Die Geschichte der antiken Welt ist eine Goldgrube für alle, die die Klassenkämpfe und gesellschaftlichen Veränderungen verstehen wollen, die die Welt, in der wir heute leben, geprägt haben. In dieser Einleitung zu seinem neuerschienenen Buch Class Struggle in the Roman Republic legt Alan Woods einige der grundlegenden Prinzipien der marxistischen Geschichtsauffassung dar und gibt eine bündige Erklärung der Ursachen für den Aufstieg und den Untergang der Römischen Republik, insbesondere des Phänomens des Cäsarismus.
Für Marxisten ist das Studium der Geschichte keine akademische Übung, sondern wichtig, um zu lernen, wie sich die Gesellschaft entwickelt und wie sich der Klassenkampf entfaltet. Dabei bin ich mir bewusst, dass das der jüngsten Mode – dem Postmodernismus – widerspricht, die uns versichert, dass es unmöglich ist, irgendwelche Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen; denn die Geschichte folge keinen Gesetzen, die von der menschlichen Vernunft verstanden werden könnten. Von diesem Standpunkt aus ist das Studium der Geschichte entweder nur eine Form der Unterhaltung oder reine Zeitverschwendung.
Trotz der pompösen Art und Weise, in der diese Idee vorgetragen wird, ist daran nichts Neues. Befreien wir die Sache von allen pseudophilosophischen Anmaßungen, so sehen wir, dass der Postmodernismus lediglich eine Idee wiederholt, die bereits viel prägnanter von Henry Ford – „Geschichte ist Unsinn“ („history is bunk“) – oder noch amüsanter vom Historiker Arnold Toynbee ins Feld geführt wurde, der Geschichte als „nur eine verdammte Sache nach der anderen“ definierte („just one damn thing after another”).
Kein Geringerer als der große englische Historiker und herausragende Gelehrte der Aufklärung, Edward Gibbon, schrieb im 18. Jahrhundert, dass die Geschichte „in der Tat nicht viel mehr ist als ein Register der Verbrechen, der Torheiten und des Jammers der Menschheit.“[1]
Jeder, der die Seiten von Gibbons großem Meisterwerk liest, könnte ähnlich pessimistische Schlussfolgerungen ziehen. Wir können allerdings keine Methode akzeptieren, die der Geschichte unserer Spezies jegliche Gesetzmäßigkeit abspricht.
Wenn man nur einen Moment darüber nachdenkt, ist das wirklich eine außergewöhnliche Behauptung. Für die moderne Wissenschaft steht die Tatsache völlig fest, dass alles von Gesetzen bestimmt wird: vom kleinsten subatomaren Teilchen bis hin zu den Galaxien und dem Universum selbst. Die Vorstellung, dass die Geschichte und die Entwicklung unserer eigenen Spezies – als einzige in der gesamten Natur – so besonders seien, dass sie außerhalb aller Gesetze stehe, ist ziemlich absurd.
Das ist keine wissenschaftliche Theorie, sondern ergibt sich vielmehr direkt aus der biblischen Vorstellung, dass der Mensch ein besonderes und einzigartiges Geschöpf des allmächtigen Gottes sei – so besonders und einzigartig, dass es sich allen Versuchen entziehe, verstanden zu werden. Diese überragende Überheblichkeit steht im Widerspruch zu allem, was wir über die Natur und den Ursprung aller Tierarten wissen. So gern wir uns auch als überlegen darstellen, sind wir Menschen doch auch Tiere und unterliegen den Gesetzen der Evolution.
Die Gesetze unserer sozialen Evolution sind zwar unendlich viel komplexer als diejenigen anderer Arten. Dass etwas komplex ist, bedeutet allerdings keineswegs, dass es nicht untersucht, erklärt und verstanden werden könnte. Die Entwicklung der Wissenschaft wäre sonst schon vor langer Zeit zum Stillstand gekommen. Aber die Wissenschaft schreitet weiter voran, dringt in die komplexesten Geheimnisse der Natur ein und lässt sich nicht von all den Versuchen abschrecken, Schranken vor ihr aufzubauen, auf denen geschrieben steht: Zutritt verboten!
Was ist historischer Materialismus?
Die Geschichte erscheint uns als Abfolge von Aktionen und Reaktionen einzelner Personen auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft, der Kriege und Revolutionen – des gesamten komplexen Spektrums der gesellschaftlichen Entwicklung. Die zugrundeliegenden Beziehungen zwischen all diesen Phänomenen aufzudecken, ist die Aufgabe des historischen Materialismus.
