Als am 25. April 1974 kurz nach Mitternacht im portugiesischen Radio das Lied „Grândola, vila morena“ erklang, war dies das Signal zum Aufstand gegen die verhasste Diktatur. Konstantin Korn zeigt, wie der Kolonialkrieg in Afrika in eine Revolution umschlug.
„Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.“ (Lenin)
Die einstige Seefahrernation Portugal war in der frühen Neuzeit zur Kolonialmacht aufgestiegen. Als Anfang der 1930er Jahre der Faschismus auch in Portugal die Macht eroberte, war von der einstigen Größe nicht mehr sehr viel übrig. Doch in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik herrschte noch immer Portugals brutales Apartheidregime, das die schwarze Bevölkerung in Ausbeutung und Rechtlosigkeit hielt. Doch die Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent machten auch vor den portugiesischen Kolonien nicht halt. Die Kolonialherrschaft konnte nur mit Waffengewalt aufrechterhalten werden, was jedoch enorme Geldmittel (ca. die Hälfte des Staatshaushaltes) fraß. Die starke Militärpräsenz in den Kolonien sorgte nicht zuletzt in den Reihen der Armee für großen Unmut. So ist es kein Wunder, dass Offiziere und Soldaten, die im Movimento das Forças Armadas (MFA, Bewegung der Streitkräfte) organisiert und teilweise von kommunistischen Ideen beeinflusst waren, den ersten Schritt machten und am 25. April den Aufstand gegen die Diktatur wagten.
Die MFA hatte kein wirkliches Programm, doch ihre Initiative öffnete eine Schleuse, durch die sich eine Welle an Massenprotesten Bahn brechen konnte. Der Sturz von Diktator Caetano löste in der Arbeiterschaft und der Jugend einen Sturm der Begeisterung aus. Die Massen stürmten die Gefängnisse und befreiten die politischen Gefangenen. Am 1. Mai ging eine halbe Million Menschen auf die Straße – Soldaten, Matrosen, ArbeiterInnen, Studierende marschierten Schulter an Schulter. Die Lohnabhängigen begannen sich nun massenhaft in Gewerkschaften zu organisieren und kämpften für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Was als Militärputsch begann, entfaltete sich binnen weniger Tage zu einer Revolution, die nicht nur Demokratie und Freiheit zum Ziel hatte. Fabriken wurden besetzt, Arbeiterkomitees gründeten sich im ganzen Land und versuchten Medien und Betriebe von Faschisten zu säubern.
Doch in einem ersten Schritt hatte die Nelkenrevolution General Spinola an die Spitze des Staates befördert. Spinola war kurz zuvor noch Militärgouverneur in Guinea -Bissau gewesen und gehörte selbst zum faschistischen Establishment. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die neue Staatsführung wieder „Recht und Ordnung“ herstellen würde.
Die linken Parteien (SP, KP) hatten im Zuge der Revolution eine Massenunterstützung gewonnen. Ihre Strategie war daher von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Revolution. Sowohl die Sozialistische wie auch die Kommunistische Partei gab als Parole aus: „Für eine Einheit aller politischen Kräfte zur Stärkung der Demokratie in Portugal.“ Ihr Ziel war die „nationale Rettung“ durch eine „nationale Einheit“ all jener Kräfte, die bereit sind, in der neuen zivilen Verwaltung zusammenzuarbeiten. Der neuen Junta unter Spinola sprachen die Führer der SP und der KP das volle Vertrauen aus. Doch Spinola spielte ein doppeltes Spiel: Während er den Massen „Freiheit“ versprach, vergewisserte er den Unternehmern, gegen „jeden Missbrauch der Freiheit“ hart durchzugreifen. Sein Ziel war ein möglichst schnelles Ende der Revolution.
Doch bei all seinen konterrevolutionären Manövern machte Spinola die Rechnung ohne den Wirt, der Arbeiterklasse. Der von ihm orchestrierte Versuch, im September 1974 die „schweigende Mehrheit“ auf die Straße zu mobilisieren, löste in Lissabon eine spontane antifaschistische Gegenmobilisierung aus. Barrikaden wurden errichtet, Arbeiter bewaffneten sich, Soldaten solidarisierten sich mit ihnen. So wurde der rechte Putsch von den Massen im Keim erstickt. Diese Erfahrung radikalisierte die Arbeiterklasse in Stadt und Land.
Die KP hielt dennoch an ihrem Kurs fest und beschränkte sich darauf, eine „demokratische Revolution“ zu fordern, nicht aber die Überwindung des Kapitalismus. Diese gemäßigte Perspektive der KP-Führung hatte schon vor der Nelkenrevolution zu einer Spaltung der kommunistischen Bewegung geführt. Die radikalisierten Teile der Jugend sahen damals im Maoismus eine Alternative und gründeten die MRPP, die sich aber durch eine völlig sektiererische und abenteuerliche Politik auszeichnete. Gleichzeitig nutzte die SP den Spielraum, der sich durch den gemäßigten Kurs der KP auftat, und organisierte große Teile der Arbeiterschaft auf der Grundlage einer sehr radikal klingenden Rhetorik (z.B. mit ihrem Protest gegen das gewerkschaftsfeindliche Streikgesetz).
In dieser zugespitzten Klassenkampfsituation erhob sich die MFA über die Gesellschaft und riss immer mehr Macht an sich, wobei die Militärs die Unterstützung der linken Parteien wie auch der Massen hatten. Die Revolution fand hier einen äußerst widersprüchlichen Ausdruck. Die MFA wollte einerseits die „Ordnung“ wiederherstellen, stand aber so stark unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung und erwies sich daher bei der Verteidigung der Kapitalinteressen als unzuverlässig. Aus der Sicht der Bourgeoisie war diese Militärregierung in Kombination mit einer extrem klassenkämpferischen Arbeiterklasse ein zu großer Unsicherheitsfaktor. Ein erneuter Putschversuch im März 1975 sollte dem Ganzen ein Ende setzen, was aber den gegenteiligen Effekt hatte (siehe unten).
Eine neue Welle von Massenmobilisierungen der Arbeiterklasse ließ die Bürgerlichen in Panik verfallen. Das „Gespenst des Kommunismus“ ging um. Die britische „Times“ schrieb: „Der Kapitalismus ist in Portugal tot.“ Die Möglichkeit, die soziale Revolution zu Ende zu führen, hätte größer nicht sein können. Doch das Fehlen einer revolutionär-kommunistischen Partei ermöglichte es den traditionellen linken Parteien, den revolutionären Prozess in „demokratische“ Bahnen zu lenken und dem Kapitalismus neues Leben einzuhauchen.
Ausschnitt aus „Die Revolution in Portugal“ (Ted Grant, Mai 1975)
Ohne das direkte Eingreifen und den Druck der Massenbewegung der Arbeiterklasse, die wiederum auf die Reihen der Streitkräfte Wirkung ausübte, wäre die Revolution verloschen. Die bedeutendste Kraft der Revolution in Portugal war die Bewegung der Massen. (…)
Durch das Fehlen einer revolutionären Führung in Portugal, im Gegensatz zur Russischen Revolution, ergab sich die Besonderheit der Portugiesischen Revolution, dass jeder Schritt vorwärts durch die Konterrevolution provoziert wurde.
Am 11. März 1975 entschied sich Spinola, wahrscheinlich in Absprache mit den „NATO-Bündnispartnern“, den Botschaften der westeuropäischen Länder und der USA, die Revolution ein für alle Mal im Keim zu ersticken. (…) Doch binnen Stunden verlief der Putsch im Sand. Es war vielleicht der lächerlichste und komischste Versuch einer Konterrevolution, den die Geschichte gesehen hat. Doch der Putsch war gerade deshalb ein Fiasko, weil das Feuer der Revolution nicht nur die Arbeiter und Bauern, sondern praktisch auch die gesamte Basis der Streitkräfte erfasst hatte. Es gab kein einziges Regiment in ganz Portugal, das bereit war, sich in den Dienst der Konterrevolution zu stellen.
Die Bevölkerung hatte den Faschismus ausgekotzt, weil sie darin die Diktatur des Kapitals sah, und sie war nicht bereit, auch nur irgendeinen Schritt zu tolerieren, der zu einem ähnlichen Regime führen würde. (….)
Der Hauptgrund für die enorme Rolle des Militärs in diesem Prozess war die Gelähmtheit der Arbeiterorganisationen aufgrund des Fehlens einer genuinen marxistischen Partei und einer marxistischen Führung. In Wirklichkeit hatte die MFA vom Beginn der Revolution an – die reale Macht lag in den Händen der Arbeiter und Soldaten – ein Vakuum gefüllt, das durch das Versagen der Führer der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei verursacht wurde. (…)
Der Versuch der Reaktion, die Lage im Interesse des Kapitalismus zu korrigieren, war gescheitert, was in der Folge die Revolution weiter nach links drückte. Die Masse der Arbeiter lehnte das Großkapital ab, weil sie dort die Hintermänner hinter dem Putsch von Spinola sahen.
Die Bankangestellten hatten die Finanztransaktionen der Oligarchie beobachtet. Unsummen wurden ins Ausland transferiert und Geld wurde Spinola und seiner Verschwörung zur Verfügung gestellt. (…)
In der Portugiesischen Revolution spielte die Kommunistische Partei, wie auch die Führung der Sozialistischen Partei, eine noch schlimmere Rolle als die Menschewiki in der Russischen Revolution.
Sie versuchten die Kämpfe der Arbeiterklasse zu ersticken. Sie buckelten vor den Generälen, die jetzt das Sagen hatten. Sie versuchten die Arbeiter dazu zu zwingen, das „Recht“ auf Eigentum zu „respektieren“ und das Militär nicht zu reizen. Sie versuchten die Arbeiter dazu zu bringen, schlechtere Bedingungen zu akzeptieren und Manager zu tolerieren, die sie so gebärdeten, als wäre Caetano noch immer im Amt.
Ihre Perspektive für die Revolution war dieselbe wie die der Menschewiki in Russland. Bevor die Frage des „Sozialismus“ gestellt werde könne, brauche es mehrere Jahrzehnte einer bürgerlichen Demokratie.
Doch plötzlich nahm die Empörung der Bankangestellten über die Unterstützung der Konterrevolution durch ihre Herren eine explosive Form an. (…) Die Bankangestellten besetzten die Banken und kündigten an, dass sie diese erst wieder öffnen würden, wenn die Banken verstaatlicht werden!
Die Offiziere an der Spitze der MFA waren ebenfalls gegen die Finanziers des Putschs. Im Gegensatz zu den schüchternen kleinbürgerlichen Führern der KP und der SP kannten sie keine Hemmung und folgten dem Kurs, den die Arbeiter vorgaben. Sie akzeptierten die vollendeten Tatsachen und kündigten die Verstaatlichung der Banken an, wobei nur kleine Aktionäre entschädigt wurden.
Die MFA erklärte nun den „Sozialismus“ ex post facto zum Ziel der Revolution!
(Funke Nr. 222/27.03.2024)