Dieser Artikel von Alan Woods behandelt die Barbarei und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. In den Schriften der Postmoderne erscheint die Geschichte als eine im Wesentlichen bedeutungslose und unerklärliche Reihe von beliebigen Ereignissen oder Zufällen. Eine nähere Betrachtung aber offenbart klare Entwicklungsmuster, die bis zu den Anfängen der menschlichen Gesellschaft zurückreichen. Für alle, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, die Welt zu verändern, ist das Verständnis für diese grundlegenden Gesetzmäßigkeiten von zentraler Bedeutung.
Henry Ford soll einmal gesagt haben: „history is bunk“. Für diejenigen, die mit den Feinheiten des amerikanischen Slangs nicht vertraut sind: das Wort „bunk“ heißt so viel wie Nonsens – und Nonsens bezeichnet etwas, das keine Bedeutung hat. Diese nicht gerade elegante Formulierung bringt eine Sichtweise auf den Punkt, die in den letzten Jahren an Stärke gewonnen hat. Der berühmte Gründer der Ford Motor Company hat seine Definition von Geschichte dann noch weiterentwickelt, als er erklärte, Geschichte sei „nur eine verdammte Sache nach der anderen“.
Dieselbe Idee wird von den Vertretern der postmodernen Modeerscheinung, die manche Leute scheinbar für eine echte Philosophie halten, um einiges eleganter (aber nicht weniger falsch) formuliert. Tatsächlich ist diese Vorstellung nichts Neues. Sie wurde schon lange von dem großen englischen Historiker Edward Gibbon formuliert, dem Autor von „Verfall und Untergang des Römischen Imperiums“. Nach seinem geflügelten Wort ist die Geschichte „nicht viel mehr als ein Register der Verbrechen, der Torheiten und des Jammers der Menschheit.“[1]
Die Geschichte erscheint hier als eine im Wesentlichen bedeutungslose und nicht zu erklärende Reihe von beliebigen Ereignissen oder Zufällen. Sie wird von keinen Gesetzmäßigkeiten bestimmt, die wir nachvollziehen könnten. Der Versuch, sie zu verstehen, wäre also ein sinnloses Unterfangen. Eine heute in gewissen akademischen Kreisen sehr populäre Spielart dieser Auffassung ist die Idee, dass es keine höheren oder niederen Formen sozialer Entwicklung und Kultur gebe. Sie behaupten, dass es so etwas wie „Fortschritt“ überhaupt nicht gibt, dass diese Idee ein altmodisches Überbleibsel des 19. Jahrhunderts ist, als sie von viktorianischen[2] Liberalen und Fabianischen Sozialisten[3] – und von Karl Marx – verbreitet wurde.
Diese Ablehnung der Tatsache, dass es Fortschritt in der Geschichte gibt, ist charakteristisch für die Psychologie der Bürgerlichen in der Epoche des Niedergangs des Kapitalismus. Es ist eine getreue Widerspiegelung der Tatsache, dass der Fortschritt im Kapitalismus tatsächlich an seine Grenzen gestoßen ist und droht, rückgängig gemacht zu werden. Die Bourgeoisie und ihre intellektuellen Vertreter sind naturgemäß nicht bereit dazu, diesen Fakt zu akzeptieren. Viel mehr noch, sie sind organisch unfähig, ihn überhaupt zu erkennen. Lenin hat einmal bemerkt, dass ein Mensch am Rande eines Abgrunds nicht vernünftig denken kann. Sie haben allerdings eine vage Ahnung von der realen Situation und versuchen die Sackgasse ihres Systems zu rechtfertigen, indem sie die Möglichkeit von Fortschritt überhaupt leugnen!
So tief ist diese Idee schon ins Bewusstsein eingedrungen, dass sie sogar schon im Reich der nicht-menschlichen Evolution angekommen ist. Sogar ein brillanter Denker wie Stephen Jay Gould, dessen dialektische Theorie des „Punktualismus“ die Art und Weise, wie wir die Evolution sehen, veränderte, argumentiert gegen einen Fortschrittsbegriff (von Niederem zu Höherem) in der Evolution, so dass Mikroben auf derselben Stufe stehen würden wie Menschen. In gewisser Hinsicht ist es richtig, nämlich insofern, dass alle Lebewesen miteinander verwandt sind (das menschliche Genom hat das endgültig bewiesen). Der Mensch ist keine besondere Schöpfung eines allmächtigen Gottes, sondern das Ergebnis der Evolution. Es ist auch nicht richtig, die Evolution als eine Art Masterplan anzusehen, an dessen Ende Geschöpfe wie wir herauskommen (Teleologie, vom Griechischen telos = Ziel). Es ist allerdings nicht notwendig, bei der Widerlegung einer falschen Idee ins andere Extrem zu verfallen, was zu neuen Fehlern führt.
Es geht nicht darum, eine Art vorbestimmten Plan zu akzeptieren, der entweder mit göttlicher Intervention oder irgendeiner Teleologie zusammenhängt. Aber es ist klar, dass die der Natur innewohnenden Evolutionsgesetze tatsächlich eine Entwicklung von einfachen Lebensformen zu komplexeren bedingen. Die einfachsten Lebensformen enthalten bereits den Embryo aller zukünftigen Entwicklungen. Es ist möglich, die Entwicklung von Augen, Beinen und anderen Organen zu erklären, ohne auf einen im Voraus bestimmten Plan zurückgreifen zu müssen. Auf einer bestimmten Stufe entwickeln sich ein zentrales Nervensystem und ein Gehirn. Mit der Entwicklung zum modernen Menschen (Homo sapiens) erreichen wir schließlich das menschliche Bewusstsein. Materie wird sich ihrer selbst bewusst. Seit der Entwicklung der organischen Materie (Leben) aus der anorganischen Materie hat es keine bedeutendere Revolution gegeben.
Um unsere Kritiker zufrieden zu stellen, sollten wir vielleicht hinzufügen: „aus unserer Sicht“. Zweifellos würden die Mikroben grobe Einwände erheben, wenn sie in der Lage wären, einen Standpunkt einzunehmen. Aber wir sind Menschen und müssen notwendigerweise eine menschliche Perspektive vertreten. Und wir halten fest, dass die Evolution in der Tat eine Entwicklung von simplen Lebensformen zu komplexeren und vielseitigeren darstellt – in anderen Worten: einen Fortschritt von niederen zu höheren Lebensformen. Dagegen zu protestieren, scheint eher sinnlos zu sein, nicht wissenschaftlich, sondern nur scholastisch. Wir wollen damit aber natürlich keinesfalls die Mikroben beleidigen, die schließlich schon viel länger als wir auf der Welt sind und, wenn das kapitalistische System nicht gestürzt wird, vielleicht diejenigen sein werden, die zuletzt lachen werden.
Kultur und Imperialismus
Wenn man, um die Mikroben und andere Spezies nicht zu beleidigen, nicht von höheren oder niedrigeren Lebensformen sprechen darf, dann darf man – nach der neuesten Mode – noch weniger behaupten, dass die Barbaren eine niedrigere Form der sozialen und kulturellen Entwicklung repräsentieren als die Sklaverei – vom Kapitalismus ganz zu schweigen. Zu behaupten, dass die Barbaren ihre eigene Kultur hatten, bringt uns noch nicht weit. Schon seit die ersten Menschen Steinwerkzeuge hergestellt haben, hatte jede Epoche ihre eigene Kultur. Dass diese Kulturen bis vor kurzem nicht ausreichend gewürdigt wurden, ist sicher richtig. Die Bürgerlichen hatten schon immer eine Tendenz, die Errungenschaften einzelner Kulturen hervorzuheben und andere zu verunglimpfen. Dahinter stehen die eigennützigen Interessen derjenigen, die andere Völker versklaven, beherrschen und ausbeuten und diese Unterdrückung und Ausbeutung unter dem scheinheiligen Deckmantel der kulturellen Überlegenheit verschleiern wollen.
Unter diesem Banner zerstörten die Christen Nordspaniens (übrigens tatsächliche und auch sonst legitime Nachfahren der barbarischen Goten) die Bewässerungssysteme und die glänzende Kultur des islamischen Al-Andaluz und zerstörten danach die reichen und blühenden Kulturen der Azteken und Inkas. Unter demselben Banner versklavten die britischen, französischen und niederländischen Kolonialisten systematisch die Völker Afrikas, Asiens und des Pazifiks. Sie begnügten sich nicht damit, diese Völker in die grausamste Sklaverei zu stürzen, sondern raubten ihnen neben ihrem Land auch ihre Seelen: Die christlichen Missionare vollendeten das Werk, das die Soldaten und Sklaventreiber begonnen hatten, indem sie den Völkern ihre kulturelle Identität nahmen.
All das ist vollkommen wahr und es ist notwendig, die Kultur eines jeden Volkes mit dem Respekt zu behandeln, den sie verdient. Jede Epoche und jedes Volk hat etwas zum großen Schatz der menschlichen Kultur beigetragen, der unser gemeinsames Erbe ist. Aber heißt das, dass eine Kultur so gut wie jede andere ist? Heißt das, dass man nicht feststellen kann, dass zwischen den frühesten Steinäxten (von denen einige von einem bemerkenswerten Sinn für Ästhetik zeugen) und Michelangelos Davidstatue ein künstlerischer Fortschritt erkennbar ist? Mit einem Wort: Ist es nicht möglich, von einem Fortschritt in der menschlichen Geschichte zu sprechen?
In der Logik ist es eine gängige Methode, ein Argument ad absurdum zu führen, indem man es auf die Spitze treibt. In modernen Strömungen der Anthropologie, Geschichte und Soziologie sehen wir etwas Ähnliches. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Wissenschaft im Kapitalismus immer unwissenschaftlicher wird, je mehr sie sich mit der Gesellschaft beschäftigt. Die sogenannten Gesellschaftswissenschaften sind nicht einmal richtige Wissenschaften, sondern schlecht verhüllte Versuche, den Kapitalismus zu rechtfertigen, oder zumindest den Marxismus zu diskreditieren (was schlussendlich auf dasselbe hinausläuft). Das war auf jeden Fall in der Vergangenheit der Fall, als die sogenannten Anthropologen ihr Bestes taten, die Versklavung von sogenannten „rückständigen Rassen“ durch die Herabwürdigung ihrer Kultur zu rechtfertigen. Aber heute ist die Lage nicht viel besser, wenn bestimmte Schulen versuchen, den Bogen in die andere Richtung zu überspannen.
Es ist wahr, dass die Imperialisten die Kulturen der „rückständigen Völker“ in Afrika, Asien usw. absichtlich schlechtgemacht oder sogar geleugnet haben. Der englische Dichter und Verteidiger des Imperialismus Kipling (Autor des „Dschungelbuchs“) nannte sie „mindere Rassen ohne Gesetz“. Dieser Kulturimperialismus war zweifelsohne ein Versuch, die koloniale Versklavung von Millionen von Menschen zu rechtfertigen. Es ist auch wahr, dass die barbarischsten und unmenschlichsten Taten der Vergangenheit nichts im Vergleich zu den Schrecken sind, die unserem angeblich zivilisierten kapitalistischen System und seinem Pendant, dem Imperialismus, entspringen.