Die Vielzahl der Faktoren, die auf unterschiedliche Weise die Richtung der gesellschaftlichen Veränderung beeinflussen, scheint sich zunächst jeder präzisen Analyse zu entziehen. Viele Historiker trösten sich damit, diese Vielfalt einfach festzustellen; sie begnügen sich mit der Vorstellung, dass die Geschichte das Ergebnis einer ständigen Wechselwirkung von verschiedenen Faktoren ist. Diese Erklärung erklärt allerdings rein gar nichts.
Ebenso, wie die Wellen des Ozeans auf den ersten Blick unberechenbar und willkürlich erscheinen, aber nur das oberflächliche Abbild unsichtbarer Strömungen und Veränderungen der Winde sind, drücken auch die Handlungen individueller Figuren in den Dramen der Geschichte unbewusst tiefer liegende, unterirdische Prozesse aus. Diese Prozesse, arbeiten sich in aller Stille durch ein komplexes Geflecht gesellschaftlicher Beziehungen hindurch, bedingen letztlich die Handlungen der Einzelnen und bestimmen deren schlussendlichen Ausgang.
Die großen Männer und Frauen, die auf der Bühne der Geschichte die treibende Kraft zu sein scheinen, entpuppen sich als lediglich unbewusste oder halbbewusste Agenten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, die sich ohne ihr Wissen vollziehen und ihnen einen bestimmenden Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sie ihre historische Aufgabe erfüllen.
Wenn wir ein Element definieren wollen, das immer vorhanden ist und letztlich die entscheidende Rolle spielen muss, dann werden wir es nicht im subjektiven Bewusstsein der einzelnen historischen Persönlichkeiten finden, sondern in etwas viel Grundlegenderem.
Bei jedem Zusammenspiel von Kräften fallen einige Faktoren stärker ins Gewicht als andere. Ohne die Bedeutung von historischen Zufällen, Kompetenz oder Inkompetenz, Tapferkeit oder Feigheit von Individuen, des Einflusses von religiösem Fanatismus oder philosophischen und moralischen Ideen auch nur einen Moment lang anzuzweifeln – so ist doch die wichtigste Voraussetzung für die Lebensfähigkeit eines bestimmten sozioökonomischen Systems seine Fähigkeit, die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen.
Karl Marx hat die verborgenen Triebfedern aufgedeckt, die der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von den frühesten Stammesgesellschaften bis zum heutigen Tag zugrunde liegen. Bevor Männer und Frauen große Gedanken entwickeln, große Werke der Kunst und Literatur hervorbringen, neue Religionen oder philosophische Strömungen schaffen können, müssen sie zu allererst etwas zu essen haben, Kleidung, um ihren Körper zu bedecken, und Häuser, die sie vor den Naturgewalten schützen.
Hier finden wir die letzte Ursache für den Aufstieg und den Untergang von Zivilisationen, für Kriege und Revolutionen und für all die großen Dramen, die die Geschichte der Menschheit ausmachen. Das hat schon der große Aristoteles verstanden, der in seiner Metaphysik schrieb, dass die Philosophie erst begann, „als alle Lebensnotwendigkeiten vorhanden waren“[2].
Diese Aussage trifft den Kern des historischen Materialismus – 2300 Jahre vor Karl Marx. Die materialistische Geschichtsauffassung ist eine wissenschaftliche Methode, die uns zum ersten Mal ermöglicht, die Geschichte nicht als eine Reihe isolierter und unvorhersehbarer Ereignisse zu verstehen, sondern als Teil eines klar verstandenen und zusammenhängenden Prozesses.
Wie Marx in einer berühmten Passage aus seinem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie erklärt:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. […] Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“[3]
Im Anti-Dühring, der erst viel später geschrieben wurde, liefert uns Engels eine tiefgreifendere Formulierung dieses Gedankens. Hier haben wir eine brillante und prägnante Darlegung der Grundprinzipien des historischen Materialismus:
„Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise“.[4]
Das Kommunistische Manifest erinnert uns: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“[5]. In der antiken Welt haben wir bereits einen klaren Beweis für diese Behauptung. Der erste dokumentierte Streik der Geschichte findet sich im sogenannten „Streikpapyrus“ im prächtigen Ägyptischen Museum in Turin. Darin wird ein Streik der Arbeiter, die das Grabmal des Pharaos Ramses III. bauten, detailliert geschildert.
