Dieser Tage stand ein Aktivist der Sozialistischen Jugend vor Gericht, weil er in einem Hip-Hop-Text vom Quälen und Schlachten der Reichen reimte. Dies löste in der SJ eine Debatte aus, wie man als Bewegung mit Repression und Klassenjustiz umgehen sollte. Ein Blick in die Geschichte der Sozialdemokratie lohnt sich, um in dieser Frage einen marxistischen Standpunkt einnehmen zu können. Von Gernot Trausmuth.
Doch bevor wir die geschichtliche Erfahrung aufarbeiten wollen, sei doch der offizielle Standpunkt der SJ-Führung kurz zusammengefasst. Als der Fall von rechtsextremer Seite an die Öffentlichkeit gebracht wurde und nicht nur Nazi-Homepages sondern auch bürgerliche Massenmedien darüber zu berichten begannen, distanzierte sich der Landesvorsitzende der SJ Steiermark Max Lercher umgehend von dem Genossen mit einem Hang zur Dichtkunst. In der „Presse“ vom 26.8.2011 war zu lesen: „Der steirische SJ-Chef und Landtagsabgeordnete Max Lercher erklärte auf Anfrage, man habe innerhalb von 24 Stunden reagiert: ‘Die SJ toleriert so etwas nicht’. Die beiden Obersteirer haben nun Funktionsverbot, zudem soll in einem Schiedsgerichtsverfahren über einen Ausschluss entschieden werden.”
War es die Angst in den Medien den antikapitalistischen Liedtext nicht argumentieren zu können? War es aus Rücksicht auf den angeklagten Genossen, weil man die Sorge hatte eine öffentliche Kampagne hätte die Justiz erst recht aus Rache zu einem harten Durchgreifen bewegen können? Jedenfalls schwieg die SJ-Führung sowohl in der Öffentlichkeit wie auch gegenüber der sj-internen Organisationsöffentlichkeit. Eine aktive Solidarisierung mit dem Genossen blieb aus.
Eine Organisation ist nicht zuletzt eine Art kollektives Gedächtnis. Sie bewahrt die Erfahrungen der Vergangenheit, die positiven wie die negativen, und versucht daraus Schlüsse für die politische Arbeit heute zu ziehen.
Und die österreichische ArbeiterInnenbewegung hat in ihrer Geschichte viele Erfahrungen mit Repression und Klassenjustiz sammeln müssen. Verhaftungen, Anzeigen usw. gehörten zum politischen Alltag der frühen Sozialdemokratie. Gut verdeutlicht wird dies im folgenden Zitat, das aus dem Vorwort zur Broschüre der Wiener Volksbuchhandlung “Freie Liebe und bürgerliche Ehe” über den Schwurgerichtsprozess gegen die “Arbeiterinnen-Zeitung” im Jahre 1895 stammt: “So Mancher wird sich die Frage vorlegen, was denn eigentlich die Veranlassung für die Veröffentlichung dieser Broschüre ist. Die Thatsache allein, daß eine Socialdemokratin zu einer kurzen Arreststrafe verurtheilt wurde, wäre kein genügender Grund dafür. Muß doch jeder von den Bekämpfern der capitalistischen Gesellschaftsordnung darauf gefaßt sein, alljährlich für einige Zeit vom Kampfplatze zu verschwinden, um im Gefängnisse neuen Muth, neue Kräfte und neue Begeisterung zur Fortführung des großen Erlösungswerkes zu gewinnen.”
Der Weg zum Aufstieg der Sozialdemokratie in den 1880er und 1890er Jahren ist eng verbunden mit dem Kampf gegen staatliche Repression. Und die Sozialdemokratie sah im öffentlich geführten Kampf gegen Polizeiwillkür, reaktionäre Richter usw. ein ganz wesentliches Instrument zum Aufbau ihrer Organisation. Die bereits erwähnte Broschüre, in der das Protokoll der Gerichtsverhandlung gegen Adelheid Popp einschließlich ihrer Verteidigungsrede abgedruckt wurde, ist ein gutes Beispiel für diese Form der Propaganda.
Welche Bedeutung dieser Aspekt der Parteiarbeit hatte, zeigt sich nicht zuletzt an der Tatsache, dass der zweite von elf Bänden der Gesammelten Werke von Victor Adler, den der Parteivorstand 1923 herausbrachte, den Titel “Victor Adler vor Gericht” trägt. Auf mehr als 250 Seiten (!) wird das Auftreten des Einigers der Partei als Angeklagter in einer Vielzahl von Prozessen beleuchtet. Auf weiteren 120 Seiten geht es um seine Rolle in Prozessen gegen andere GenossInnen, bei Demonstrationen, wo es zu polizeilichen Übergriffen kam, bzw. über seine Gefängnisaufenthalte. Seite um Seite werden dabei seine Artikel und seine Reden wiedergegeben, die allesamt in der “Gleichheit” und später in der “Arbeiterzeitung” abgedruckt und so einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden.
