert, damit man hinterher ganze Abteilungen über Leiharbeit wieder einstellen und die Beschäftigten je nach Branche um 30, 40 oder 50 Prozent schlechter entlohnen kann.“, so der Gewerkschafter. Solche Zustände herrschten inzwischen auch in der Nahrungsmittelindustrie, im Dienstleistungssektor wie auch in der Automobil-, Metall- und Elektroindustrie vor. Im Betrieb „arbeiten die Menschen nebeneinander, verrichten die gleiche Arbeit, aber die Leiharbeiter fühlen sich immer als Beschäftigte zweiter Klasse und haben das Gefühl, dass sie als erste wieder rausfliegen“, so Schüller.
Neben Amazon haben sich in Bad Hersfeld in den letzten Jahren etliche Betriebe der Logistikbranche angesiedelt. Sie schätzen die günstige Lage am geografischen Mittelpunkt der Republik und die vielen willigen und billigen Arbeitskräfte in Nord- und Osthessen und im angrenzenden Thüringen. Viele dieser Betriebe zahlen magere Löhne und beuten massenhaft Leiharbeiter aus. So sind etwa beim Buchgroßhändler Libri in Bad Hersfeld gut 150 von 600 Beschäftigten Leiharbeiter. Die Lebensmittelkette Tegut lässt die Regale in ihren Filialen nicht vom Stammpersonal, sondern von einer externen Firma auffüllen. Die Beschäftigten werden über Werkverträge mit einem mageren Stundenlohn von rund 6,50 Euro abgespeist. Ein Drittel aller abhängig Beschäftigten im Landkreis bezieht Löhne unterhalb der offiziellen Niedriglohngrenze von 1890 Euro (West) brutto. Dazu gehören bisher auch die meisten Amazon-Arbeiter.
Wer in Bad Hersfeld schon einmal befristet bei Amazon gearbeitet hat, kommt kaum wieder rein. „Vielleicht befürchtet die Geschäftsleitung, dass die Leute dann auf eine unbefristete Anstellung pochen“, vermutet die Arbeiterin. So setzt das Management inzwischen verstärkt auf spanische und polnische Wanderarbeiter vor allem in der Hochsaison vor Weihnachten.
… und hält die Hand auf
Während sich Amazon von der politischen Prominenz in Hessen als „Jobbeschaffer“ und Motor eines angeblichen „Jobwunders“ feiern lässt, hat der US-Konzern unterschiedliche üppige kommunale Subventionen und Zuwendungen erhalten. Bad Hersfelds Bürgermeister Thomas Fehling (FDP) erklärte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit Focus online: „An Investitionsvolumen dürften rund neun Millionen Euro geflossen sein“. Nach Einschätzung eines kommunalpolitischen Insiders liegt die Summe der öffentlichen Gelder für den privaten Konzern inzwischen bei insgesamt rund 20 Millionen Euro. Gleichzeitig stellte Fehling klar, dass Amazon als größter Arbeitgeber vor Ort wenig zum Gewerbesteueraufkommen der Stadt beiträgt: „Das Management sucht die Nähe zur Stadt. Insgesamt ist es aber ein US-Konzern. Wir werden also nicht von Gewerbesteuern überschüttet. Da sind die weltweiten Konzerne in der Lage, internationale Gestaltungsoptionen zu nutzen.“
Was nun?
Der Fall Amazon ist kein Einzelfall, sondern symptomatisch für die Zustände im real existierenden Kapitalismus. Er steht für Konzerne, die schamlos heuern, ausbeuten und feuern und sich Entscheidungsträger der Politik auf allen Ebenen gefügig machen.
* Es wird Zeit, dass solchen Konzernen die rote Karte gezeigt wird. Volle Unterstützung für den Kampf der Amazon-Belegschaft und ihrer Gewerkschaft ver.di zur Durchsetzung eines Tarifvertrags!
* Prekarisierung und massenhafter Missbrauch von Leiharbeit können und müssen auch wieder rückgängig gemacht werden. So gelang es vor zwei Jahren beim Essener Universitätsklinikum durch das Engagement der Personalräte und Druck von unten, die hauseigene Zeitarbeitsfirma aufzulösen und sämtliche Leiharbeiter in die Stammbelegschaft zu überführen. Alle Gesetze der letzten Jahrzehnte, die der Deregulierung des Arbeitsmarktes und somit dem Lohndumping gedient haben, müssen wieder rückgängig gemacht werden.
* Und noch eines: Große Handels- und Logistikkonzerne gehören zur Daseinsvorsorge und daher in öffentliche Hand und unter demokratische Kontrolle von Beschäftigen, Gewerkschaften und Staat.
April 2013