Die Geschichte des antiken Athens ist eine Geschichte heftigster und anhaltender Klassenkämpfe – Revolutionen und Konterrevolutionen. Aber die klarste und am vollständigsten dokumentierte Geschichte des Klassenkampfes in der Antike ist die Geschichte der römischen Republik. Marx war sehr an diesem Phänomen interessiert, wie wir aus einem Brief erfahren, den er am 27. Februar 1861 an Engels schrieb und in dem wir Folgendes lesen:
„Dagegen abends zur Erholung Appians römische Bürgerkriege im griechischen Originaltext. Sehr wertvolles Buch. Der Kerl ist Ägypter von Haus aus. Schlosser sagt, er habe ‚keine Seele‘, wahrscheinlich weil er in diesen Bürgerkriegen der materiellen Grundlage auf den Grund geht. Spartakus erscheint als der famoseste Kerl, den die ganze antike Geschichte aufzuweisen hat. Großer General (kein Garibaldi), nobler Charakter, real representative [wirklicher Vertreter] des antiken Proletariats. Pompejus reiner Scheißkerl; erst durch Eskamotage [Aneignung] der Erfolge von Lucullus (gegen Mithridates), dann der Erfolge von Sertorius (Spanien) usw. als ‚young man‘ [junger Mann] von Sulla usw. in falschen Ruf gekommen. Der römische Odilon Barrot als General. Sobald er Cäsar gegenüber zeigen soll, was an ihm – Lauskerl. Cäsar machte die allergrößten militärischen Fehler, absichtlich toll, um den Philister, der ihm gegenüberstand, zu dekontenancieren [verblüffen]. Ein ordinärer römischer General, etwa Crassus, würde ihn sechsmal während des Kampfes in Epirus vernichtet haben. Aber mit Pompejus war alles möglich.“[6]
Das Geheimnis der Größe Roms
In seiner Blütezeit bot das Römische Reich einen beeindruckenden Anblick. Seine Gebäude, Denkmäler, Straßen und Aquädukte erinnern noch heute – stumm, aber aussagekräftig – an die Größe Roms. Aber man darf nie vergessen, dass die römische Macht auf Gewalt, Massenmord, Raub und Betrug beruhte. Das Römische Reich war, wie auch seine späteren Nachfolger, ein riesiges Trainingslager in Unterdrückung, Sklaverei und gemeinem Diebstahl.
Die Römer setzten rohe Gewalt ein, um andere Völker zu unterwerfen, verkauften ganze Städte in die Sklaverei und schlachteten Tausende von Kriegsgefangenen zur Belustigung bei den Gladiatorenspielen ab. Dabei begann das Römische Reich als winziger, fast unbedeutender Staat, der nicht nur seinen lateinischen Nachbarn ausgeliefert war, sondern auch den weitaus mächtigeren Etruskern und sogar einmal den keltischen Barbaren, die die Römer besiegten und demütigten.
Am Anfang verfügte es nicht einmal über ein stehendes Heer. Seine Streitkräfte bestanden aus einer Miliz, die sich auf eine freie Bauernschaft stützte. Sein kulturelles Leben war so arm wie die Bauern selbst. Innerhalb weniger Jahrhunderte gelang es Rom jedoch, nicht nur Italien, sondern den gesamten Mittelmeerraum und das, was man damals als zivilisierte Welt bezeichnete, zu beherrschen. Wie kam es zu diesem bemerkenswerten Wandel? Die Antwort auf diese Frage ist für einige moderne Historiker immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.
Vor einiger Zeit sah ich im britischen Fernsehen eine Serie über die römische Geschichte, in der ein bekannter Historiker die Idee vertrat, dass das Geheimnis der Größe Roms irgendwie im Erbgut der Römer selbst angelegt sei. Von diesem Standpunkt aus waren die Eroberungen der Römer eine ausgemachte Sache.
An dieser Stelle verlassen wir die Wissenschaft und begeben uns in das Reich der Fantasie und der Märchen. Durch welchen magischen Prozess der Schlüssel zur Größe des Römischen Reichs in die Gene der frühen Römer eingepflanzt wurde, ist ein Geheimnis, das nur diejenigen kennen, die daran glauben.
