„Es lebe der Kampf der ArbeiterInnenklasse“ – das war einer der zentralen Slogans der vielen Großdemonstrationen, die diesen Sommer Spanien erschütterten. Von den Ereignissen berichtet Elka Xharo.
Spanien. Das Land am Mittelmeer, welches viele EuropäerInnen bis jetzt vor allem als beliebtes Urlaubsziel kannten, wird neben Griechenland immer mehr zum Sinnbild der Krise in Europa. Die Arbeitslosigkeit steigt rapide und ist mittlerweile bei 25% angelangt. Das ist die höchste Arbeitslosenrate seit dem Ende des faschistischen Franco-Regimes. Aber vor allem die Jugendarbeitslosigkeit hat in Spanien erschreckende Ausmaße angenommen: Mehr als die Hälfte aller Jugendliche hat keine Arbeit. Eine universitäre Ausbildung ist schon lange kein Garant mehr für einen Arbeitsplatz. Der spanischen Jugend fehlen die Perspektiven, weshalb für immer mehr Jugendliche als einziger Ausweg die Emigration bleibt. Dieses Jahr haben schon 6000 junge SpanierInnen das Land verlassen. Erstmals tritt das Phänomen auf, dass mehr Menschen das Land verlassen als einwandern, da nun auch viele MigrantInnen wieder in ihre Heimatländer zurück kehren.
Nicht nur unter der höchsten Arbeitslosigkeit der EU, sondern auch unter den Auswirkungen einer großen Immobilienblase haben die SpanierInnen seit einigen Jahren zu leiden. In den letzten 4 Jahren verloren 400.000 Familien ihr Haus oder Eigentumswohnung. Aber nicht nur, dass diese Menschen ihres Zuhauses beraubt werden, die meisten sehen sich auch nach der Zwangsräumung einem riesigen Schuldenberg gegenüber. Wenn die Wohnung oder das Haus von der Bank auf einen geringeren Wert geschätzt wird als die Summe des Kredits, sind die SchuldnerInnen gezwungen, weiterhin für eine Wohnung zu bezahlen, die ihnen nicht einmal mehr gehört. Und all diese Schicksale geschehen vor dem Hintergrund hunderttausender leer stehender Häuser, die unbewohnt bleiben, weil sie für die meisten SpanierInnen nicht leistbar sind. Der freie Markt zeigt wieder einmal sein unbarmherziges und menschenfeindliches Gesicht.
Die konservative PP (Partido Popular) und dessen Premierminister Rajoy kennen auf diese Krise aber nur eine Antwort: Sparmaßnahmen für die Bevölkerung und Rettungspakete für die Banken. Im Juli dieses Jahres hatte Rajoy Einsparungen von 65 Mrd. Euro angekündigt. Die Mehrwertsteuer wird von 18% auf 21% erhöht, das Arbeitslosengeld und die Gehälter im öffentlichen Dienst werden gekürzt. Gleichzeitig wird Spanien 100 Mrd. Euro an Hilfsgeldern von der EU erhalten, um das nationale Bankensystem vor dem Kollaps zu bewahren. Doch die Kapitalflucht hält seit Monaten ungehindert an. Alleine im August flossen 74 Mrd. € ins Ausland ab. Insgesamt wurden 11 Prozent aller Bankeinlagen im letzten Jahr abgezogen. Das Kapital hat längst das Vertrauen in eine Lösung der Krise verloren. Aufgrund der Größe des Landes würde ein Bankrott Spaniens aber die ohnedies schon sehr instabile Lage in der EU dramatisch verschärfen. Spanien entwickelt sich jedoch auf schnellstem Wege zu einem zweiten Griechenland und steuert ebenfalls auf eine vorrevolutionäre Situation zu.
Ein zweites Griechenland
Immer mehr SpanierInnen haben begriffen, dass die Sparmaßnahmen kein Ausweg aus der Krise sind, sondern das Land immer weiter in den Abgrund stürzen. Seit des völlig überraschenden Ausbruchs der Bewegung der „Indignados“ („die Empörten“) am 15.Mai 2011 wird das Land ununterbrochen von Protestbewegungen und Demonstrationen erschüttert. Die Indignados-Bewegung wurde hauptsächlich von der Jugend getragen, welche sich unter dem Banner „Democracia real ya!“ (Echte Demokratie jetzt!) versammelt hatte. Zwar gelang ihnen eine überwältigende Mobilisierung und Politisierung großer Bevölkerungsteile, jedoch fehlte der Bewegung eine klare Perspektive. Sie hatte es verabsäumt, eine starke Verbindungen zu Arbeitskämpfen und dadurch einen politischen und ökonomischen Druck aufzubauen. Die Proteste, die wir dieses Jahr beobachten konnten, sind hingegen sehr stark von Arbeitskämpfen geprägt. Man könnte sagen, dass die aktuellen Proteste auf einem höheren, ausgereifteren Niveau stattfinden.