Im Vorwort zu diesem Band schreibt Michael Schacherl, sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter für die Steiermark und somit ein Vorgänger von Max Lercher, über die Gegner der frühen ArbeiterInnenbewegung: “…euch gegenüber sammeln sich wie Spukgestalten die dummen, boshaften Polizeikommissäre, die euch das Wort abschnitten und die Versammlungen auflösten; die bornierten Bezirkshauptmänner, die euch die Versammlungen verboten; die streberischen Staatsanwälte, die euch auf Wunsch der jeweiligen Regierung anklagten und eure Zeitungen und Schriften konfiszierten; die knechtischen und gewissenlosen Richter, die euch auf Befehl von oben verurteilten; die brutalen Polizisten, Gendarmen und Soldaten, die als unbewußte Büttel des Kapitals auf euch einhieben; die ihrer Rolle als Werkzeug der besitzenden Klasse bewußten Minister und Parteiführer im Reichsrat, Landtag und Gemeinderat, die sich gegen die politischen Rechte des Volkes verschworen hatten; die bürgerlichen Zeitungsmacher, die euch totschwiegen oder verlästerten, je nachdem es oben gewünscht wurde.”
Die Methode Victor Adler beschreibt Schacherl sehr eindrücklich an einem konkreten Beispiel. Charlotte Glas, eine bedeutende Rednerin der damaligen Sozialdemokratie und gemeinsam mit Adelheid Popp Mitorganisatorin der ersten sozialdemokratischen Frauenversammlung in Wien, wurde einmal vom Wiener Landesgericht wegen Beleidigung von Mitgliedern der kaiserlichen Familie zu vier Monaten schweren Kerkers verurteilt. Adler war empört über dieses Urteil und überlegte, ob er einen scharfen Artikel gegen dieses Beispiel von Klassenjustiz schreiben sollte, in der Hoffnung die öffentliche Meinung bewegen zu können. Vielleicht würde unter dem Druck der Öffentlichkeit sogar der Oberste Gerichtshof das Urteil revidieren. Die bisherige Erfahrung war aber vielmehr, dass er selbst angeklagt und verurteilt werden würde. Adler entschied sich für den öffentlichen Kampf und griff in einem Artikel den berüchtigten Richter Holzinger frontal an. Der Fall löste eine derartige Entrüstung aus, dass der Oberste Gerichtshof tatsächlich die Notwendigkeit sah das Urteil gegen die Genossin Glas aufzuheben.
Schacherl schreibt: “In jener Zeit der politischen Verfolgungen warst Du ein ständiger Gast bei den Bezirks- und Landesgerichten, vor den Berufsrichtern wie vor den Geschworenen bist Du immer wieder gestanden. Und alle diese Prozesse, ob Du freigesprochen oder verurteilt wurdest, wurden zu Waffen gegen Altösterreich, gegen die Willkür der Behörden, gegen die politische und soziale Unterdrückung. Niemals gingst Du von einem Prozeß ohne moralischen Sieg fort… Jede Verurteilung war wie jeder Freispruch eine Agitation für die politischen Rechte der Arbeiter, eine gelungene Werbung neuer Anhänger für die Partei.”
“Wie man uns behandelt”
Unter dieser Bezeichnung gab es in der “Gleichheit” und in der “Arbeiterzeitung”, den Zeitungen, die Adler herausgab und rund um die sich die Sozialdemokratie in ihren Anfängen organisierte, eine eigene Rubrik, in der der österreichische “Absolutismus, gemildert durch Schlamperei” vorgeführt wurde.
Wir wollen einige exemplarische Fälle skizzieren, in denen Adler gegen die Klassenjustiz zu Felde zog.
Entscheidende Meilensteine auf dem Weg zur Massenbewegung waren für die Sozialdemokratie die Arbeit unter den Ziegelarbeitern am Wienerberg 1888, wo sie das Blechmarkensystem aufdeckte und zu Fall brachte, bzw. die Intervention in den Streik der Wiener Tramwayfahrer 1889. In beiden Fällen positionierte Victor Adler die “Gleichheit” als das Sprachrohr der ArbeiterInnen. In Folge des Tramwaystreiks wurde gegen die “Gleichheit” behördlich vorgegangen, weil es ein “anarchistisches Organ” sei. Doch schon vorher war die “Gleichheit” immer wieder im Visier der Behörden. 45 Mal wurde die Zeitung beschlagnahmt.