Mit Hilfe der marxistischen Methode des historischen Materialismus habe ich versucht, den Prozess zu erklären, durch den sich Rom von einem bescheidenen Stadtstaat – man könnte fast sagen: von einem überdimensionalen Dorf – in eine mächtige und aggressive imperialistische Macht verwandelte.
Ich möchte hinzufügen, dass dieser Fall in der Geschichte keineswegs einzigartig ist. Die Geschichte liefert viele Beweise für das dialektische Gesetz, wonach sich Dinge in ihr Gegenteil verkehren können. Man denkt heute nicht mehr oft daran, dass die mächtigste imperialistische Nation der Welt, die Vereinigten Staaten von Amerika, als unterdrückte Kolonie Großbritanniens begonnen hat.
Ebenso befand sich Rom in seiner frühen Phase unter der Herrschaft seiner etruskischen Nachbarn. Die römische Gesellschaft wurde von den Umständen zu einer endlosen Reihe von Kriegen gezwungen. So musste sie eine mächtige Militärmaschinerie entwickeln, die schließlich alles um sich herum in die Knie zwang.
Doch diese ständigen Kriege – ursprünglich Verteidigungskriege – wandelten sich zu Angriffskriegen, die auf die Eroberung von Gebieten und die Unterwerfung anderer Völker abzielten. Das veränderte den Charakter der römischen Gesellschaft und ihrer Armee, und untergrub gerade den Faktor, welcher der frühen römischen Gesellschaft ihren Zusammenhalt, ihre Stabilität und ihre Stärke verliehen hatte: die freie römische Bauernschaft.
Der Klassenkampf
Seit den frühesten Anfängen gab es in Rom einen heftigen Kampf zwischen Arm und Reich. In den Schriften von Livius und anderen wird ausführlich über die Kämpfe zwischen Plebejern und Patriziern berichtet, die in einem faulen Kompromiss endeten. Die Schriften des Livius, die zu einem viel späteren Zeitpunkt entstanden sind, haben zwar einen eher mythologischen als wirklich historischen Charakter, aber es ist ebenso gut möglich, dass diese Berichte den Stempel einer fernen historischen Erinnerung an reale Ereignisse tragen; dass sie vielleicht von weit älteren, heute leider verlorenen Originalen abstammen. Man weiß es nicht.
Die Anfänge einer Krise in Rom lassen sich bereits in der letzten Periode der Republik beobachten – eine Periode, die von akuten sozialen und politischen Umwälzungen und Klassenkämpfen gekennzeichnet war. Die Eroberung fremder Staaten bildete die Grundlage für eine Umgestaltung der Produktionsverhältnisse durch die Einführung der Sklaverei in großem Maßstab.
Als Rom durch den Sieg über seinen mächtigsten Rivalen, Karthago, bereits die Herrschaft über das Mittelmeer errungen hatte, kam es zu einem Kampf um die Aufteilung der Beute. Die freien Bauern, die gezwungen waren, lange Zeit fern ihrer Heimat in fremden Kriegen zu kämpfen, kehrten zurück. Sie mussten aber feststellen, dass ihr Land von den Großgrundbesitzern beschlagnahmt worden war, die mit der Arbeit der Sklaven – die nun als Kriegsbeute zu einem sehr niedrigen Preis auf den Markt geworfen wurden – ein riesiges Vermögen machten.
Hier liegt der eigentliche Grund für die heftigen Klassenkämpfe, die die römische Geschichte in den letzten Jahren der Republik kennzeichnen. Wie Marx im Kapital darlegt: „Es gehört übrigens wenig Bekanntschaft z.B. mit der Geschichte der römischen Republik dazu, um zu wissen, daß die Geschichte des Grundeigentums ihre Geheimgeschichte bildet.“[7]
In einem Brief an Engels vom 8. März 1855 schrieb er:
„Ich habe vor einiger Zeit wieder die römische (alt) Geschichte durchgegangen bis zur Zeit des August[us]. Die innere Geschichte löst sich plainly [einfach] auf in den Kampf des kleinen mit dem großen Grundeigentum, natürlich spezifisch modifiziert durch Sklavereiverhältnisse. Die Schuldverhältnisse, die eine so große Rolle spielen von den origines [Ursprüngen] der römischen Geschichte an, figurieren nur als stammbürtige Konsequenzen des kleinen Grundeigentums.“[8]
Zu diesem Zeitpunkt erreichen die Klassenkämpfe in Rom ihr größtes Ausmaß. Es ist eine Zeit, die untrennbar mit den Namen zweier Brüder verbunden ist: Tiberius und Gaius Gracchus. Tiberius Gracchus forderte, dass der Reichtum Roms unter den freien Bürgern aufgeteilt werde. Sein Hauptziel war, Italien zu einer Republik der Kleinbauern und nicht der Sklaven zu machen, aber er wurde von den Adligen und Sklavenhaltern besiegt und ermordet. Das war der Sieg des Großgrundbesitzes über die kleinbäuerliche Landwirtschaft, der Sieg der Sklaverei über die freie Bauernarbeit.
