Am Mittwoch kamen mitten in der Nacht über 150.000 Menschen auf die Straßen von Madrid, um den BergarbeiterInnen einen würdigen Empfang zu bescheren. Diese waren 18 Tage lang und 400 Kilometer weit von ihren Heimatregionen in die Hauptstadt marschiert. Von Jorge Martín.
Eine riesige Menge von Zehntausenden (der Gewerkschaftssekretär der CCOO von Madrid gab sogar eine halbe Million an) zeigten ihre Solidarität mit erhobenen Fäusten und revolutionären Liedern. Sie begleiteten die Kumpels von der Ciudad Universitaria bis zur Puerta del Sol, jenem Platz, den die Indignados zuletzt oft füllten.
Die Kundgebung war für 22 Uhr (Dienstag) angesetzt, aber es wurde fast 2 Uhr morgens (Mittwoch) bis die BergarbeiterInnen schließlich Puerta del Sol erreichten. Feuerwehrmänner aus Madrid, die sich ebenfalls in einer Auseinandersetzung gegen Kürzungen und Arbeitsplatzverluste befinden, stellten die Ordner für die Demonstration bereit und öffneten den BergarbeiterInnen, die bereits am Abend zuvor den Stadtrand von Madrid erreichten, den Weg durch die Menge. Die Kolonne aus Aragón begegnete schließlich jenen aus León und Asturien.
Zehntausende sangen die Internationale und die Bergarbeiterhymne Santa Barbara. Viele BergarbeiterInnen waren zu Tränen gerührt aufgrund der außerordentlichen Solidarisierung der Arbeiterklasse von Madrid.
Zorn, aber auch der Heiterkeit lagen in der Luft. Die Menge bekam ein Bewusstsein für ihre eigene Stärke und sie skandierten “Sí se puede” (“Yes we can”) und “Lang lebe der Kampf der Arbeiterklasse”. Über 8.000 BergarbeiterInnen befinden sich seit Ende Mai in einem unbefristeten Streik gegen die Entscheidung der Regierung, die Subventionen für ihre Industrie um 63 % zu kürzen. Auf dem Spiel stehen ihre Arbeitsplätze und die von weiteren 30.000 Menschen, die mit der Bergbauindustrie im Zusammenhang stehen. Zuerst wurden sie von den Medien ignoriert, dann wurden sie verleumdet und verschmäht, und aschließend als gewaltbereite Extremisten und sogar als Terroristen bezeichnet. Regierung und Massenmedien arbeiteten Hand in Hand um ein Bild von BergarbeiterInnen zu zeichen, die gut bezahlt werden und früh und mit guten Konditionen in Pension gehen. Nichts davon ist wahr, aber all das hatte negative Auswirkungen auf die Moral der Streikenden. Mittwoch nachts wurde diese Entwicklung jedoch umgekehrt. Die BergarbeiterInnen konnten am eigenen Leib die enorme Solidarität spüren, die ihr Kampf erzeugte. “Die Menschen sind mit uns”, sagten viele von ihnen.
Vor zwei Wochen gewann Spanien die Fußball-EM und die herrschende Klasse versuchte, die verständliche Freude darüber zu nutzen um eine Stimmung der fahnenschwenkenden nationalen Einheit zu erzeugen. Aber am Mittwoch in der Nacht riefen Tausende unter einem Meer von roten Flaggen und den Flaggen von Aragon, Asturien und León “das ist meine Nationalmannschaft” (“esta es mi selección”).
Als die Menschenmenge Puerta del Sol erreichte, verwandelte sie den Slogan der Indignados “que no nos representan” (“sie repräsentieren uns nicht”) – der sich an PolitikerInnen, RichterInnen und Banker richtet – in “que sí nos representan” (“sie repräsentieren uns”) und meinten damit die BergarbeiterInnen.
Es gibt gute Gründe, weshalb der Kampf der BergarbeiterInnen der Fokuspunkt für Millionen von spanischen ArbeiterInnen und Jugendlichen wurde. Sie werden als jene gesehen, die den Kampf bis zu Ende führen wollen, was immer auch dazu notwendig ist. Das ist genau das was es braucht, im Gegensatz zur “Strategie” der GewerkschaftsführerInnen von CCOO und UGT, die einen sehr erfolgreichen Generalstreik Ende März ausriefen, aber anschließend nicht mit weiteren Aktionen darauf aufbauten. ArbeiterInnen und Jugendliche sind bereit zu kämpfen. Jeden Freitag verkündet die Regierung neue Austeritätsmaßnahmen, mehr Kürzungen und weitere Attacken; die Banken werden gerettet während Familien der Arbeiterklasse aus ihren Häusern geschmissen werden; ArbeiterInnen werden große Opfer abverlangt, während ein korrupter Richter mit einem Rücktritt davonkommt. Die zornige Stimmung hat sich nun seit über einem Jahr aufgebaut, aber hatte noch keinen Kanal gefunden, um sich auszudrücken.