Welch nichtige Gründe zur Beschlagnahme der “Gleichheit” führen konnten, zeigt folgender Fall: 1888 feierte der Arbeiterbildungsverein in Schwenders Kolosseum sein 21jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass hatte Edmund Wengraf ein Arbeiterlied (“In Reih und Glied geschlossen…”) gedichtet. Im Programmheft wurde der Text noch nicht beanstandet, als er jedoch kurz darauf in der “Gleichheit” abgedruckt wurde, schritt die Staatsanwaltschaft ein und ließ die Ausgabe konfiszieren. Die Redaktion unter Victor Adler erhob dagegen Einspruch und ging vor Gericht. Adler schrieb über den Fall in der “Gleichheit”:
“So wenig Hoffnungen wir auf das Einspruchsverfahren setzen, schien doch der Fall, daß ein und dieselbe Behörde innerhalb 14 Tagen zwei entgegengesetzte Entscheidungen trifft, mindestens des Festnagelns wert. Wir waren begierig auf die Ausführungen des Staatsanwalts. Er entschuldigte sich, daß er das Lied nicht schon das erstemal konfisziert habe, mit dem Umstand, daß es damals nur in ‘wenigen hundert Exemplaren’ für eine ‘geschlossene Gesellschaft’ gedruckt worden sei. Objektiv aber trage das Lied alle Kennzeichen einer ‘Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung’ an sich.” Adler machte sich lustig über die Argumentation der Staatsanwaltschaft und meinte: “Die Höhe der Auflage sei ein sonderbares Kennzeichen für die Gesetzesübertretung durch die Presse und übrigens schwer anwendbar, da der Staatsanwalt die Höhe der Auflage eben nicht kenne. Bis jetzt waren wir gewohnt, die Konfiskabilität in der Qualität des Druckwerks zu suchen, nun werden wir belehrt, daß die Quantität entscheidend sei.” Die Medien mögen sich geändert haben, die Methoden der Staatsanwälte scheinen dieselben…
1892 wurde Adler einmal mehr revolutionäres Liedgut zum Verhängnis. Bei einer Arbeiterversammlung in Floridsdorf, wo die Wahl der Delegierten zum Parteitag geplant war, schritt die Polizei ein und löste die Versammlung auf. Wie gewöhnlich stimmten die anwesenden Genossen vor dem Verlassen des Saales das “Lied der Arbeit” an, was der amtshandelnde Polizeioffizier auch noch verbieten wollte. Adler hatte daraufhin die Genossen aufgefordert weiterzusingen, was ihm eine Anklage wegen “Einmengung in eine Amtshandlung” einbrachte. Vor dem Bezirksgericht Korneuburg gab Adler an, er habe nicht gesagt “Singt’s nur weiter!”, sondern “Singen wir weiter!” und er habe auch selbst mitgesungen, womit er in eigener Angelegenheit gehandelt hat und sich folglich auch nicht “einmengen” konnte. Seine Gewitztheit half ihm allerdings nicht. Adler wurde zu 48 Stunden Arrest verurteilt.
Bemerkenswert war auch Victor Adlers Auftreten als Zeuge in einem Hochverratsprozess gegen eine Gruppe von “Anarchisten” in Graz. Dabei ging es um eine Broschüre, in der auch die Sozialdemokratie scharf kritisiert worden war. Der Staatsanwalt hatte sich erhofft, dass Adler seine Zeugenaussage zum Anlass nimmt, um gegen die “Anarchisten” auszusagen. Adler spielte aber das Spiel der Staatsanwaltschaft nicht mit und zeigte auf gekonnte Art und Weise, dass die Anklage lächerlich sei. Der Prozess endete durch sein Auftreten mit einem Freispruch.
Der bereits erwähnte Genosse Schacherl charakterisierte Victor Adler in Bezug auf seinen Umgang mit Polizei und Justiz folgendermaßen: “Und was Du von Deinen Genossen verlangtest, wenn es nicht anders ging, dazu warst Du selbst auch bereit.”
Es war ein harter Kampf zur Durchsetzung der grundlegendsten politischen Rechte für die organisierte ArbeiterInnenbewegung. Diese Kämpfe waren fixer Bestandteile des allgemeinen Kampfes gegen Ausbeutung und Unterdrückung und für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse. Nur weil sie diese Auseinandersetzungen offensiv und öffentlich führte, konnte die Sozialdemokratie eine Massenkraft werden.
Dieses Erbe muss heute wieder Teil der politischen Praxis der SJ werden.