Langfristig war das eine Katastrophe für Rom. Die ruinierte Bauernschaft – das Rückgrat der Republik und ihrer Armee – wanderte nach Rom ab, wo sie die unproduktive Klasse der proletarii (Proletarier) bildete, die von den Almosen des Staates lebte.
Obwohl sie die Reichen verachteten, hatten sie doch ein gemeinsames Interesse an der Ausbeutung der Sklaven – der einzigen wirklich produktiven Klasse in der Zeit der Republik und des Kaiserreichs – und der Untertanen des Römischen Reichs.
Der große Sklavenaufstand unter Spartakus war eine glorreiche Episode in der Geschichte der Antike. Obwohl er nur einer von vielen Sklavenaufständen in dieser Zeit war, sticht er heraus als ein einzigartiges Ereignis in den Annalen der Geschichte der Aufstände der Armen und Unterdrückten.
Wie sich diese am meisten geknechteten Teile der Gesellschaft mit den Waffen in der Hand erheben und den Armeen der größten Weltmacht eine Niederlage nach der anderen zufügten, gehört zu den unglaublichsten und eindrücklichsten Ereignissen der Geschichte. Wäre es ihnen gelungen, den römischen Staat zu stürzen, hätte sich der Lauf der Geschichte entscheidend verändert.
Die Lektüre der römischen Geschichte, insbesondere der bewegenden Geschichte des Sklavenaufstands unter der Führung des überragenden revolutionären Giganten Spartakus, kann für die heutige Generation eine Quelle großer Inspiration sein. Obwohl die einzigen Aufzeichnungen über diesen großen Mann von seinen Feinden verfasst wurden, ist das Leuchtfeuer seiner Taten auch nach zwei Jahrtausenden noch nicht erloschen.
Der Hauptgrund für das Scheitern des Spartakusaufstandes war die Tatsache, dass die Sklaven nicht in der Lage waren, ihren Kampf mit dem Proletariat in den Städten zu verbinden. Solange letzteres den Staat unterstützte, war der Sieg der Sklaven unmöglich. Aber das römische Proletariat war im Gegensatz zum modernen Proletariat keine produktive, sondern eine rein parasitäre Klasse, die von der Arbeit der Sklaven lebte und von ihren Herren abhängig war. Darin ist das Scheitern der römischen Revolution begründet.
Der Cäsarismus
Die Niederlage der Sklaven führte geradewegs in den Ruin der römischen Republik. Ohne eine freie Bauernschaft war der Staat gezwungen, seine Kriege mit einer Söldnerarmee zu führen. Schließlich führte die Sackgasse im Klassenkampf zu einer Situation, die dem modernen Phänomen des Bonapartismus ähnelte. Seine römische Entsprechung nennen wir Cäsarismus.
Der römische Legionär war nicht mehr der Republik, sondern seinem Befehlshaber gegenüber loyal – dem Mann, der ihm seinen Sold, seine Beute und ein Stück Land garantierte, wenn er sich zur Ruhe setzte. Die letzte Periode der Republik ist durch eine Verschärfung des Kampfes zwischen den Klassen gekennzeichnet, in dem keine Seite einen entscheidenden Sieg erringen konnte. Infolgedessen begann der Staat (den Lenin als „besondere Formationen bewaffneter Menschen“[9] bezeichnete), zunehmende Unabhängigkeit zu erlangen, sich über die Gesellschaft zu erheben und als der letzte Schiedsrichter in den anhaltenden Machtkämpfen in Rom aufzutreten.