Selbst für den Kampf der BergarbeiterInnen organisierten die GewerkschaftsführerInnen keine geeignete Solidarität. Es braucht eine landesweite Kampagne mit Massenversammlungen in allen Betrieben, Massenkundgebungen mit Sprechern von den BergarbeiterInnen, Spendensammlungen in den Betrieben für die Streikkasse der BergarbeiterInnen. Das wäre die einzig wirksame Vorgehensweise, um der Propaganda der herrschenden Klasse zu entgegnen und würde dazu dienen, die Arbeiterklasse als Ganzes für weitere Aktionen vorzubereiten. “Sí se puede” (“yes we can”) heißt, dass die ArbeiterInnen und Jugendlichen bereit sind zu kämpfen, aber nur wenn ihnen eine dauerhafte Perspektive und eine ernsthafte Kampagne zur Mobilisierung angeboten wird, um die Regierung und die Sparpolitik in die Knie zu zwingen.
Am Mittwoch begleitete erneut eine rießige Demonstration mit über 100.000 Menschen die BergarbeiterInnen zum Industrieministerium, während Präsident Rajoy im Parlament die “neuen” Bedingungen, die mit der EU bezüglich der Rettungsaktion für Banken ausverhandelt wurden, erklärte und weitere Budgetkürzungen verkündete. Zusammenfassend wird aufgrund eines einjährigen Aufschubs, um das Ziel eines dreiprozentigen Bugetdefizits zu erreichen, ein weiteres Kürzungspaket im Wert von 65 Milliarden Euro geschnürt. Eisenbahnen, Flughäfen und Häfen werden privatisiert; die Mehrwertsteuer wird erhöht; die Arbeitslosenunerstützung wird reduziert, das Pensionsalter wird angehoben, öffentlich Bedienstete verlieren ihre Weihnachtszulage bis zum Jahr 2015. ArbeiterInnen werden ein weiteres Mal für die Krise des Kapitalismus zur Kasse gebeten.
Die Bereitschaftspolizei ging mit aller Härte gegen die Menge vor. Um die 76 Menschen wurden verletzt.
Bezeichnenderweise eröffnete Rajoy seine Rede, indem er der Sozialistischen Partei dafür dankte, dass sie auf europäischer Ebene in eine Einheitsfront mit ihm eingetreten sind. Demgegenüber trugen ParlamenterierInnen der Vereinigten Linken (Izquierda Unida) T-Shirts in Solidarität mit den BergarbeiterInnen. Es ist daher nicht überraschend, dass neue Meinungsumfragen, die am Wochenende veröffentlicht wurden, einen weiteren Unterstützungsverlust für die regierende Volkspartei (PP) zeigen (von 44 % bei den Wahlen im November 2011 auf heute 37 %). Auch die diskreditierte Sozialistische Partei fiel in den Umfragen von 28,7 % auf 23,1% (im gleichen Zeitraum). Sie wird als jene Partei gesehen, die die gegenwärtige Welle an Kürzungen in Gang setzte während sie in der Regierung war und nun mit der PP in allen wesentlichen Fragen übereinstimmt. Die hauptsächliche Nutznießerin ist die Vereinigte Linke, die ihren Anteil von 6,9 % vom November auf 13,2 % ausbauen konnte.
Was nun? Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen sind die Kosten für ein Zugeständnis an die BergarbeiterInnen, damit diese ihren Kampf einstellen, nicht so groß. Die Kürzungen der Subventionen für den Bergbau betragen “nur” 200 Millionen Euro. Aber ein Zugeständnis würde folgende “gefährliche” Botschaft an den Rest der ArbeiterInnen und Jugendlichen, die ähnlichen Angriffen ausgesetzt sind, senden: “Der einzige Weg um zu gewinnen ist ein unbefristeter Streik, Barrikaden und ein Marsch auf Madrid.”
Andererseits haben die GewerkschaftsführerInnen keine klare Strategie ausgearbeitet, um diese Auseinandersetzung auf den Rest der Arbeiterklasse auszuweiten. Aber dies wäre der einzige Weg um den Druck zu erhöhen. Zwar gab es am 18. Juni einen Generalstreik in den Bergbauregionen, aber seither wurden keine weiteren Aktionen ausgerufen. Das Mindeste wäre ein Generalstreik in Asturien und ein landesweiter Aktionstag in Solidarität mit den BergarbeiterInnen.
Zur selben Zeit sind die BergarbeiterInnen enthusiastisch und selbstbewusst. Es wird nicht einfach sein, sie zu besiegen oder sie zu überzeugen mit leeren Händen an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren – ganz besonders weil sie wissen, dass ihre Jobs bis zum Ende des Jahres verschwinden werden, wenn sie diesen Kampf nicht gewinnen.
Eine mächtige Explosion ist das wahrscheinlichste Resultat, wenn diese zwei Kräfte aufeinandertreffen. Entweder die GewerkschaftsführerInnen setzen sich an die Spitze dieses Kampfes und geben ihm zumindest eine ungefähre Richtung und Führung, oder sie riskieren durch eine spontane Bewegung von unten zur Seite geschoben zu werden.
Heute legten öffentlich Bedienstete in Madrid und anderen Teilen des Landes spontan ihre Arbeit nieder. Sie protestierten gegen das jüngst angekündigte Sparpaket. Mehrere hundert Beschäftigte von verschiedenen Ministerien blockierten die Straße in der Castellana Avenue (Video von El Pais)
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