Der große Auftakt der diesjährigen Proteste war der von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik am 29.März. Trotz des großen Erfolgs wagten UGT und CCOO es bis jetzt nicht einen weiteren Generalstreik auszurufen. Seit Mai befinden sich jedoch über 8000 BergarbeiterInnen in einem entschiedenen und militanten Arbeitskampf. Sie fürchten um ihre Jobs, da die Streichung von Subventionen das Ende des Bergbaus bedeuten würde. Ihre große Solidarität mit dem Kampf der BergarbeiterInnen zeigte die Bevölkerung am 10.Juli, als 400 BergarbeiterInnen nach einem 18-tägigen Marsch von über 150.000 Menschen in Madrid empfangen und wie Helden gefeiert wurden.
Der Protestmarsch in Madrid war jedoch nicht nur von großer Solidarität geprägt. Es kam erneut zu massiver Polizeigewalt, wie man sie vor allem letztes Jahr schon in Barcelona erleben musste. Die Spezialeinheit der Polizei machte von Tränengas und Gummigeschossen Gebrauch und hinterließ 76 Verletzte. Das harte Vorgehen der Polizei führte aber zu keinem Abflauen der Bewegung, ganz im Gegenteil. In der darauffolgenden Woche kam es täglich zu spontanen Demonstrationen, Straßenblockaden und Besetzungen von Verwaltungsgebäuden. Vor allem die ArbeiterInnen und Angestellten des öffentlichen Dienstes sind zu einem wichtigen und aktiven Faktor geworden. Zum Beispiel stand die Feuerwehr schon bei der BergarbeiterInnen-Demonstration am 10.Juli in vorderster Reihe und eskortierte den Protestzug. Besonders bemerkenswert ist auch, dass immer mehr Teile der Polizei sich mit der Bewegung solidarisieren. Nicht selten kam es vor, dass PolizistInnen sich vor die Protestierenden stellten, um sie vor den Spezialeinheiten der Polizei zu schützen. Außerdem wurde ein Vorfall bekannt, bei dem 546 neue Polizeibeamte bei ihrer Angelobung ihren Vorgesetzten den Rücken zuwandten, um einer Gruppe von vorbeziehenden GewerkschafterInnen, die gegen Sparmaßnahmen im öffentlich Dienst protestieren, zu applaudieren. In einer anderen Polizeistation kam es am Abend vor dem 19.Juli, den landesweiten Aktionstag der Gewerkschaft, zu einem internen Sabotageakt, bei dem dutzenden Polizei-Vans die Reifen aufgeschlitzt wurden. Der Aktionstag, ausgerufen von den Gewerkschaften wegen dem enormen Druck der ArbeiterInnen, wurde zu einem vollen Erfolg, mit teilweise größeren Demonstrationen als beim Generalstreik im März. In Madrid marschierten 800.000, in Barcelona 400.000 Menschen. Insgesamt wurde in über 80 Städten und Dörfern gegen die Sparmaßnahmen der Regierung demonstriert.
Spanien befindet sich derzeit in einer kritischen Phase des Klassenkampfes, in der ein organisierter und vereinter Arbeitskampf aller von den Sparmaßnahmen betroffener Branchen entscheidend ist. Da beide alten Großparteien PSOE (SozialistInnen) und PP (Konservative) überzeugt hinter dem Sparkurs stehen, sehen viele ArbeiterInnen und Jugendliche in der „Izquierda Unida“ (Vereinigte Linke) eine Kraft, die ihrem Kampf einen Ausdruck geben kann. Diese unterstützt regelmäßig Protestaktionen, Arbeitskämpfe und Streiks und konnte deswegen in den Umfragen ihre Stimmen während den Protesten auf 13,2% verdoppeln, während PSOE und PP kontinuierlich verlieren. Hier könnte sich ein ähnliches Phänomen entwickeln wie SYRIZA in Griechenland. Nicht zuletzt das Verhalten der IU und der Gewerkschaften wird entscheiden, ob die Bewegung sich in der Perspektivlosigkeit verliert oder zu einer starken, organisierten Kraft wird, die den Sparkurs verhindern und das krisenhafte kapitalistische System samt seinen verheerenden Auswirkungen beseitigen kann.
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe des Funke (Nr. 111) erschienen
Siehe auch: Heißer Herbst: Spanien vor der Explosion?