Eine ganze Reihe von militärischen Abenteurern tritt nun auf den Plan: Marius, Sulla, Crassus, Pompeius und schließlich Julius Caesar – ein brillanter Feldherr, ein kluger Politiker und ein gewiefter Geschäftsmann, der der Republik faktisch ein Ende bereitete, während er Lippenbekenntnisse für sie ablegte. Durch seinen militärischen Siegeszug in Gallien gewann er an Ansehen und begann, alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Obwohl er von einer konservativen Fraktion, die die Republik erhalten wollte, ermordet wurde, war das alte Regime dem Untergang geweiht.
Nachdem Brutus und die anderen Verschwörer vom Zweiten Triumvirat besiegt worden waren, wurde die Republik formell anerkannt. Dieser Schein wurde sogar von Caesars Adoptivsohn Octavius aufrechterhalten, nachdem er seine Rivalen besiegt und sich selbst zum ersten Kaiser, Augustus, ernannt hatte. Der Titel „Kaiser“ (lateinisch imperator) ist ein militärischer Titel, der erfunden wurde, um den für republikanische Ohren anstößigen Titel des Königs zu vermeiden. Aber er war ein König, nur nicht dem Namen nach.
Widersprüche der Sklaverei
In der Zeit ihres Untergangs stand die politische Ordnung der Republik in völligem Widerspruch zum Sklavensystem, das zentral für die römische Wirtschaft geworden war. Die Gründung des Imperiums war daher notwendig, um das Eigentum der großen Sklavenhalter zu schützen. Diese mussten sich der Willkür eines einzigen Mannes unterwerfen – aber erkauften sich dadurch ein Ende der Instabilität und der Bürgerkriege der späten Republik.
Doch wie alle Formen der Klassenunterdrückung enthält auch die Sklaverei einen inneren Widerspruch, der zu ihrer Zerstörung führte. Obwohl die Arbeit des einzelnen Sklaven nicht sehr produktiv war (Sklaven müssen zur Arbeit gezwungen werden), erzeugte die Ansammlung einer großen Anzahl von Sklaven – wie in den Bergwerken und Plantagen (Latifundien) in der letzten Periode der Republik und des Kaiserreichs – ein beträchtliches Mehrprodukt.
In der Blütezeit des Imperiums waren Sklaven reichlich vorhanden und billig. Die Kriege Roms waren im Grunde gigantische Sklavenjagden. Die Reichen verzehrten den Reichtum der Gesellschaft in müßigem Luxus, während die ärmsten Bürger in unvorstellbarem Elend lebten und auf staatliche Hilfe angewiesen waren, um zu überleben.
Irgendwann stieß dieses System aber an seine Grenzen und trat dann in eine lange Phase des Niedergangs ein. Da Sklavenarbeit nur dann produktiv ist, wenn sie in großem Umfang eingesetzt wird, setzt sie ein reichliches Angebot an günstigen Sklaven voraus. Da sich allerdings Sklaven in Gefangenschaft nur sehr langsam vermehren, kann ein ausreichender Nachschub an Sklaven nur durch ständige Kriege in immer weiter entfernten Gebieten gewährleistet werden.
Nachdem das Reich unter Hadrian die Grenzen seiner Ausdehnung erreicht hatte, wurde das zunehmend schwieriger. Der Verfall der Sklavenwirtschaft, die monströse Unterdrückung im Römischen Reiche, seine aufgeblähte Bürokratie und seine räuberischen Steuereintreiber untergruben bereits das gesamte System.
Das Scheitern der unterdrückten Klassen der römischen Gesellschaft, sich zusammenzuschließen, um den brutal ausbeuterischen Sklavenstaat zu stürzen, führte zu einer inneren Erschöpfung und einer langen und schmerzhaften Periode des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verfalls, die schließlich den Weg für den endgültigen Zusammenbruch der römischen Macht und den Abstieg in die Barbarei bereitete.
Der Handel ging immer weiter zurück, und die Menschen strömten in Scharen aus den Städten aufs Land, in der Hoffnung, auf einem der Ländereien der Großgrundbesitzer ein Auskommen zu finden. Die Barbaren lieferten lediglich den Gnadenstoß für ein verrottetes und sterbendes System. Sie brachten ein Gebäude zum Einsturz, das ohnehin schon schwankte.
Was sind die Lehren für heute?