Es ist ein schreckliches Paradoxon: Je weiter die Menschheit ihre Produktionskapazitäten entwickelt, je spektakulärer die Fortschritte in der Wissenschaft und Technik sind, desto größer ist das Leid, der Hunger, die Unterdrückung, das Elend der Mehrheit der Weltbevölkerung. Das wird sogar von Befürwortern des gegenwärtigen Systems anerkannt. Aber sie tun nichts, um daran etwas zu ändern. Das können sie auch nicht, weil der Grund für die aktuelle Sackgasse der Gesellschaft genau das System selbst ist, das sie verteidigen. Aber nicht nur die Bürgerlichen weigern sich, die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das Gleiche gilt für viele, die sich als links und radikal sehen. Es gibt zum Beispiel einige gutmeinende Menschen, die behaupten, die Quelle all unserer Probleme liege im Wachstum von Wissenschaft, Technik und Industrie und dass es gut wäre, wenn wir zu einer vorkapitalistischen Existenzweise zurückkehren würden!
Die Viktorianer hatten eine sehr einseitige Sicht der Geschichte, die sie als eine Art Siegeszug, einen unaufhaltsamen Vormarsch in Richtung Fortschritt und Aufklärung sahen – angeführt natürlich vom englischen Kapitalismus. Diese Vorstellung diente auch als praktische Rechtfertigung für Imperialismus und Kolonialismus. Die „zivilisierten“ Briten gingen nach Indien und Afrika, bewaffnet mit der Bibel (und auch einer Menge von Kriegsschiffen, Kanonen und Gewehren), um den unwissenden Eingeborenen die Freuden der westlichen Kultur näherzubringen. Diejenigen, die sich für die feinen Seiten der britischen (und auch der belgischen, niederländischen, französischen und deutschen) Kultur nicht begeistern konnten, wurden schnell mit Kugeln und Bajonetten „erzogen“.
Heutzutage hat die Bourgeoisie eine ganz andere Geisteshaltung. Angesichts der immer deutlicher werdenden globalen Krise des Kapitalismus ist sie in Unsicherheit, Pessimismus und Angst vor der Zukunft verfallen. Die alten Lieder über die Unvermeidlichkeit des menschlichen Fortschritts scheinen mit der harten Realität der Gegenwart nicht mehr übereinzustimmen. Schon das Wort „Fortschritt“ ruft zynischen Spott hervor. Und das ist kein Zufall. Die Menschen beginnen zu begreifen, dass der Fortschritt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts tatsächlich zum Stillstand gekommen ist. Aber das spiegelt nur die Sackgasse des Kapitalismus wider, der sein Fortschrittspotenzial längst ausgeschöpft hat und nur noch ein Hindernis für die menschliche Entwicklung darstellt. In diesem Sinne – und nur in diesem Sinne – kann man sagen, dass es unmöglich ist, von „Fortschritt“ zu sprechen.
Das ist nicht das erste Mal, dass wir eine solche Tendenz beobachten können. In der langen Niedergangsperiode, die dem Untergang des Römischen Reiches vorausging, hatten viele den Eindruck, dass das Ende der Welt nahte. Diese Vorstellung war im Christentum besonders stark ausgeprägt und bildet den gesamten Inhalt des Buchs der Offenbarung des Johannes (die Apokalypse). Die Menschen waren wirklich davon überzeugt, dass die Welt untergehen würde. In Wirklichkeit ging nur ein bestimmtes sozioökonomisches System unter – das System der Sklaverei, das an seine Grenzen gestoßen war und nicht mehr in der Lage war, die Produktivkräfte wie zuvor zu entwickeln.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich im späteren Mittelalter beobachten, als dieselbe Idee des „Endes der Welt“ in Mode war. Menschen schlossen sich massenhaft den Sekten der Flagellanten (Geißler) an, die durch Europa zogen und sich selbst auspeitschten und folterten, um die Sünden der Menschheit in Vorbereitung auf den Tag des Jüngsten Gerichts zu sühnen. Auch hier war es nicht die Welt, die unterging, sondern das Feudalsystem, das sich überlebt hatte und schließlich von der aufstrebenden Bourgeoisie gestürzt wurde.
Die Tatsache, dass eine bestimmte sozioökonomische Organisationsform ihre historische Zweckmäßigkeit überlebt hat und zu einem reaktionären Hindernis für den Fortschritt der menschlichen Spezies geworden ist, bedeutet jedoch nicht, dass Fortschritt an sich ein nutzloses Konzept ist. Es bedeutet nicht, dass es in der Vergangenheit keinen Fortschritt gegeben hat (auch im Kapitalismus) oder dass es in der Zukunft keinen Fortschritt geben kann – sobald der Kapitalismus irgendwann abgeschafft ist. Diese Idee, die auf den ersten Blick ausgesprochen vernünftig wirkt, stellt sich also als eine verhüllte Verteidigung des Kapitalismus gegen den Sozialismus heraus. Das kleinste Zugeständnis an eine solche Idee würde bedeuten, eine konsequente revolutionäre Position aufzugeben und eine reaktionäre einzunehmen.
Historischer Materialismus
Die Gesellschaft verändert sich ständig. Die Geschichtswissenschaft versucht, diese Veränderungen zu sammeln und sie zu erklären. Aber was sind die Gesetze, die den historischen Wandel bestimmen? Gibt es solche Gesetze überhaupt? Wenn nicht, dann wäre die menschliche Geschichte unmöglich zu verstehen, wie sowohl Gibbon als auch Henry Ford glaubten. Die Marxisten schließen sich dieser Ansicht aber nicht an. So wie die Evolution der Lebewesen inneren Gesetze folgt, die erklärt werden können und auch erklärt wurden, zuerst von Darwin und in jüngerer Zeit durch die rasanten Fortschritte in der Genetik, so hat auch die Evolution der menschlichen Gesellschaft ihre eigenen inneren Gesetze, die von Marx und Engels erklärt wurden.
Diejenigen, die die Existenz von Entwicklungsgesetzen in der menschlichen Gesellschaft abstreiten, betrachten die Geschichte immer von einem subjektiven und moralistischen Standpunkt aus. Wie Gibbon (allerdings ohne dessen Begabung) schütteln sie den Kopf über die irrsinnige Gewalt, den „unmenschlichen Kampf von Mann gegen Mann“ (und Frau) und so weiter und so fort. An die Stelle einer wissenschaftlichen Sicht auf die Geschichte tritt die Weltanschauung eines Pfaffen. Wir brauchen aber keine Moralpredigt, sondern rationale Einsicht. Über die einzelnen Fakten hinaus gilt es, breitere Tendenzen zu erkennen, die Übergänge von einem Gesellschaftssystem zu einem anderen, und die grundlegenden Triebkräfte herauszuarbeiten, die diese Übergänge bestimmen.
Wendet man die Methode des dialektischen Materialismus auf die Geschichte an, so wird sofort klar, dass die menschliche Geschichte ihre eigenen Gesetze hat und dass es folglich möglich ist, sie als Prozess zu begreifen. Der Aufstieg und Niedergang verschiedener sozioökonomischer Formationen lässt sich wissenschaftlich anhand ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit erklären, die Produktionsmittel zu entwickeln, damit den Horizont der menschlichen Kultur zu erweitern und die Herrschaft des Menschen über die Natur zu stärken.
Der Marxismus hält fest, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft im Laufe der Jahrmillionen einen Fortschritt darstellt, der jedoch niemals geradlinig verlaufen ist, wie es sich die Viktorianer (die eine vulgäre und undialektische Auffassung von Entwicklung hatten) fälschlicherweise vorgestellt haben. Der historische Materialismus geht davon aus, dass die letztendliche Grundlage der menschlichen Entwicklung die Entwicklung der Produktivkräfte ist. Das ist eine äußerst wichtige Schlussfolgerung, denn nur so können wir zu einer wissenschaftlichen Auffassung der Geschichte gelangen.
Vor Marx und Engels wurde die Geschichte von den meisten Menschen als eine Reihe von zusammenhangslosen Ereignissen oder, um einen philosophischen Begriff zu verwenden, von „Zufällen“ betrachtet. Es gab keine allgemeine Erklärung dafür, die Geschichte hatte keine innere Gesetzmäßigkeit. Sobald man diese Sichtweise akzeptiert, ist die einzige treibende Kraft historischer Ereignisse die Rolle von Individuen – „großen Männern“ (oder Frauen). Letztendlich läuft es also auf eine idealistische und subjektivistische Auffassung des historischen Prozesses hinaus. Das war der Standpunkt der utopischen Sozialisten, die trotz ihrer enormen Erkenntnisse und ihrer eindringlichen Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung die grundlegenden Gesetze der historischen Entwicklung nicht verstanden haben. Für sie war der Sozialismus nur eine „gute Idee“, etwas, das man sich genauso gut vor tausend Jahren oder morgen früh hätte ausdenken können. Wäre er vor tausend Jahren erfunden worden, wäre der Menschheit eine Menge Ärger erspart geblieben!
Es waren Marx und Engels, die zum ersten Mal erklärten, dass die gesamte menschliche Entwicklung im Grunde von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängt, und damit das Studium der Geschichte auf eine wissenschaftliche Grundlage stellten. Die erste Voraussetzung für die Wissenschaft ist es nämlich, dass wir über das Besondere hinwegsehen und zu allgemeinen Gesetze gelangen können. Die frühen Christen waren beispielsweise Kommunisten (auch wenn ihr Kommunismus utopischer Natur war und auf Konsum und nicht auf Produktion beruhte). Ihre frühen kommunistischen Experimente führten zu nichts und konnten auch zu nichts führen, weil die Entwicklung der Produktivkräfte zu jener Zeit die Entwicklung eines echten Kommunismus nicht zuließ.
In jüngster Zeit ist es auch in einigen „linken“ intellektuellen Kreisen populär geworden, die Existenz von Fortschritt in der Geschichte zu leugnen. Zum Teil stellen diese Tendenzen eine gesunde Reaktion gegen die Art von Kulturimperialismus und „Eurozentrismus“ dar, die ich bereits erwähnt habe. Es wird gesagt, dass jede menschliche Kultur genauso zulässig ist wie jede andere. Der fortschrittliche europäische Intellektuelle glaubt auf diese Weise die systematische Vergewaltigung und Ausplünderung, die unsere Vorfahren an den Völkern der ehemaligen Kolonien begangen haben, in gewisser Weise „kompensiert“ zu haben – eine Ausplünderung, die natürlich bis heute anhält, wenn auch unter einem anderen Deckmantel.
Die Absichten dieser Leute mögen löblich sein, aber ihre Prämissen sind völlig falsch. Erstens ist es den Millionen von unterdrückten und ausgebeuteten Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika ein schwacher Trost, dass ihre alten Kulturen nun von europäischen Intellektuellen wiederentdeckt wurden und von diesen hoch geschätzt werden. Es braucht keine symbolischen Gesten und radikalen Worte, sondern einen echten Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus auf der ganzen Welt. Damit dieser Kampf jedoch erfolgreich sein kann, muss er auf eine solide Grundlage gestellt werden. Die Vorbedingung für den Erfolg ist ein unerbittlicher Kampf für die marxistische Theorie. Natürlich ist es notwendig, mit rassistischen und imperialistischen Vorurteilen aller Art aufzuräumen und sie zu bekämpfen. Aber im Kampf gegen eine falsche Idee muss man sich davor hüten, zu weit zu gehen, denn eine richtige Idee verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn man sie ins Extrem treibt.
Die menschliche Geschichte ist nicht eine ununterbrochene Linie in Richtung des Fortschritts. Neben dem Aufstieg gibt es auch den Abstieg. Es gab Epochen in der Geschichte, in denen die Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen zurückgeworfen, der Fortschritt unterbrochen und die Zivilisation und Kultur untergraben wurde. So war es in Europa nach dem Untergang des Römischen Reiches, in der Periode, die zumindest in der englischen Sprache als „dunkles Zeitalter“ bekannt ist. In letzter Zeit neigen einige Wissenschaftler dazu, die Geschichte so umzuschreiben, dass die Barbaren in einem günstigeren Licht erscheinen. Das ist nicht „wissenschaftlicher“ oder „objektiver“, sondern einfach nur kindisch.
Wie man die Frage nicht stellt
Vor kurzem strahlte der britische Fernsehsender Channel Four eine dreiteilige Serie mit dem Titel „Barbarians“ aus, die vom Anthropologen Richard Rudgley (Autor von „Lost Civilisations of the Stone Age“) moderiert wurde. Nachdem ich den zweiten Teil der Serie gesehen habe, der von den Angeln und Sachsen handelte (den germanischen Stämmen, die auf die britischen Inseln eindrangen), konnte ich mir ein recht gutes Bild von Rudgleys zentraler These machen. Er argumentiert, dass sie eine Gesellschaft hinterließen, die zivilisierter war als die, die sie eroberten. „Die Abhängigkeit des Römischen Reiches von der Sklaverei wurde ersetzt durch eine gerechtere Gesellschaft, in der das Handwerk gefördert und geschätzt wurde“, so Rudgley.
Im Allgemeinen glauben die Leute, dass das römische Vermächtnis in Großbritannien eine zivilisierte Gesellschaft war, die später von den barbarischen Stämmen, die während des “dunklen Zeitalters“ einfielen, verroht wurde. So war es nicht, sagt Rudgley: „Auf meiner Reise zum Verständnis des dunklen Zeitalters habe ich herausgefunden, dass die Wurzeln vieler Dinge, die ich schätze, nicht in der römischen Zivilisation, sondern in der Welt, die die Barbaren auf den Ruinen des Römischen Reiches erbaut haben, liegen.“
Rudgley hat eine verblüffende Entdeckung gemacht: Die Sachsen wussten, wie man Schiffe baut – und zwar schnelle Schiffe. Er argumentiert, dass die Barbaren enorme Talente und Fähigkeiten in dieses Land brachten. Er sagt: „Ihre Fertigkeiten waren enorm. Man muss sich nur einige der Metallarbeiten, Holzarbeiten und Schmuckstücke aus dieser Zeit ansehen.“ Aber die Römer konnten nicht nur Schiffe bauen, sondern auch Straßen, Aquädukte, Städte und vieles mehr. Rudgley übersieht das klitzekleine Detail, dass diese Dinge von den Barbaren zerstört oder vernachlässigt wurden und dass dies zu einem katastrophalen Zusammenbruch des Handels und einer rasanten Rückentwicklung der Produktivkräfte und der Kultur führte, die um tausend Jahre zurückgeworfen wurde.
Er zitiert anerkennend den Schwertschmiedeexperten Hector Cole, der sagt: „Die sächsischen Schwertschmiede waren Spezialisten. Sie haben 600 Jahre vor den Japanern gefaltete Klingen hergestellt.“ Daran gibt es keinen Zweifel. Alle Barbarenstämme dieser Zeit waren Experten in der Kriegsführung und bewiesen dies, indem sie durch die römische Verteidigung schnitten wie ein heißes Messer durch weiche Butter. Die Römer des spätrömischen Reichs begannen sogar, einige der militärischen Strategien der Barbaren nachzumachen und übernahmen den von den Hunnen perfektionierten Kurzbogen. Doch all das beweist keineswegs, dass die Barbaren auf einem vergleichbaren Entwicklungsstand wie die Römer waren – und schon gar nicht auf einem höheren.
Rudgley erklärt, dass die Überfahrten der Angeln und Sachsen nach Britannien keine Masseninvasion unter Führung von Kriegern waren, sondern kleine Gruppen friedlicher Migranten auf der Suche nach neuem Siedlungsraum. Hier bringt er zwei Dinge hoffnungslos durcheinander. Zweifellos waren die Barbaren auf der Suche nach neuem Raum zum Siedeln. Es gibt wahrscheinlich eine Vielzahl von Gründen für die Völkerwanderungen im fünften Jahrhundert. Eine Theorie besagt, dass eine Klimaveränderung den Meeresspiegel an den Küsten der heutigen Niederlande und Norddeutschlands ansteigen ließ und diese Gebiete damit unbewohnbar machte. Die traditionellere Sicht ist, dass sie von anderen Stämmen bedrängt wurden, die aus dem Osten einwanderten. Höchstwahrscheinlich war es eine Kombination aus diesen und anderen Faktoren. Im Allgemeinen können die Ursachen für solche Massenwanderungen als historische Zufälle bezeichnet werden. Was zählt, sind die geschichtlichen Resultate. Und genau diese sind umstritten.
Die ersten Kontakte zwischen den Römern und den Barbaren waren nicht unbedingt gewalttätiger Natur. Entlang der Ostgrenze wurde jahrhundertelang ein reger Handel betrieben, der zu einer fortschreitenden Romanisierung der in der Nähe des Reiches lebenden Stämme führte. Viele wurden zu Söldnern und dienten in den römischen Legionen. Alarich, der als Anführer der Goten als erstes in Rom einmarschierte, war nicht nur ein ehemaliger römischer Soldat, sondern auch ein Christ (wenn auch ein Arianer). Es ist auch ziemlich sicher, dass die ersten Sachsen, die nach Großbritannien kamen, friedliche Händler, Söldner und Siedler waren. Darauf deutet die Überlieferung hin, die besagt, dass sie nach dem Abzug der römischen Legionen von dem romanisierten britischen „König“ Vortigern nach Großbritannien eingeladen wurden.
Doch an diesem Punkt bricht Rudgleys Analyse zusammen. Er hat völlig übersehen, dass der Handel zwischen zivilisierten Nationen und Barbaren stets mit Piraterie, Spionage und Krieg verbunden war. Die barbarischen Händler machten sich ein genaues Bild von den Stärken und Schwächen der Völker, mit denen sie in Kontakt kamen. Wenn es Anzeichen für Schwäche gab, folgten auf die „friedlichen“ Handelsbeziehungen bewaffnete Banden auf der Suche nach Beute und Eroberung. Es genügt, das Alte Testament zu lesen, um zu sehen, dass genau so das Verhältnis zwischen den nomadischen Hirtenstämmen Israels und den alten Kanaanitern aussah, die als zivilisierte Stadtvölker auf einer höheren Entwicklungsstufe standen.
Die Tatsache, dass die Römer auf einem höheren kulturellen Niveau standen als die Barbaren, lässt sich leicht durch die folgende Tatsache belegen. Zwar gelang es den Barbaren, die Römer zu bezwingen, doch wurden sie selbst relativ schnell absorbiert, verloren sogar ihre eigene Sprache und sprachen schließlich einen Dialekt des Lateinischen. So waren die Franken, die dem heutigen Frankreich ihren Namen gaben, ein germanischer Stamm, der eine mit dem heutigen Deutsch verwandte Sprache sprach. Das Gleiche geschah mit den germanischen Stämmen, die in Spanien und Italien einfielen.
Die einzige auffallende Ausnahme von dieser Regel scheint die Tatsache zu sein, dass die Angeln und Sachsen, die in Britannien einfielen, nicht von den fortgeschritteneren keltischen Romano-Briten absorbiert wurden. Die englische Sprache ist im Wesentlichen eine germanische Sprache (mit einer späteren Beimischung von normannischem Französisch ab dem 11. Jahrhundert). Tatsächlich ist die Anzahl der Wörter mit keltischem Ursprung in der englischen Sprache unbedeutend, während es im Spanischen eine sehr große Anzahl arabischer Wörter gibt. Der Grund dafür ist, dass die Araber in Spanien auf einem viel höheren kulturellen Niveau standen als die spanischsprachigen Christen, die ihr Land eroberten. Die einzig denkbare Erklärung ist, dass die angelsächsischen Barbaren (die Herr Rudgley als sehr nette, friedliche Menschen beschreibt) einen Völkermord an den keltischen Völkern begangen haben müssen, deren Land sie in blutigen Eroberungskriegen an sich rissen.
Sentimentalität oder Wissenschaft?
Wir können also eine klare Regel aufstellen: Ein eroberndes Volk, dessen Kultur auf einem niedrigeren Niveau steht als die des Volkes, das im eroberten Gebiet lebt, wird schließlich von der eroberten Kultur absorbiert werden und nicht umgekehrt. Man könnte einwenden, dass dies deshalb geschah, weil die Zahl der Invasoren relativ gering war. Aber das hält keiner Überprüfung stand. Erstens waren, wie Rudgley selbst argumentiert, sehr viele Menschen an diesen großen Wanderungen beteiligt – ganze Völker sogar. Zweitens gibt es viele andere historische Beispiele, die das Gegenteil beweisen.
Die Mongolen, die in Indien einfielen und die Mogul-Dynastie gründeten, die bis zur Eroberung Indiens durch die Briten anhielt, wurden vollständig von der fortschrittlicheren indischen Lebensweise absorbiert. Genau das Gleiche geschah in China. Als die Briten Indien eroberten, wurden sie jedoch nicht von der einheimischen Kultur absorbiert, sondern zerschlugen, wie Marx erklärt, die alte indische Gesellschaft, die Jahrtausende überdauert hatte. Wie war dies möglich? Nur weil Großbritannien, wo sich das kapitalistische System rapide entwickelte, auf einer höheren Entwicklungsstufe stand als Indien.
Man kann natürlich sagen, dass die Inder ein sehr hohes kulturelles Entwicklungsniveau hatten, bevor die Briten aufgetaucht sind. Obwohl die europäischen Eroberer auf die Inder als zumindest Halbbarbaren herabgeschaut haben, entspricht dies doch in keiner Weise den Tatsachen. Auf Grundlage der sehr alten asiatischen Produktionsweise erreichte die indische Kultur ein erstaunliches Niveau. Ihre Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, der Bildhauerei, der Architektur, der Musik und der Poesie waren so brillant, dass sie sogar bei den kultivierteren Vertretern des britischen Empires Bewunderung hervorriefen.
Ebenso gut kann man die angeblich zivilisierten Briten für die äußerst brutale Art und Weise anklagen, mit der sie die Inder durch eine Mischung aus Betrügereien, Lügen, Morden und Massakern unterdrückten. Das ist alles richtig, aber es geht völlig am Thema vorbei. Die eigentliche Frage, die man sich stellen muss, lautet: Warum wurden die Briten nicht von der indischen Kultur absorbiert, wie es bei den Mongolen der Fall war? Schließlich ist es in diesem Fall wahr, dass die Zahl der sich in Indien ansiedelnden Briten im Vergleich zu den Millionenmassen auf diesem riesigen Subkontinent unbedeutend war. Doch nach zweihundert Jahren waren es die Inder, die Englisch lernten, und nicht umgekehrt.
Heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Abzug der Briten, ist Englisch immer noch die Amtssprache Indiens und die Lingua Franca (Verkehrssprache) aller gebildeten Inder und Pakistani. Wie ist das zu erklären? Nur durch die Tatsache, dass der Kapitalismus eine höhere Entwicklungsstufe darstellt als der Feudalismus oder die asiatische Produktionsweise. Das ist die entscheidende Tatsache. Sich darüber zu beschweren, gegen den „Kulturimperialismus“ zu protestieren usw. mag einen gewissen Wert im Bereich der Agitation haben (es gibt absolut keinen Zweifel am wahrhaft barbarischen Verhalten der Imperialisten im Allgemeinen). Aber aus wissenschaftlicher Sicht bringen uns solche Kommentare nicht sehr weit.
Die menschliche Geschichte durch eine sentimentale Linse zu betrachten, ist mehr als nutzlos. Die Geschichte kennt keine Moral und funktioniert nach ganz anderen Gesetzen. Wer die Geschichte verstehen will, muss zunächst einmal alle moralischen Elemente beiseitelassen, denn es gibt keine überhistorische Moral – keine „allgemeine Moral“ – sondern nur bestimmte Moralvorstellungen, die für bestimmte historische Epochen und bestimmte sozioökonomische Formationen gelten und außerhalb dieser keine Bedeutung haben.
Aus wissenschaftlicher Sicht macht es daher keinen Sinn, die moralischen Verhaltensstandards z.B. der Römer und der Barbaren, der Briten und der Inder, der Mongolen und der Chinesen zu vergleichen. Barbarische und unmenschliche Praktiken hat es in allen Epochen der Geschichte gegeben, und wenn man dies als Maßstab für die Beurteilung der Menschheit nimmt, müsste man die pessimistischsten Schlussfolgerungen ziehen (was viele getan haben). In der Tat könnte man argumentieren, dass, je höher der Entwicklungsgrad ist, desto größer auch die Möglichkeit ist, einer großen Anzahl von Menschen schreckliches Leid zuzufügen. Der Zustand der Welt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts scheint diese düstere Einschätzung der menschlichen Geschichte zu bestätigen.
Manche haben daraus den Schluss gezogen, dass das Problem vielleicht darin besteht, dass es zu viel Entwicklung, zu viel Fortschritt, zu viel Zivilisation gegeben hat. Wären wir nicht glücklicher, wenn wir in einer einfachen landwirtschaftlichen Gemeinde leben würden – natürlich streng ökologisch bewirtschaftet? Wenn wir unsere eigenen Felder (ohne Traktoren) bestellen, unsere eigene Kleidung nähen, unser eigenes Brot backen usw.? Wäre es also nicht besser, wenn wir zurückkehren würden – in die Barbarei?
Angesichts des schrecklichen Zustands der Gesellschaft und der Welt im Kapitalismus ist es leicht nachzuvollziehen, dass es Menschen gibt, die irgendwie der unangenehmen Realität entfliehen und die Uhr auf ein goldenes Zeitalter zurückstellen wollen. Das Problem ist, dass ein solches Zeitalter nie existiert hat. Diese Leute (meist aus der Mittelschicht), die großspurig von den Wundern des Lebens in der guten alten Zeit der Agrarkommunen sprechen, haben keine Ahnung, wie hart das Leben damals war. Lasst uns aus dem Manuskript eines mittelalterlichen Mönchs zitieren, der im Gegensatz zu unseren modernen New-Age-Fanatikern wusste, wie das Leben im Feudalismus wirklich war. Hier ist ein Auszug eines mittelalterlichen Autors, einem Mönch namens Aelfric, der ein Buch verfasste, um damit in Winchester lateinische Gesprächsführung zu lehren:
Meister: Was tust du, Pflüger, wie machst du deine Arbeit?
Schüler: Herr, ich arbeite sehr hart. Ich gehe im Morgengrauen hinaus, um die Ochsen auf das Feld zu treiben und sie vor den Pflug zu spannen. Wie hart der Winter auch sein mag, ich wage es nicht, zu Hause zu bleiben, aus Angst vor meinem Herrn; und nachdem ich die Ochsen eingespannt und die Pflugschar und das Pflugmesser am Pflug befestigt habe, muss ich jeden Tag einen Morgen oder mehr pflügen.
M: Hast du jemanden mit dir?
S: Ich habe einen Jungen, der die Ochsen mit dem Stachel treibt, und der ist jetzt heiser vom Schreien und verkühlt.
M: Welche anderen Arbeiten musst du unter Tags erledigen?
S: Eine ganze Menge mehr. Ich muss den Ochsen im Stall Heu geben, ihnen Wasser geben und den Mist nach draußen tragen.
M: Und ist das harte Arbeit?
S: Ja, es ist harte Arbeit, weil ich nicht frei bin.
Ein paar Wochen seelisch zermürbender Knochenarbeit dieser Art wären sicherlich ein garantiertes Heilmittel für die Illusionen selbst des eingefleischtesten Romantikers! Schade, dass wir zu diesem Zweck nicht eine kurze Reise mit einer Zeitmaschine bestellen können.
Was ist Barbarei?
Das Wort „Barbarei“ wird in verschiedenen Zusammenhängen für unterschiedliche Dinge verwendet. Es kann sogar eine einfache Beleidigung sein, wenn wir damit etwa das barbarische Verhalten bestimmter übereifriger Fußballfans bezeichnen. Für die alten Griechen (die das Wort zuerst prägten) bedeutete es einfach „jemand, der die Sprache nicht spricht“ (also Griechisch). Für Marxisten ist es jedoch in der Regel das Stadium zwischen dem Urkommunismus und der frühen Klassengesellschaft, in dem sich Klassen und mit ihnen der Staat zu bilden beginnen. Die Barbarei ist eine Übergangsphase, in der sich das alte Gemeinwesen bereits in einem Zustand des Verfalls befindet und in der die Klassen und der Staat gerade erst entstehen.
Wie alle anderen menschlichen Gesellschaften (einschließlich der Wildheit, der Phase der Jäger- und Sammlergesellschaften auf urkommunistischer Basis, die die wunderbare Höhlenkunst Frankreichs und Nordspaniens hervorbrachten), besaßen die Barbaren zweifellos eine Kultur und waren in der Lage, sehr schöne und anspruchsvolle Kunstgegenstände herzustellen. Ihre Kriegstechniken zeigen, dass sie auch zu außergewöhnlichen organisatorischen Leistungen fähig waren, was sich bei ihrem Sieg über die römischen Legionen zeigte.
Die Epoche der Barbarei repräsentiert einen sehr großen Teil der Menschheitsgeschichte und lässt sich in mehrere mehr oder weniger voneinander abgetrennte Abschnitte unterteilen. Im Allgemeinen ist sie durch den Übergang von der Jäger- und Sammlertätigkeit zur Viehzucht und zum Ackerbau gekennzeichnet, d.h. von der paläolithischen Wildheit, über die neolithische Barbarei bis hin zur höheren Stufe der Barbarei in der Bronzezeit, die an der Schwelle zur Zivilisation steht. Der entscheidende Wendepunkt war das, was Gordon Childe die neolithische Revolution nannte, die einen großen Sprung in der Entwicklung der menschlichen Produktivkraft und damit der Kultur darstellte. Childe sagt dazu Folgendes:
„Unsere Schuld gegenüber der schriftlosen Barbarei wiegt schwer. Jede einzelne kultivierte Speisepflanze von Bedeutung wurde von irgendeiner namenlosen barbarischen Gesellschaft entdeckt.“[4]
Das ist die Keimzelle, aus der sich die Städte, die Schrift, die Industrie und alles andere entwickelt haben, was die Grundlage für das bildet, was wir Zivilisation nennen. Die Wurzeln der Zivilisation selbst liegen also in der Barbarei, und noch mehr in der Sklaverei. Die Entwicklung der Barbarei mündet in der Sklaverei oder in der Gesellschaftsform, die Marx die asiatische Produktionsweise nannte.
Es wäre falsch, den Beitrag der barbarischen Völker zur menschlichen Entwicklung zu leugnen. Sie spielten auf einer bestimmten Stufe eine entscheidende Rolle. Sie besaßen eine Kultur, und zwar eine für die Zeit, in der sie lebten, fortschrittliche. Aber die Geschichte steht nicht still. Die weitere Entwicklung der Produktivkräfte führte zu neuen sozioökonomischen Formationen, die auf einer qualitativ höheren Stufe standen. Unsere moderne Zivilisation führt ihre jetzige Existenz auf die kolossalen Errungenschaften Ägyptens, Mesopotamiens und des Indus-Tals zurück, und noch mehr auf jene Griechenlands und Roms.
Obwohl die Marxisten die Existenz einer barbarischen Kultur nicht leugnen, haben sie kein Problem festzustellen, dass diese in der Geschichte von den Kulturen Ägyptens, Griechenlands und Roms abgelöst wurde, die sich aus der Barbarei entwickelten, sie überholten und verdrängten. Alles andere wäre eine Leugnung der offensichtlichen Tatsachen.
Die Rolle der Sklaverei
Betrachtet man den gesamten Prozess der menschlichen Geschichte und Vorgeschichte, so fällt zunächst die außerordentliche Langsamkeit auf, mit der sich unsere Spezies entwickelt hat. Die allmähliche Entwicklung des Menschen bzw. der menschenähnlichen Lebewesen weg vom tierischen Sein hin zu einer wirklich menschlichen Existenz vollzog sich über Millionen von Jahren. In der ersten Periode, die wir als Wildheit bezeichnen und die sich durch einen extrem niedrigen Entwicklungsstand der Produktionsmittel, die Herstellung von Steinwerkzeugen und eine Jäger-und-Sammler-Lebensweise auszeichnet, bleibt die Entwicklungslinie über einen sehr langen Zeitraum praktisch flach. Sie beginnt sich gerade in der als Barbarei bezeichneten Periode zu beschleunigen (insbesondere mit der neolithischen Revolution), als die ersten stabilen Gemeinschaften zu Städten wurden (wie Jericho, das auf etwa 7000 v. Chr. zurückgeht).
Das wirklich explosive Wachstum fand jedoch in Ägypten, Mesopotamien, dem Indus-Tal (und auch China), Persien, Griechenland und Rom statt. Mit anderen Worten: Die Entwicklung der Klassengesellschaft fällt mit einem massiven Aufschwung der Produktivkräfte und damit der menschlichen Kultur zusammen, die eine nie dagewesene Höhe erreichte. Hier ist nicht der richtige Ort, um alle Entdeckungen der, sagen wir, Griechen und Römer aufzuzählen. Es gibt die berühmte Szene in dem Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“, in der ein etwas übereifriger „Freiheitskämpfer“ die rhetorische Frage stellt: „Was haben die Römer je für uns getan?“ Zu seiner großen Verärgerung erhält er eine lange Liste von Antworten. Wir sollten nicht denselben Fehler machen wie dieser fiktive Charakter!
Man könnte einwenden, dass Griechenland und Rom ihre Basis in der Sklaverei hatten, einer abscheulichen und unmenschlichen Einrichtung. Die großartigen Errungenschaften des antiken Athens beruhten alle auf der Sklaverei. Seine Demokratie – die seinerzeit weitestgehende der Welt – war die Demokratie einer Minderheit von freien Bürgern. Die Mehrheit – die Sklaven – hatte überhaupt keine Rechte. Kürzlich erhielt ich einen Brief, der die Sklavenhaltergesellschaft mit der Barbarei vergleicht und sie dabei in ein ungünstiges Licht rückt. Ein Auszug:
„Eigentlich sind primitive Gesellschaften die unbarbarischsten der Weltgeschichte. Zum Beispiel waren/sind ihre Kriege meist rituell und forderten fast keine Opfer. Die Barbarei des Nationalsozialismus und der Balkankriege ist ein typisches Merkmal des Kapitalismus, so wie der Feudalismus oder die Sklavenhaltergesellschaft ihre typischen barbarischen Züge hatten. Die barbarischsten Umstände der Geschichte sind alle auf die eine oder andere Weise Folgen der Klassengesellschaft.“
In den obigen Zeilen wird die Frage des Krieges nicht in einem materialistischen, sondern in einem moralistischen Sinne gestellt. Der Krieg war schon immer barbarisch. Es geht darum, Menschen auf möglichst effiziente Weise zu töten. Man kann ohne weiteres zustimmen, dass die Kriege der primitiven Gesellschaften viel weniger Menschen töteten als die modernen Kriege. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass die Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu einer Perfektionierung der menschlichen Produktivität geführt hat, nicht nur in der Industrie und Landwirtschaft, sondern auch auf dem Schlachtfeld. Engels erklärt im Anti-Dühring, wie die Geschichte der Kriegsführung nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktionsmittel verstanden werden kann. Die Römer waren viel effizienter im Töten von Menschen als die Barbaren (zumindest in der Periode des Aufstiegs der römischen Macht), und wir sind in diesem Bereich, wie auch in vielen anderen, unvergleichlich effizienter als die Römer.
Marxisten können die Geschichte nicht unter dem Gesichtspunkt der Moral betrachten. So etwas wie eine überhistorische Moral gibt es nicht. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Moral, Religion, Kultur usw., die einem bestimmten Entwicklungsstand entsprechen, und, zumindest in der Periode, die wir Zivilisation nennen, auch den Interessen einer bestimmten Klasse. Ob ein bestimmter Krieg gut, schlecht oder gleichgültig war, lässt sich nicht anhand der Zahl der Opfer und schon gar nicht von einem abstrakten moralischen Standpunkt aus beurteilen. Wir mögen Kriege im Allgemeinen scharf verurteilen, aber eines lässt sich nicht leugnen: Im Laufe der gesamten Menschheitsgeschichte wurden alle ernsten Fragen letztlich auf diese Weise gelöst. Das gilt sowohl für die Konflikte zwischen Nationen (Kriege) als auch für die Konflikte zwischen Klassen (Revolutionen).
Auch kann unsere Haltung gegenüber einer bestimmten Gesellschaftsformation und ihrer Kultur nicht von moralischen Erwägungen bestimmt werden. Vom Standpunkt des historischen Materialismus aus ist es völlig gleichgültig, dass einige Barbaren (zu denen, wie es scheint, auch meine eigenen Vorfahren, die antiken Kelten, gehörten) Kopfjäger waren, die Menschen bei lebendigem Leib in großen Weidenstatuen verbrannten, um das Mittsommerfest zu feiern. Das ist ebenso wenig ein Grund, sie zu verurteilen, wie die Tatsache, dass sie auch schönen Schmuck herstellten und Gedichte rezitierten, Grund dafür ist, sie hochzuloben. Ob eine bestimmte sozioökonomische Formation historisch fortschrittlich ist oder nicht, hängt in erster Linie von ihrer Fähigkeit ab, die Produktivkräfte zu entwickeln. Das ist die tatsächliche materielle Grundlage, auf der alle menschliche Kultur entsteht und sich entwickelt.
Die Entwicklung der Menschheit war gerade deshalb lange Zeit so quälend langsam, weil der Entwicklungsstand der Produktivkräfte sehr niedrig war. Die eigentliche Entwicklung beginnt, wie oben erläutert, bereits in der Phase der Barbarei. Diese war zu ihrer Zeit eine fortschrittliche Entwicklung, wurde aber von einer höheren Form, nämlich der Sklaverei, überholt, negiert und aufgehoben. Der alte Hegel, dieser wunderbar tiefsinnige Denker, schreibt: „Es ist die Menschheit nicht sowohl aus der Knechtschaft befreit worden, als vielmehr durch die Knechtschaft.“[5]
Die Römer setzten rohe Gewalt ein, um andere Völker zu unterwerfen, verkauften ganze Städte in die Sklaverei, schlachteten Tausende von Kriegsgefangenen öffentlich im Zirkus ab, um sich zu amüsieren, und führten so raffinierte Hinrichtungsmethoden wie die Kreuzigung ein. Ja, all das ist vollkommen richtig. Und doch, wenn wir darüber nachdenken, woher unsere gesamte moderne Zivilisation, unsere Kultur, unsere Literatur, unsere Architektur, unsere Medizin, unsere Wissenschaft, unsere Philosophie, ja in vielen Fällen sogar unsere Sprache stammt, dann lautet die Antwort: aus Griechenland und Rom.
Es ist nicht schwer, eine lange Liste der römischen Verbrechen (oder der der Feudalherren oder der modernen Kapitalisten) aufzustellen. Man kann sie sogar, zumindest in mancher Hinsicht, als schlimmer bewerten als die Verbrechen der barbarischen Stämme, mit denen sie mehr oder minder dauerhaft im Kriegszustand waren. Das ist nicht neu. In der Tat kann man zahlreiche Passagen in den Schriften des römischen Geschichtsschreibers Tacitus lesen, der genau das tut. Aber es bringt uns in unserem Geschichtsverständnis keinen Schritt weiter. Das ist nur durch die konsequente Anwendung der Methode des historischen Materialismus möglich.
Der Aufstieg und Fall Roms
Obwohl die Arbeit des einzelnen Sklaven nicht sehr produktiv war (Sklaven müssen zur Arbeit gezwungen werden), produzierten große Massen an Sklaven, wie sie in den Minen und Latifundien (landwirtschaftliche Großbetriebe) im Rom der späten Republik und im Reich eingesetzt wurden, einen beträchtlichen Überschuss. In der Blütezeit des Imperiums waren Sklaven reichlich vorhanden und billig, und die Kriege Roms waren im Wesentlichen Sklavenjagden im großen Stil. Doch irgendwann stieß dieses System an seine Grenzen und trat in eine lange Phase des Niedergangs ein.
Die Anfänge einer Krise in Rom lassen sich bereits in der Spätphase der Republik beobachten, einer Zeit, die durch heftige soziale und politische Umwälzungen und Klassenkampf gekennzeichnet war. Von Beginn an gab es in Rom einen intensiven Kampf zwischen Arm und Reich. In den Schriften von Titus Livius und anderen wird ausführlich über die Kämpfe zwischen Plebejern und Patriziern berichtet, die in einem instabilen Kompromiss endeten. Später, als Rom sich durch den Sieg über ihren mächtigsten Rivalen Karthago bereits zur Herrin über das Mittelmeer gemacht hatte, kam es zu einem Ringen um die Aufteilung der Beute.
Tiberius Gracchus forderte, dass der Reichtum Roms unter den freien Bürgern aufgeteilt werden sollte. Sein Ziel war es, Italien zu einer Republik der Kleinbauern und nicht der Sklaven zu machen, aber er wurde von den Adligen und Sklavenhaltern besiegt. Auf lange Sicht war das eine Katastrophe für Rom. Die ruinierte Bauernschaft – das Rückgrat der Republik und ihrer Armee – wanderte nach Rom ab, wo sie ein Lumpenproletariat bildete, eine unproduktive Klasse, die von Zahlungen des Staates lebte. Trotz ihrer Verbitterung über die Reichen hatten sie mit ihnen doch ein gemeinsames Interesse an der Ausbeutung der Sklaven – der einzigen wirklich produktiven Klasse in der Zeit der Republik und des Kaiserreichs.
Der große Sklavenaufstand unter Spartakus war eine glorreiche Episode der antiken Geschichte. Der Nachhall dieses gigantischen Aufstands hallt durch die Jahrhunderte und ist noch immer eine Quelle der Inspiration. Das Schauspiel, wie sich diese unterdrücktesten aller Menschen mit den Waffen in der Hand erhoben und den Armeen der größten Weltmacht eine Niederlage nach der anderen zufügten, gehört zu den unglaublichsten Ereignissen der Geschichte. Wäre es ihnen gelungen, den römischen Staat zu stürzen, hätte sich der Lauf der Geschichte entscheidend verändert.
Natürlich ist es nicht möglich, genau zu sagen, wie das Ergebnis dessen ausgesehen hätte. Zweifelsohne wären die Sklaven befreit worden. Angesichts des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte hätte die allgemeine Tendenz nur in Richtung einer Art Feudalismus gehen können. Aber zumindest wären der Menschheit die Schrecken des finsteren Mittelalters erspart geblieben und es ist wahrscheinlich, dass die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung schneller verlaufen wäre.
Der Hauptgrund für das letztendliche Scheitern von Spartacus war die Tatsache, dass sich die Sklaven nicht mit dem Proletariat in den Städten zusammenschlossen. Solange letzteres den Staat weiter stützte, war ein Sieg der Sklaven unmöglich. Aber das römische Proletariat war, anders als das moderne Proletariat, keine produktive, sondern eine rein parasitäre Klasse, die von der Arbeit der Sklaven lebte und von ihren Herren abhängig war. Das Scheitern der römischen Revolution liegt in dieser Tatsache begründet.
Marx und Engels weisen darauf hin, dass der Klassenkampf schließlich entweder mit dem vollständigen Sieg einer der Klassen oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen endet. Das Schicksal der römischen Gesellschaft ist das deutlichste Beispiel für letzteres. Die Niederlage der Sklaven führte direkt zum Untergang des römischen Staates. Ohne ein freies Bauerntum war der Staat gezwungen, seine Kriege mit einem Söldnerheer zu führen. Der festgefahrene Klassenkampf führte zu einer Situation, die dem moderneren Phänomen des Bonapartismus ähnelt. Das römische Äquivalent ist das, was wir Cäsarismus nennen.
Der römische Legionär war nicht mehr der Republik, sondern seinem Befehlshaber gegenüber loyal – dem Mann, der ihm seinen Sold, seine Beute und ein Stück Land garantierte, wenn er sich zur Ruhe setzte. Die letzte Periode der Republik ist durch eine Verschärfung des Klassenkampfs gekennzeichnet, in dem keine Seite einen entscheidenden Sieg erringen kann. Infolgedessen beginnt der Staat (den Lenin als „Formation bewaffneter Menschen“ bezeichnete) sich immer mehr zu verselbständigen, sich über die Gesellschaft zu erheben und als letzter Schiedsrichter in den anhaltenden Machtkämpfen in Rom aufzutreten.
Eine ganze Reihe von militärischen Abenteurern tritt auf die Bühne: Marius, Crassus, Pompeius und schließlich Julius Cäsar, ein brillanter General, ein kluger Politiker und ein gewiefter Geschäftsmann, der die Republik faktisch beendete, obwohl er ihr gegenüber Lippenbekenntnisse ablegte. Mit seinem durch die militärischen Triumphe in Gallien, Spanien und Britannien errungenen Prestige begann er damit, die gesamte Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Obwohl er von einer konservativen Fraktion, die die Republik erhalten wollte, ermordet wurde, war das alte Regime dem Untergang geweiht.
In seinem Stück Julius Caesar schreibt Shakespeare über Brutus: „Er war der edelste Römer von allen“. Sicherlich mangelte es Brutus und den anderen Verschwörern, die Caesar töteten, nicht an persönlichem Mut und ihre Motive mögen nobel gewesen sein oder auch nicht. Aber sie waren hoffnungslose Utopisten. Die Republik, die sie zu verteidigen versuchten, war schon seit langem ein verwesender Leichnam. Nachdem Brutus und der Rest vom Triumvirat besiegt worden war, wurde die Republik formell anerkannt, und dieser Schein wurde vom ersten Kaiser, Augustus, aufrechterhalten. Sogar der Titel des Kaisers (lateinisch „imperator“) ist ein militärischer Titel, der erfunden wurde, um den für republikanische Ohren so anstößigen Titel „König“ zu vermeiden. Aber er war ein König, wenn auch nicht dem Namen nach.
Die Formen der alten Republik überlebten danach noch lange Zeit. Aber sie waren auch nur das – hohle Formen ohne wirklichen Inhalt, leere Hüllen, die am Ende vom Wind weggeweht werden konnten. Der Senat war ohne jede wirkliche Macht und Autorität. Julius Caesar hatte die öffentliche Meinung erschüttert, indem er einen Gallier zum Mitglied des Senats machte. Caligula setzte noch einen drauf, als er sein Pferd zum Senator machte. Niemand sah darin ein Problem, und wenn doch, dann sagte doch niemand etwas dagegen.
Die Kaiser „konsultierten“ weiterhin den Senat und schafften es sogar, dabei nicht laut loszulachen, wenn sie dies taten. In der Endphase des Reiches, als sich dessen Finanzen aufgrund eines Rückgangs in der Produktion, durch Korruption und Ausplünderung in einem beklagenswerten Zustand befanden, wurden wohlhabende Römer regelmäßig zum Senator „befördert“, um ihnen zusätzliche Steuern abzunehmen. Ein solcher Abgeordneter wurde, so ein römischer Humorist, widerwillig „in den Senat verbannt“.
In der Geschichte kommt es häufig vor, dass überholte Institutionen noch lange überleben können, nachdem ihre Existenzberechtigung bereits verschwunden ist. Sie fristen ein erbärmliches Dasein wie ein alter Mann, der sich an das Leben klammert, bis sie von einer Revolution hinweggefegt werden. Der Niedergang des Römischen Reiches dauerte fast vier Jahrhunderte. Das war kein ununterbrochener Prozess. Es gab Zeiten des Aufschwungs und sogar des Glanzes, aber die allgemeine Tendenz zeigte nach unten.
In solchen Zeiten herrscht ein allgemeines Unwohlsein vor. Die vorherrschende Stimmung ist von Skepsis, mangelndem Vertrauen und Pessimismus in Bezug auf die Zukunft geprägt. Die alten Traditionen, die Moral und die Religion – Dinge, die wie ein starker Kitt die Gesellschaft zusammenhielten – verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Anstelle der alten Religion suchen die Menschen nach neuen Göttern. In der Zeit seines Niedergangs wurde Rom von einer Flut religiöser Sekten aus dem Osten überschwemmt. Das Christentum war nur eine davon, und obwohl es letztlich erfolgreich war, musste es sich gegen zahlreiche Konkurrenten behaupten, wie z.B. den Mithraskult.
Wenn Menschen das Gefühl haben, dass die Welt, in der sie leben, ins Wanken gerät, dass sie jegliche Kontrolle über ihre Existenz verloren haben, dass ihr Leben und ihr Schicksal von unsichtbaren Kräften bestimmt werden, dann gewinnen mystische und irrationale Tendenzen die Oberhand. Die Menschen glauben, dass das Ende der Welt naht. Die frühen Christen glaubten dies mit Inbrunst, aber viele andere vermuteten es. In Wirklichkeit ging nicht die Welt unter, sondern nur eine bestimmte Gesellschaftsform, nämlich die Sklavenhaltergesellschaft. Der Erfolg des Christentums beruhte darauf, dass es an diese allgemeine Stimmung anknüpfte. Die Welt war böse und sündhaft. Es war notwendig, der Welt und all ihren Werken den Rücken zu kehren und sich auf ein anderes Leben nach dem Tod zu freuen.
Tatsächlich kündigten sich diese Ideen bereits in den philosophischen Trends an, die es in Rom gab. Wenn Menschen alle Hoffnung in die bestehende Gesellschaft verlieren, haben sie zwei Möglichkeiten: Entweder sie versuchen, ein rationales Verständnis der Geschehnisse zu erlangen, um für eine Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen, oder sie kehren der Gesellschaft ganz den Rücken. In der Zeit des Niedergangs wurde die römische Philosophie vom Subjektivismus in der Form des Stoizismus und Skeptizismus beherrscht. Epikur vertrat einen anderen Ansatz und lehrte die Menschen, das Glück zu suchen und zu lernen, ohne Angst zu leben. Es handelt sich um eine vortreffliche Philosophie, die jedoch in der gegebenen Lage nur die intelligenteren Teile der privilegierten Klassen ansprechen konnte. Die neuplatonische Philosophie von Plotin schließlich grenzt an offenen Mystizismus und Aberglauben und liefert schlussendlich eine philosophische Rechtfertigung für das Christentum.
Zu dem Zeitpunkt, als die Barbaren einmarschierten, stand das gesamte Gefüge am Rande des Zusammenbruchs, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch und geistig. Kein Wunder, dass die Barbaren von den Sklaven und den ärmeren Schichten der Gesellschaft als Befreier begrüßt wurden. Sie vollendeten lediglich, was im Vorfeld gut vorbereitet worden war. Die Angriffe der Barbaren waren ein historischer Zufall, der dazu diente, eine historische Notwendigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Warum die Barbaren triumphierten
Wie war es möglich, dass eine hoch entwickelte Kultur so leicht von einer rückständigeren und primitiveren überwältigt werden konnte? Die Saat für die Zerstörung Roms wurde lange vor den Einfällen der Barbaren ausgesät. Der Grundwiderspruch der Sklavenwirtschaft besteht darin, dass sie paradoxerweise auf einer geringen Arbeitsproduktivität beruht. Sklavenarbeit ist nur dann produktiv, wenn sie in großem Umfang eingesetzt wird. Voraussetzung dafür ist ein reichliches Angebot an Sklaven zu geringen Kosten. Da sich Sklaven in Gefangenschaft nur sehr langsam vermehren, kann eine ausreichende Versorgung mit Sklaven nur durch ständige Kriegsführung gewährleistet werden. Als das Reich unter Hadrian die Grenzen seiner Ausdehnung erreicht hatte, wurde dies zunehmend schwieriger.
Als das Reich an seine Grenzen stieß und die der Sklaverei innewohnenden Widersprüche damit anfingen auszubrechen, begann für Rom eine lange Phase des Niedergangs, die mehr als vierhundert Jahre andauerte, bis es schließlich von den Barbaren überrannt wurde. Die massenhaften Völkerwanderungen, die zum Zusammenbruch des Reiches führten, waren ein häufiges Phänomen bei nomadischen Hirtenvölkern in der Antike und hatten verschiedene Gründe: mangelndes Weideland infolge des Bevölkerungswachstums, Klimaveränderungen, usw.
In diesem Fall wurden die fester angesiedelten Völker der westlichen Steppen und Osteuropas unter dem Druck rückständigerer Nomadenstämme im Osten, der Hsiung-nu, die uns besser als Hunnen bekannt sind, von ihrem Land vertrieben. Hatten diese Barbaren eine Kultur? Ja, sie besaßen eine Art von Kultur, so wie jedes Volk seit Anbeginn der Geschichte eine Kultur hatte. Die Hunnen hatten keine Ahnung von Landwirtschaft, aber ihre Horden waren eine gewaltige Kriegsmaschine. Ihre Kavallerie war zu jener Zeit weltweit unerreicht. Man sagte von ihnen, dass ihr Land der Rücken eines Pferdes sei.
Doch zum Unglück für Europa trafen die Hunnen im vierten Jahrhundert auf eine fortschrittlichere Kultur, eine Zivilisation, die die Baukunst beherrschte, in Städten lebte und eine disziplinierte Armee besaß – China. Die Kampfkraft dieser gefürchteten Krieger aus den mongolischen Steppen war den zivilisierteren Chinesen nicht gewachsen, die die Große Mauer bauten – eine gewaltige technische Meisterleistung – um sie fernzuhalten.
Von den Chinesen besiegt, zogen die Hunnen nach Westen und hinterließen eine Spur der Verwüstung und Zerstörung. Sie durchquerten das heutige Russland und trafen 355 n. Chr. im heutigen Rumänien auf die Goten. Obwohl die gotischen Stämme auf einer höheren Entwicklungsstufe standen als die Hunnen, wurden sie vernichtet und mussten nach Westen fliehen. Die Überlebenden – etwa 80.000 verzweifelte Männer, Frauen und Kinder auf primitiven Wagen – erreichten die Grenzen des Römischen Reiches zu einem Zeitpunkt, als der Niedergang der Sklavenhaltergesellschaft seine Fähigkeit sich zu verteidigen stark geschwächt hatte. Die Westgoten besiegten die Römer, obwohl sie auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe standen. Der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus bezeichnete diesen Zusammenstoß zweier fremder Welten als die verheerendste römische Niederlage seit Cannae[6].
Mit bemerkenswerter Schnelligkeit wurden die meisten Städte verwüstet und verlassen. Es stimmt, dass dieser Prozess nicht erst mit den Barbaren begann. Der Verfall der Sklavenwirtschaft, die extrem unterdrückerische Natur des Reiches mit seiner aufgeblähten Bürokratie und den räuberischen Steuereintreibern untergruben bereits das gesamte System. Es kam zu einer stetigen Abwanderung aufs Land, wo bereits die Grundlagen für die Entwicklung einer anderen Produktionsweise gelegt wurden – des Feudalismus. Die Barbaren versetzten einem verrotteten und sterbenden System lediglich den Gnadenstoß. Das ganze Gerüst war ins Wanken geraten, und sie versetzten ihm lediglich einen letzten, heftigen Stoß.
Die scheinbar undurchdringbare römische Grenze entlang der Donau und des Rheins knickte ein und brach zusammen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt schlossen sich verschiedene Barbarenstämme, darunter die Hunnen, zu einem gemeinsamen Angriff gegen Rom zusammen. Der gotische Häuptling Alarich (der übrigens ein arianischer Christ und ehemaliger römischer Söldner war) führte 40.000 Goten, Hunnen und befreite Sklaven über die Julischen Alpen und plünderte acht Jahre später Rom selbst. Obwohl der offenbar relativ aufgeklärte Alarich versuchte, die Bürger Roms zu verschonen, konnte er die Hunnen und befreiten Sklaven nicht kontrollieren, die sich dem Morden, Plündern und Vergewaltigen hingaben. Unbezahlbare Skulpturen wurden zerstört und Kunstwerke wegen ihrer Edelmetalle eingeschmolzen. Das war nur der Anfang. In den folgenden Jahrhunderten kamen immer neue Wellen von Barbaren aus dem Osten: Westgoten, Ostgoten, Alanen, Lombarden, Sueben, Alemannen, Burgunder, Franken, Thüringer, Friesen, Heruler, Gepiden, Angeln, Sachsen, Jüten, Hunnen und Magyaren drangen in Europa ein. Das allmächtige und ewige Reich wurde in Schutt und Asche gelegt.
Wurde die Zivilisation zurückgeworfen?
Ist es richtig zu sagen, dass der Sturz des Römischen Reiches durch die Barbaren die menschliche Zivilisation zurückgeworfen hat? Trotz der jüngsten lautstarken Kampagne der „Gesellschaft der Freunde der Barbarei“ kann es daran keinen Zweifel geben, und es lässt sich leicht mit Fakten und Zahlen belegen. Die unmittelbare Auswirkung des barbarischen Angriffs war die Auslöschung der Zivilisation und das Zurückwerfen der Gesellschaft und des menschlichen Denkens um tausend Jahre.
Die Produktivkräfte erlitten einen gewaltsamen Einbruch. Die Städte wurden zerstört oder verlassen, als die Menschen auf der Suche nach Nahrung auf das Land flüchteten. Selbst unser alter Freund Rudgley muss zugeben: „Die einzigen architektonischen Überreste, die die Hunnen hinterlassen haben, war die Asche der Städte, die sie niederbrannten.“ Und nicht nur die Hunnen. Die erste Tat der Goten war es, die Stadt Mainz bis auf den Grund niederzubrennen. Warum haben sie das getan? Warum haben sie sie nicht einfach besetzt? Die Antwort liegt im rückständigen wirtschaftlichen Entwicklungsstand der Invasoren. Sie waren ein Agrarvolk und kannten keine Städte. Die Barbaren waren den Städten und ihren Bewohnern im Allgemeinen feindlich gesinnt (eine Psychologie, die bei den Bauern aller Epochen ziemlich weit verbreitet ist).
Der heilige Hieronymus beschreibt die Folgen dieser Verwüstung: „nichts ist in diesen Einöden übrig geblieben als der Himmel und die Erde; und nach der Zerstörung der Städte und der Ausrottung der Menschen ist das Land mit dichten Wäldern und undurchdringlichem Dorngestrüpp zugewuchert, und die vom Propheten Zephania verkündigte allumfassende Verwüstung hat sich im Mangel an wilden Tieren, Vögeln und sogar Fischen erfüllt.“[7]
Diese Zeilen wurden 20 Jahre nach dem Tod des Kaisers Valens geschrieben, als die Barbareninvasionen begannen. Sie beschreiben die Lage in Hieronymus Heimatprovinz Pannonien (dem heutigen Ungarn), wo aufeinanderfolgende Wellen von Invasoren Tod und Zerstörung in unvorstellbarem Ausmaß brachten. Am Ende wurde Pannonien vollständig entvölkert und später von den Hunnen und schließlich von den heutigen Magyaren besetzt. Dieser Prozess der Verwüstung, Vergewaltigung und Plünderung ging über Jahrhunderte weiter und hinterließ als schreckliches Erbe die Rückständigkeit – tatsächlich, der Barbarei – die wir als das dunkle Zeitalter bezeichnen. Hier sei nur ein Zitat angeführt:
„Das finstere Mittelalter war in jeder Hinsicht hart. Hungersnöte und Seuchen, die im Schwarzen Tod und seinen wiederkehrenden Pandemien gipfelten, dünnten die Bevölkerung immer wieder aus. Die Überlebenden litten an Rachitis. Außergewöhnliche klimatische Veränderungen brachten Stürme und Überschwemmungen mit sich, die sich zu großen Katastrophen auswuchsen, weil das Entwässerungssystem des Reiches, wie der größte Teil der kaiserlichen Infrastruktur, nicht mehr funktionierte. Es sagt viel über das Mittelalter aus, dass die von den Römern gebauten Straßen im Jahr 1500, nach tausend Jahren der Vernachlässigung, immer noch die besten des Kontinents waren. Die meisten anderen waren so baufällig, dass sie unbenutzbar waren; das Gleiche galt für alle europäischen Häfen, bis im achtzehnten Jahrhundert der Handel wieder in Gang kam. Zu den verlorenen Künsten gehörte das Maurerhandwerk; in ganz Deutschland, England, Holland und Skandinavien wurden zehn Jahrhunderte lang so gut wie keine Steinbauten errichtet, Kathedralen ausgenommen. Die grundlegenden landwirtschaftlichen Geräte der Leibeigenen waren Hacken, Gabeln, Rechen, Sensen und Bogensicheln. Da es nur wenig Eisen gab, gab es auch keine Pflugscharen mit Rädern und Streichblechen. Der Mangel an Pflügen war im Süden, wo die Bauern die leichten mediterranen Böden zerkleinern konnten, kein großes Problem, aber die schwerere Erde in Nordeuropa musste von Hand geteilt, bewegt und gewendet werden. Obwohl Pferde und Ochsen zur Verfügung standen, waren sie nur begrenzt einsetzbar. Pferdekragen, Pferdegeschirr und Steigbügel gab es erst um 900 n. Chr. Dadurch war das Anspannen von zwei Pferden unmöglich. Die Bauern arbeiteten härter, schwitzten mehr und brachen häufiger vor Erschöpfung zusammen als ihre Tiere.“[8]
Der Aufstieg des Feudalsystems nach dem Zusammenbruch Roms ging in ganz Europa westlich der Pyrenäen mit einer langen Periode der kulturellen Stagnation einher. Mit Ausnahme von zwei Erfindungen, dem Wasserrad und den Windmühlen, gab es über 1000 Jahre lang keine wirklichen Entdeckungen. Anders gesagt, es gab eine völlige Finsternis in der Kultur. Das war eine Folge des Zusammenbruchs der Produktivkräfte, von denen die Kultur letztlich abhängt. Wenn man das nicht versteht, ist ein wissenschaftliches Verständnis der Geschichte völlig unmöglich.
Das menschliche Denken, die Kunst, die Wissenschaft und die Kultur wurden auf das primitivste Niveau reduziert und erlebten erst eine relative Erholung, als die Ideen der Griechen und Römer in das mittelalterliche Europa eingeführt wurden – von den Arabern. In der Periode, die wir als Renaissance bezeichnen, wurde der Faden der Geschichte wieder aufgenommen und weitergewoben. Der langsame Aufschwung des Handels führte zum Aufstieg des Bürgertums und zu einer Wiederbelebung der Städte, insbesondere in Flandern, Holland und Norditalien. Es ist aber eine Tatsache, dass die Zivilisation um tausend Jahre zurückgeworfen wurde. Das ist es, was wir mit einer absteigenden Linie in der Geschichte meinen. Und niemand soll sich einbilden, dass sich so etwas nicht wiederholen kann.
Sozialismus oder Barbarei
Die gesamte Menschheitsgeschichte besteht aus dem Kampf der Menschheit, sich über das Tiersein zu erheben. Dieser lange Kampf begann vor sieben Millionen Jahren, als unsere fernen menschenähnlichen Vorfahren erstmals aufrecht gingen und ihre Hände für die Handarbeit frei machen konnten. Die Herstellung der ersten Steinschaber und Handbeile war der Beginn eines Prozesses, in dem Männer und Frauen sich durch Arbeit zum Menschen machten. Seitdem traten auf Basis von Veränderungen der Produktivkraft der Arbeit – d.h. auf Basis unserer Herrschaft über die Natur – nacheinander verschiedene Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung auf.
Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte verlief dieser Prozess quälend langsam, wie der Economist am Vorabend des neuen Jahrtausends feststellte:
„Fast die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch war der wirtschaftliche Fortschritt so langsam, dass er innerhalb eines Menschenlebens nicht wahrgenommen werden konnte. Jahrhundertelang lag die jährliche Wachstumsrate auf eine Dezimalstelle genau bei null. Wenn Wachstum stattfand, war es so langsam, dass es für die Zeitgenossen unsichtbar war – und selbst im Rückblick erscheint es nicht als steigender Lebensstandard (was Wachstum heute heißt), sondern lediglich als sanfter Anstieg der Bevölkerung. Im Laufe der Jahrtausende lief der Fortschritt für alle bis auf eine winzige Elite auf Folgendes hinaus: Es wurde langsam möglich, dass mehr Menschen leben konnten, und zwar auf dem niedrigsten Existenzminimum.“[9]
Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der menschlichen Kultur und den Produktivkräften war bereits dem großen Genie der Antike, Aristoteles, klar, der in seinem Buch „Metaphysik“ erklärte, dass „der Mensch zu philosophieren beginnt, wenn die Mittel zum Leben vorhanden sind“. Er fügte hinzu, dass der Grund für die Entdeckung der Astronomie und Mathematik in Ägypten darin zu suchen ist, dass die Priesterkaste nicht arbeiten musste. Das ist ein vollständig materialistisches Verständnis der Geschichte. Es ist die Antwort auf all den Unsinn der Utopisten, die sich vorstellen, dass das Leben herrlich wäre, wenn wir nur „zur Natur zurückkehren“ könnten – das heißt, auf eine tierische Ebene der Existenz zurückkehren.
Die Möglichkeit eines echten Sozialismus setzt eine Entwicklung der Produktionsmittel auf ein Niveau voraus, das selbst die am weitesten entwickelten kapitalistischen Gesellschaften wie die USA, Deutschland oder Japan weit übertrifft. Das wurde von Marx bereits vor der Entstehung des Kommunistischen Manifests erklärt. In der „Deutschen Ideologie“ schrieb er: „weil ohne sie [die Entwicklung der Produktivkräfte, Anm.] nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen mußte.“[10] Und mit „der ganzen alten Scheiße“ meinte er Klassenunterdrückung, Ungleichheit und Ausbeutung. Der Grund, warum die Oktoberrevolution zum Stalinismus entartete, war, dass sie in einem rückständigen Land isoliert blieb, in dem die materiellen Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus fehlten.
Trotz der Tatsache, dass der Kapitalismus das ausbeuterischste und unterdrückerischste System ist, das es je gegeben hat; trotz der Tatsache, dass, in den Worten von Marx, „das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“[11] zur Welt gekommen ist, bedeutete er dennoch einen kolossalen Sprung in der Entwicklung der Produktivkräfte – und damit unserer Herrschaft über die Natur. Die Entwicklung der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft und der Technik hat den Planeten umgestaltet und die Grundlage für eine umfassende Revolution geschaffen, die uns zum ersten Mal zu freien Menschen machen wird.
Wir sind aus der Wildheit, der Barbarei, der Sklaverei und dem Feudalismus hervorgegangen, und jedes dieser Stadien stellte eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Kultur dar. Die Knospe verschwindet, wenn die Blüte erblüht, und man könnte dies als eine Negation betrachten, als einen Widerspruch zwischen den beiden Dingen. In Wirklichkeit handelt es sich aber um notwendige Etappen, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen. Es ist absurd, die historische Rolle der Barbarei oder irgendeines anderen Stadiums der menschlichen Entwicklung zu leugnen. Aber die Geschichte geht weiter.
Jede Phase der menschlichen Entwicklung hat ihre Wurzeln in allen vorangegangenen Entwicklungen. Das gilt sowohl für die menschliche Evolution als auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Wir haben uns aus primitiveren Arten entwickelt und sind genetisch sogar mit den primitivsten Lebensformen verwandt, wie die Untersuchung des menschlichen Genoms schlüssig bewiesen hat. Wir sind von unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, durch einen genetischen Unterschied von weniger als zwei Prozent getrennt. Doch dieser kleine Prozentsatz stellt einen gewaltigen qualitativen Sprung dar.
In gleicher Weise hat die Entwicklung des Kapitalismus heute die Grundlage für eine neue und qualitativ höhere (ja, höhere) Stufe der menschlichen Entwicklung gelegt, die wir Sozialismus nennen. Die gegenwärtige weltweite Krise ist nichts anderes als die Widerspiegelung der Tatsache, dass die Entwicklung der Produktivkräfte mit der Zwangsjacke des Privateigentums und des Nationalstaates in Konflikt gerät. Der Kapitalismus hat längst aufgehört, eine fortschrittliche Rolle zu spielen, und ist zu einem ungeheuren Hindernis für die weitere Entwicklung geworden. Dieses Hindernis muss beseitigt werden, wenn die Menschheit voranschreiten will. Und wenn es nicht rechtzeitig beseitigt wird, schwebt eine schreckliche Gefahr über den Köpfen der Menschheit.
Der Embryo einer neuen Gesellschaft reift bereits im Schoß der alten. Die Elemente einer Arbeiterdemokratie existieren bereits in Form der Arbeiterorganisationen, der Betriebsräte, der Gewerkschaften, der Genossenschaften usw. In der kommenden Epoche wird es einen Kampf auf Leben und Tod geben – einen Kampf dieser Elemente der neuen Gesellschaft, die geboren werden will, und einen ebenso heftigen Widerstand seitens der alten Ordnung, um dies zu verhindern.
In einem bestimmten Stadium wird dieser Konflikt – der in den Generalstreiks in Europa, den revolutionären Bewegungen in Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern und der Revolte der Jugend überall bereits in Umrissen zu erkennen ist – einen kritischen Punkt erreichen. Keine herrschende Klasse in der Geschichte hat jemals ihre Macht und ihre Privilegien ohne einen erbitterten Kampf aufgegeben. Die Krise des Kapitalismus ist nicht nur eine Wirtschaftskrise, die die Arbeitsplätze und den Lebensstandard von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt bedroht. Sie bedroht auch die Grundlagen einer zivilisierten Existenz – sofern diese überhaupt existiert. Sie droht die Menschheit an allen Fronten zurück zu werfen. Wenn es dem Proletariat – der einzigen wirklich revolutionären Klasse – nicht gelingt, die Herrschaft der Banken und Monopole zu stürzen, ist der Weg frei für einen Zusammenbruch der Kultur und sogar für eine Rückkehr zur Barbarei.
In der Tat sind für die meisten Menschen im Westen (und nicht nur dort) die offensichtlichsten und schmerzlichsten Auswirkungen der kapitalistischen Krise nicht wirtschaftlicher Natur, sondern jene Phänomene, die ihr persönliches Leben an den empfindlichsten und emotionalsten Punkten berühren: der Zusammenbruch der Familie, die Epidemie von Kriminalität und Gewalt, der Verfall der alten Werte und der Moral, ohne dass es etwas gibt, das an ihre Stelle tritt, der ständige Ausbruch von Kriegen – all das führt zu einem Gefühl der Instabilität, zu einem Mangel an Vertrauen in die Gegenwart oder die Zukunft. Dies sind die Symptome des Kapitalismus, der in einer Sackgasse steckt, was in letzter Instanz (aber nur in letzter Instanz) das Ergebnis der Revolte der Produktivkräfte gegen die Zwangsjacke des Privateigentums und des Nationalstaats ist.
Es war Marx, der darauf hinwies, dass es für die Menschheit zwei Möglichkeiten gibt: Sozialismus oder Barbarei. Die formale Demokratie, die von den Arbeitern in Europa und den USA als etwas Normales angesehen wird, ist in Wirklichkeit ein sehr zerbrechliches Gebilde, das eine offene Auseinandersetzung zwischen den Klassen nicht überleben wird. Die „kultivierte“ Bourgeoisie wird nicht zögern, sich in Zukunft Richtung Diktatur zu bewegen. Und unter der dünnen Schicht von Kultur und moderner Zivilisation gibt es Kräfte, die der Barbarei in ihrer schlimmsten Form ähneln. Die jüngsten Ereignisse auf dem Balkan haben uns das eindringlich vor Augen geführt. Normen der Zivilisation können leicht zerbrechen, und die Geister einer längst vergessenen Vergangenheit können selbst die zivilisierteste Nation überwältigen. Ja, in der Tat, die Geschichte kennt sowohl eine absteigende als auch eine aufsteigende Linie!
Die Frage stellt sich daher in aller Deutlichkeit: Entweder nimmt die Arbeiterklasse in der kommenden Zeit die Führung der Gesellschaft in die Hand und ersetzt das marode kapitalistische System durch eine neue Gesellschaftsordnung, die auf der harmonischen und rationalen Planung der Produktivkräfte und der bewussten Kontrolle der Menschen über ihr eigenes Leben und Schicksal beruht, oder wir werden ein äußerst schreckliches Schauspiel des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenbruchs erfahren.
Jahrtausendelang war die Kultur das Monopol einer privilegierten Minderheit, während die große Mehrheit der Menschheit von Wissen, Wissenschaft, Kunst und Regierungsmacht ausgeschlossen war. Das ist auch heute noch der Fall. Trotz all unserer Anmaßungen sind wir nicht wirklich zivilisiert. Unsere Welt verdient diesen Namen nicht. Es ist eine barbarische Welt, bewohnt von Menschen, die eine barbarische Vergangenheit noch nicht überwunden haben. Für die große Mehrheit des Planeten bleibt das Leben ein harter und unerbittlicher Existenzkampf, nicht nur in der unterentwickelten Welt, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern.
Der historische Materialismus verleitet uns aber nicht zu pessimistischen Schlussfolgerungen, ganz im Gegenteil. Die allgemeine Tendenz der Menschheitsgeschichte geht in Richtung einer immer stärkeren Entwicklung unseres produktiven und kulturellen Potenzials. Die großen Errungenschaften der letzten hundert Jahre haben zum ersten Mal eine Situation geschaffen, in der alle Probleme, vor denen die Menschheit steht, leicht gelöst werden können. Das Potenzial für eine klassenlose Gesellschaft ist im Weltmaßstab bereits vorhanden. Es geht darum, eine rationelle und harmonische Planung der Produktivkräfte zu realisieren, damit dieses immense, praktisch unendliche Potenzial verwirklicht werden kann.
Auf der Grundlage einer wirklichen Revolution in der Produktion wäre es möglich, ein solches Maß an Überfluss zu erreichen, dass die Menschen sich keine Sorgen mehr um ihre täglichen Bedürfnisse machen müssten. Die Sorgen und Ängste, die heute das Denken der Menschen füllen, werden verschwinden. Zum ersten Mal werden freie Menschen die Herren ihres Schicksals sein. Zum ersten Mal werden sie wirklich menschlich sein. Erst dann wird die wahre Geschichte der Menschheit beginnen.
[1] Edward Gibbon (1776/2003): Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Band 1. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 104.
[2] Das Viktorianische Zeitalter ist nach der Regentschaft von Königin Victoria (1837 – 1901) benannt.
[3] Eine reformistische Bewegung in Großbritannien, die sich 1884 gründete und 1900 der Labour Party beitrat. Sie prägte die britische Sozialdemokratie ideologisch und bestand aus Intellektuellen, wie George Bernard Shaw, Beatrice Webb und Sidney Webb.
[4] Gordon Childe, What Happened in History, S. 64 – eigene Übersetzung.
[5] Hegel bezieht sich hier auf die Knechtschaft der Kirche und der Leibeigenschaft im Mittelalter, die er richtigerweise als notwendigen Schritt für die weitere Entwicklung der Gesellschaft sah. Ähnlich wurde auch durch den brutalen Akt der Sklaverei in der Antike die weitere Entwicklung der Produktivkräfte und somit des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ermöglich.
Siehe: George Wilhelm Friedrich Hegel (1837/1970): Vorlesung über die Philosophie der Geschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., S. 487.
[6] In der Schlacht von Cannae (216 v. Chr.) fügten die karthagischen Truppen unter der Führung von Hannibal den Römern eine tiefe Niederlage zu. Von den 80.000 römischen Soldaten wurden laut verschiedenen Schätzungen zwischen 50.000 und 70.000 getötet.
[7] Edward Gibbon (1788/2003): Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Band 4. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 65.
[8] William Manchester (1992): A World Lit Only by Fire, S. 5-6 – eigene Übersetzung.
[9] The Economist, 31. Dezember 1999 – eigene Übersetzung.
[10] Karl Marx und Friedrich Engels (1846/1969): Die Deutsche Ideologie, in: MEW Bd. 3. Dietz Verlag, Berlin, S. 34f.
[11] Karl Marx (1867/1968): Das Kapital. Band 1, in: MEW Bd. 23. Dietz Verlag, Berlin, S. 788.