Es wäre müßig, darüber zu spekulieren, was das Ergebnis eines hypothetischen Sieges des großen Sklavenaufstandes unter Spartakus gewesen wäre. In jedem Fall hätte es der Klassengesellschaft kein Ende setzen können. Die materielle Grundlage für eine wirklich kommunistische Gesellschaft war damals und auch in den folgenden zweitausend Jahren nicht vorhanden.
Es war notwendig, eine Reihe von Etappen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zu durchlaufen, die jeweils durch die barbarische Unterdrückung und Ausbeutung der Massen gekennzeichnet waren, bevor die Produktivkräfte im Kapitalismus ein ausreichendes Niveau erreicht hatten, das eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft ermöglichte. Aus diesem Grund ist es sowohl sinnlos als auch völlig unwissenschaftlich, die Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart oder der Zukunft aus zu betrachten.
Also können wir nichts aus dem Studium der Vergangenheit lernen? Eine solche Schlussfolgerung wäre grundfalsch. Wir können viele wertvolle Lehren aus den reichen Erfahrungen der Klassenkämpfe der Vergangenheit ziehen, und die römische Geschichte bietet uns in dieser Hinsicht sehr reiches Material.
Der Aufstieg des modernen Kapitalismus und seines Totengräbers, der Arbeiterklasse, hat sehr viel deutlicher gemacht, was der Kern der materialistischen Geschichtsauffassung ist. So wie der Aufstieg und der Niedergang Roms das Ergebnis der inhärenten Widersprüche der Produktionsweise auf der Basis der Sklavenarbeit war, so erklärt sich Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus aus den inneren Widersprüchen der sogenannten freien Marktwirtschaft.
In der Periode seines Aufstiegs hat der Kapitalismus die Produktivkräfte in einem Maße entwickelt, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Aber diese Periode ist schon lange zu Ende. Das kapitalistische System hat seit langem die fortschrittliche Rolle, die es einmal gespielt haben mag, erschöpft.
Das kapitalistische System in seinem Todeskampf hat eine frappierende Ähnlichkeit mit der monströsen Dekadenz, die das Römische Reich in seinem letzten Stadium der Degeneration und des Verfalls kennzeichnete. Die Symptome des altersbedingten Verfalls sind überall zu sehen.
Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, die Welt zu verstehen, sondern den historischen Kampf der Massen durch den Sieg des Proletariats und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Es geht darum, mit allen Mitteln den Sturz eines verrotteten und unterdrückerischen Systems zu beschleunigen, dessen Fortbestehen die Existenz der menschlichen Zivilisation – vielleicht sogar der Menschheit selbst – bedroht.
Es geht darum, die Träume zahlloser vergangener Generationen der unterdrückten und ausgebeuteten Mehrheit zu verwirklichen und den titanischen Kampf, der vor so langer Zeit von dem revolutionären Giganten Spartakus und seiner nie zu vergessenden Sklavenarmee begonnen wurde, mit einem endgültigen Sieg zu krönen.
Es war kein Zufall, dass die Führer der deutschen Revolution, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, den Namen Spartakus zum Emblem des revolutionären deutschen Proletariats machten. Wie der Held, dessen Beispiel sie so tapfer folgten, fielen sie den Kräften einer brutalen Konterrevolution zum Opfer.
Heute sind die Namen ihrer Mörder vergessen. Aber die Namen von Spartakus, Liebknecht und Luxemburg werden jedem klassenbewussten Arbeiter und der revolutionären Jugend, die für eine bessere Zukunft kämpft, für immer in Erinnerung bleiben.
London, 7. März 2023
[1] Edward Gibbon (1776/2004): Verfall und Untergang des römischen Imperiums, Band 1. Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 104.
[2] Aristoteles (1970): Metaphysik. Reclam Verlag, S. 22.
[3] Karl Marx (1859): Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, in MEW Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin, S. 8-9.
[4] Friedrich Engels (1878): Anti-Dühring, in MEW Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin, S. 248-249.
[5] Marx und Engels (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in MEW Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin, S. 2-3.
[6] Karl Marx (27. Februar 1861): Brief von Marx an Engels, in MEW Bd. 30, Dietz Verlag, Berlin, S. 160
[7] Karl Marx (1867): Das Kapital Band 1, in MEW Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin, S. 96.
[8] Karl Marx (8. März 1855): Brief von Marx an Engels, in MEW Bd. 28, Dietz Verlag, Berlin, S. 439.
[9] W. I. Lenin (1917): Staat und die Revolution, in LW Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin.