Honoré de Balzac ist als produktives literarisches Genie bekannt und war außerdem einer der Lieblingsautoren Marx’ und Engels’. Er war ein Vorreiter des realistischen Schreibstils, an den berühmte Autoren wie Émile Zola und Charles Dickens anknüpften. Ben Curry ergründet in diesem Artikel Balzacs realistische Methode, die vorherrschenden Themen seines umfassenden Gesamtwerks, das als Die menschliche Komödie („La Comédie humaine“) bekannt wurde, und das faszinierende Paradoxon, das ihm zugrunde liegt.
“Sie irren sich, lieber Engel, wenn Sie glauben, dass der König Louis-Philippe regiert, er selbst täuscht sich nämlich nicht darin. Er weiß wie wir alle, dass über der Verfassung das heilige, angebetete, solide, liebenswerte, anmutige, schöne, edle, junge und allmächtige Hundertsousstück [Sou ist eine veraltete franz. Geldeinheit. In der Mehrzahl – Sous – wird es auch als Synonym für Geld verwendet; Anm.] steht!”[1]
Die Periode zwischen den großen Revolutionen in Frankreich von 1789 und 1848 war bestimmt durch beispiellose Umbrüche. Es war die Epoche des rasanten Aufstiegs der französischen Bourgeoisie, einer Klasse, die zu Beginn noch einen Teil des unterdrückten „Dritten Standes“ unter der absolutistischen Herrschaft der Bourbonen darstellte. Am Ende dieser Epoche war sie die unbestrittene herrschende Klasse und hatte begonnen, die französische Gesellschaft nach ihren eigenen Vorstellungen zu verändern.
Inmitten jener Sturm-und-Drang-Periode lebte einer der Giganten der Weltliteratur, der Vater des realistischen Romans, Honoré de Balzac. Er war sowohl Geschichtsschreiber als auch Künstler seiner Zeit, der wie kein anderer deren lebendigen Geist zu fassen vermochte.
Balzac, einer der Lieblingsautoren von Marx und Engels, war kein Revolutionär. Ganz im Gegenteil. Und dennoch konnte Engels über sein riesiges literarisches Werk sagen: „Dort ist die Geschichte Frankreichs von 1815 bis 1848…. Und welche Kühnheit! Welch revolutionäre Dialektik in seiner poesievollen Gerechtigkeit!”[2]
Ein Leben voll von rasender Nachtarbeit, angetrieben durch Unmengen an Kaffee (Schätzungen zufolge hat er 500.000 Tassen Kaffee in seinem Leben getrunken!), brachte Balzac im Alter von nur 50 Jahren tragisch früh ins Grab. In seiner zwanzigjährigen Schaffensperiode verfasste er jedoch nicht weniger als 90 Romane, Novellen und Kurzgeschichten, Dutzende davon sind eigenständige Meisterwerke.
Doch Balzacs Romane, so großartig sie für sich allein genommen auch sein mögen, können nicht ohne ihre innere Verknüpfung miteinander voll wertgeschätzt werden. Sein gewaltiges Werk, in seiner Gesamtheit bekannt als Die menschliche Komödie, bildet ein einziges, meisterhaftes Bild der französischen Gesellschaft ab, vom Sturz Napoleons bis zum Jahre 1848: Paris und die Provinzen; Soldaten, Polizeispione und Politiker; Aristokraten und Bauern; Bankiers, Künstler, Journalisten, Bürokraten, Verbrecher und Kurtisanen – sie alle werden in einer meisterhaften Weise dargestellt, die uns bis in die Tiefen ihrer Welt eintauchen lassen. Mehr als nur ein Portrait der französischen Gesellschaft, zeichnet es die bürgerliche Gesellschaft selbst, so wie sie war und ist: kleinlich, habgierig und brutal.
Der realistische Roman
Balzac wurde 1799 geboren, in demselben Jahr, in dem Napoleon das Direktorium stürzte. Dies stellte das Ende der Französischen Revolution dar, die bei den geknechteten Massen Frankreichs so große Illusionen entfacht und wieder zerstört hatte.
Eine Art der Ausbeutung wurde dabei durch eine andere ersetzt. In den Worten von Marx und Engels: „Sie [die Bourgeoisie, Anm.] hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“[3]
Die Autoren des Kommunistischen Manifests erklärten, dass mit dem Sieg der Bourgeoisie die Menschen „endlich gezwungen [wurden], ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu betrachten“[4] In den Bänden der Menschlichen Komödie wirkte Balzacs Kunst wie ein „mächtiges Riechsalz“, dass dabei half, diese Welt, deren Illusionen um sie herum zusammenbrachen, aus ihrem Schlummer zu erwecken und sie zwanger Realität ins Auge zu blicken.
Anstelle eines Rückzugs in eine idealisierte Vergangenheit im Stil der Romantik, die damals in Frankreich en vougue war, finden wir die Gegenwart, mit all ihren Gräueln, zur Schau gestellt. Balzacs Methode war vollkommen materialistisch. Unter dem Banner des „Realismus“ markierte sie einen neuen Aufbruch in der Literatur und der Kunst im Allgemeinen.
Stefan Zweig gibt in seinem Essay über das Genie Balzacs eine anschauliche Beschreibung seiner Methode:
“Daß jede Vielheit nicht minder auf die Einheit wirkte, wie die Einheit selbst wieder bestimmend auf die Vielheit, diese seine Auffassung, die er Lamarquismus nannte – und die Taine später zu Begriffen erstarrt hat –, daß jedes Individuum ein Produkt sei, geformt von Klima, Milieu, Sitten, Zufall, von all dem, was schicksalsträchtig an ihm rührt, daß jedes Individuum seine Wesenheit aus einer Atmosphäre sauge, um selbst wieder eine neue Atmosphäre zu entstrahlen –, dieses universelle Bedingtsein von In- und Umwelt war ihm Axiom. Und diesen Abdruck des Organischen im Unorganischen und die Griffspuren des Lebendigen im Begrifflichen wieder, diese Summierungen eines momentanen geistigen Besitzes im sozialen Wesen, die Produkte ganzer Epochen aufzuzeichnen, schien ihm höchste Aufgabe des Künstlers. Alles fließt ineinander, alle Kräfte sind in Schwebe und keine frei.”[5]
Was ist das anderes als eine ausgefeilte materialistische Methode, selbst wenn Balzac die Bezeichnung „Materialist“ explizit ablehnte? Mehr noch, es ist eine äußerst dialektische Methode.
Balzac versuchte in der Menschlichen Komödie eine vollständige, lebendige Darstellung aller „sozialen Gattungen“[6], die auf der Erde wandelten, zu schaffen, nicht bloß eine Anhäufung von trockenen Fakten. Keine Kunst kann oder muss jemals darauf hoffen, alle Details der Gesellschaft zu erfassen. Die wahre Aufgabe der Kunst besteht darin, über die Zufälligkeiten hinauszugehen, um die tieferliegenden, essentiellen Wahrheiten aufzudecken. Balzac musste demzufolge nicht 30 Millionen Portraits der Franzosen schreiben, um ein Gesamtbild Frankreichs zu zeichnen. Es war genug, die wesentlichen Charaktere seiner Zeit zu fassen. Die etwa 2000 Persönlichkeiten, die er so mit seinem Stift in der Menschlichen Komödie auf Papier bannte, reichten hierfür aus.
In der Menschlichen Komödie finden wir Frauen und Männer in kräftigen, übertriebenen Farben gezeichnet. Wie schon die Maler der Renaissance die Methode des Chiaroscuro nutzten, die scharfe Gegenüberstellung von Dunkelheit und Licht, um die Dramatik in den menschlichen Zügen und Bewegungen hervorzuheben, stellt Balzac die einzelnen Charaktere häufig seltsam einseitig in ihren Leidenschaften dar. Was auf den ersten Blick für ein Werk des Realismus kontraintuitiv wirkt, zeigt die Realität umso besser. Die Charaktere bilden Archetypen ihrer Klasse und der Antriebe und Leidenschaften derselben.
Baron de Nucingen steht vor uns als Archetyp der gesamten Klasse der millionenschweren Banker; Grandet spielt die gleiche Rolle für Geizhälse; Gobseck für Wucherer; Crevel für bürgerliche Emporkömmlinge; Madame Marneffe für die bürgerliche Kurtisane; de Rastignac und de Rubempré für ehrgeizige Provinzielle; und Vautrin für die gesamte kriminelle Unterschicht von Paris.
So wie der Chemiker die unzähligen zusammengesetzten Substanzen der Natur zur Analyse in ihre säuberlich getrennten Bestandteile zerlegt, so versuchte Balzac, „die Elemente jener zusammengesetzten Masse, die man das Volk nennt, in ihre Teile [zu] zerlege[n].“[7]
Balzacs Fähigkeit, in seinen eigenen Worten, „sich mit anderen zu verstehn“, „sich mit ihrer Lebensweise zu vermählen“, „ihre Lumpen auf meinen Schultern zu spüren“, war einmalig: „Ich drang in die Seelen, ohne das Äußerliche zu vernachlässigen, oder erfasste diese äußeren Züge so gut, daß meine Beobachtung sofort darüber hinausging.“[8]
Die Aristokratie
In politischer Hinsicht war Balzac weit davon entfernt, ein Revolutionär zu sein. Er erklärt selbst: „Ich schreibe beim Licht zweier ewiger Wahrheiten: der Religion und der Monarchie, zweier Notwendigkeiten, die die zeitgenössischen Ereignisse verkünden und zu denen jeder verständige Schriftsteller unser Land zurückzuführen versuchen muß. “[9]
Sein ganzes Leben versuchte er vergeblich, Eintritt in die hohen Kreise der Aristokratie zu erlangen. Die Briefe, die er von seinen Leserinnen unter den gelangweilten und unbeachteten aristokratischen Ehefrauen erhielt, versetzten ihn stets in Begeisterung. Er träumte von einer Heirat, die ihm Titel und Wohlstand einbringen würde. Ein Traum, der sich jedoch erst an seinem Sterbebett erfüllte und den er nicht mehr auskosten konnte. Dennoch finden wir durch den unbestechlichen Realismus Balzacs in seinen Werken das wahre, unverblümte Portrait der Aristokratie als eine dem Untergang geweihte Klasse.
Sein erster Roman der Menschlichen Komödie, Les Chouans, spielt im Jahr 1799. Hier begegnen wir den aristokratischen Führern der Chouannerie, einer reaktionären, im Aufstieg begriffenen Guerilla in der Bretagne. In Les Chouans ist die Republikanische Armee eine disziplinierte Kampftruppe von Bauern, die vollständig davon überzeugt sind, ihr erster Konsul Napoleon verteidige jenes Land, das sie dank der Revolution gewonnen hätten. Als Beweggründe für die bretonischen Bauern, sich als Chouan-Guerillakämpfer in die Reihen der Royalisten einzugliedern, werden hingegen der Raub von Postkutschen und die Plünderung toter republikanischer Soldaten beschrieben, eine Tätigkeit, die in geheimen Messen im Wald von der Kirche wohlwollend sanktioniert wird.
Die wahre Größe ihrer aristokratischen Offiziere erkennen wir, wenn diese ihrem Führer als Belohnung für ihre fortdauernde Königstreue gierig Titel, Anwesen und Erzbistümer abpressen wollen.
In Verlorene Illusionen und Vater Goriot treffen wir auf den alten Adel: Kleingeistig, engstirnig, heuchlerisch und egoistisch haben sie sich mithilfe der reaktionären Armeen Europas wieder auf den Sattel geschwungen. Es ist eine Sache, wenn Ludwig XVIII. seinen Hof und die Aristokratie ihre Salons in Paris wiedereröffneten, jedoch etwas ganz anderes, auch die alten Eigentumsverhältnisse wieder zu errichten, auf denen das Ancien Régime (die alte gesellschaftliche Ordnung vor der Französischen Revolution 1789) einst geruht hatte.
Frankreich war unwiderruflich verändert worden und das Geld bildete die neue Achse, um die sich die Gesellschaft nun drehte. Die aufsteigende Bourgeoisie bedrängte die alte Aristokratie in allen Bereichen: in der Theaterloge, in der Politik und in den Zeitungen. Die zur Seite gedrängten Adeligen konnten noch so verächtlich auf die Emporkömmlinge in ihren Salons schielen, ihren Reichtum vertrauten sie dennoch der Börse an. Das Holz, das sie in den Wäldern ihrer Güter fällen ließen, verkauften sie an bürgerliche Holzhändler, und es waren die bürgerlichen Wucherer, an die sie sich wandten, um ihre außerehelichen Abenteuer zu finanzieren.
In den Provinzen, wo sich der Adel noch auf festeren Füßen bewegte, beschreibt ihn Balzac als das „nichtsnutzigste Gesindel“:
„Die Leute, die darin zusammenkamen, waren die erbärmlichsten Geister, die schäbigsten Intelligenzen, die ärmsten Krautjunker auf zwanzig Meilen in der Runde; die Politik verschwendete sich in leidenschaftlichen Worten, die Quotidienne galt für lau und Louis XVIII für einen Jakobiner. Die Frauen waren in der Mehrzahl ohne Geist und Anmut, sie kleideten sich schlecht, alle waren durch irgendeinen Mangel entstellt, nichts war vollständig, weder die Unterhaltung noch die Toilette, weder Seele noch Fleisch. […] Aber die Kastenmanieren und der Kastengeist, die adelige Atmosphäre, der Stolz des kleinen Schloßbesitzers, die Kenntnis der Gesetze der Höflichkeit hängten immerhin über diese ganze Leere einen wohltätigen Schleier aus.“[10]
Was ist das anderes als eine Klasse, die dem wohlverdienten Untergang geweiht war?
Balzacs geliebte katholische Kirche wird kaum besser dargestellt. Wie alle übriggebliebenen Bastionen der alten Ordnung, fand sie sich von allen Seiten belagert und gezwungen, selbst bürgerlich zu werden: „[S]ie treibt im Hause Gottes einen schändlichen Handel mit kleinen Bänken und Stühlen […] obgleich sie den Zorn des Heilands, der einst die Tempelhändler vertrieb, doch kaum hat vergessen können.“[11] Bei der Geburt, über die Heirat bis zum Tod, finden wir die Repräsentanten der Kirche stets mit ausgestreckter Hand, um ihre Abgaben einzutreiben, vor.
Die bürgerliche Tragödie
Die Früchte der Französischen Revolution von 1789 wurden von den unerschrockenen armen Massen des französischen Volks erkämpft und gesichert, die dabei ihren edelsten Leidenschaften folgten. Doch die Ernte wurde fast gänzlich von den gierigen Händen der Kapitalistenklasse eingezogen.
Diese aus dem Leben gegriffenen Charaktere, Gewinner und Verlierer, wurden durch Balzacs Hand meisterhaft in die Geschichten und Hauptfiguren der Menschlichen Komödie gegossen.
Die Bourgeoisie wird nicht als blasse Kopie eines sozialen Typus dargestellt, sondern als wirkliche, lebendige Menschen. Wir begegnen dem Banker von 1799, der versucht, seinen Reichtum zu beschützen und zu erweitern und sich dabei sowohl den Royalisten als auch den Republikanern gegenüber in reservierter Abgehobenheit übt. Wir lernen kleinbürgerliche Aufsteiger wie den Fassbinder Grandet kennen, der die rote Jakobinermütze trägt, um so auf der Welle neuer gesellschaftlicher Verhältnisse nach oben gespült zu werden. Mit Célestin Crevel, einem Parfümeur, der dank der Wiedereinsetzung der Aristokratie zu Reichtum gekommen ist, gibt uns Balzac einen unvergänglichen Einblick in die bürgerliche Moral.
Die ganze Menschliche Komödie ist durchzogen von fiktionalen Beschreibungen der zahlreichen, wirklichen Tragödien, insbesondere darüber, was der Kapitalismus aus dem Familienleben macht. Wir sehen Väter, die ihre Söhne hintergehen; Männer, die für die Mitgift um Frauen buhlen; fremdgehende Väter, die ihre Familien ruinieren, um ihre Mätressen zu erhalten; Töchter, die von ihren reichen, aber geizigen Vätern auf Brot- und Wasser-Rationen gesetzt werden; Ehemänner, die für ihren Karrierefortschritt die Untreue ihrer eigenen Frauen befördern; Kinder, die von ihren Eltern wie Vieh behandelt werden.
Wie Marx und Engels es ausdrückten: „Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“[12]
Kriminelle und Kapitalisten
Balzacs Kritik lässt keinen Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft unberührt, doch wir werden hier nur einige davon anschneiden können.
Vater Goriot ist eine Nacherzählung King Lears, der Tragödie Shakespeares, im bürgerlichen Zeitalter. Der wahre Held der Geschichte – wenn man ihn als solchen bezeichnen kann – ist Eugène de Rastignac, ein verarmter Adeliger aus der Provinz. Als Neuankömmling in Paris ist er hin- und hergerissen zwischen zwei Wegen, sich ein Vermögen aufzubauen. Auf der einen Seite der „ehrliche“ Weg, eine der Töchter Père Goriots zu verführen, die durch eine Heirat mit dem Bankier de Nucingen reich wurde, oder auf der anderen Seite durch eine Abkürzung voller Blutvergießen, die vom als Verbrecher gebrandmarkten Vautrin vorgeschlagen wird.
Was ist der Unterschied der beiden Wege? Nach Vautrin, der de Rastignac von seinen Gewissensbissen befreien möchte, ist der Unterschied nichts weiter als moralistische und legalistische Heuchelei.
“So sind eure Gesetze! Es gibt nicht einen Paragraphen, der nicht zur Absurdität führt. Der Herr mit gelben Handschuhen und honigsüßen Worten hat Mordtaten begangen, bei denen man kein Blut vergießt, aber wo solches hingegeben wird; der ´Mörder` hat mit einem Dietrich eine Tür erbrochen. Das sind zwei nächtliche Taten.”[13]
Der Kapitalist tötet mit derselben Sicherheit wie der Mörder, jedoch ohne einen Tropfen Blut an seinen eigenen Händen. Die scharfe Verurteilung, die der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in diesen Worten entgegenschlägt, wirkt umso stärker, kommt sie doch aus dem Mund eines verurteilten Schurken:
„Sind sie besser als wir? Wir haben weniger Nichtswürdigkeiten auf dem Buckel, als ihr im Herzen, ihr faulenden Glieder einer verderbten Menschenklasse.“[14]
Schlussendlich ist Rastiganc gezwungen, Vautrin zuzustimmen:
„Er sah die Welt, wie sie ist: Reichtum steht über Gesetz und Moral, Vermögen ist die ultima ratio mundi. ´Vautrin hat recht, Vermögen ist Tugend´, sagte er sich.“[15]
Die revolutionäre Dialektik von Balzac
Die Aristokratie war unfähig, die Gesellschaft zu führen, die Bourgeoisie hingegen unwürdig. In seinem Werk Verlorene Illusionen, ironischerweise jenes Werk, das einer Autobiographie am nächsten kommt, behält Balzac jegliches Lob allein Charakteren wie Michel Chrestien vor, einem revolutionären Republikaner, den er als „ein[en] Politiker von der Kraft eines Saint Just und Danton“ und „eines der edelsten Geschöpfe, die je auf französischem Boden lebten“, beschreibt.
Diese überschwänglichen Würdigungen sind umso bemerkenswerter, da Balzac nicht mit beißender Ironie gegenüber allen Männern und Frauen jeglicher Klasse spart. Wie Engels in einem Brief von 1888 an Margaret Harkness bemerkt:
“[D]ie einzigen Leute, von denen er immer mit unverhohlener Bewunderung spricht, sind seine schärfsten politischen Gegner, die republikanischen Helden vom Cloître Saint-Méry[16], die Männer, die zu dieser Zeit (1830 bis 1836) in der Tat die Vertreter der Volksmassen waren. Daß Balzac so gezwungen war, gegen seine eigene Klassensympathien und politischen Vorurteile zu handeln, daß er die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adeligen sah und sie als Menschen schilderte, die kein besseres Schicksal verdienen; und daß er die wirklichen Menschen der Zukunft dort sah, wo sie damals allein zu finden waren – das betrachte ich als einen der größten Triumphe des Realismus als einer der großartigsten Züge des alten Balzac.”[17]
Zu seiner Zeit stellt das Ziel der bürgerlichen Republik noch einen relativen Fortschritt dar im Gegensatz zu den verfaulten, aber fortbestehenden Relikten des Feudalismus. In den Jahren, welche die menschliche Komödie umfasst, war die Arbeiterklasse, die jene Bürgerlichen in Zukunft herausfordern würde, noch eine unorganisierte Masse. Verstreut über kleine und mittelgroße Werkstätten, war sie erst am Anfang, sich ihrer eigenen Interessen bewusst zu werden. So bleibt sie ununterscheidbar von der großen städtischen Masse der Armen, der wir in Balzacs Romanen begegnen.
Aber mit seinem ungetrübten Weitblick erkannte Balzac in dem „Reich der Vernunft“, nach dem die revolutionären Republikaner strebten, eine Chimäre, die nur in der unverhüllten Herrschaft der Bourgeoisie enden konnte. Seine Vorhersage bestätigte sich in der Revolution im Jahre 1848, demselben Jahr, in dem Balzacs Tod sein literarisches Schaffen für immer beendete.
Dies war das Jahr, in dem die französische Arbeiterklasse erstmals unter ihrem eigenen Banner mit der Waffe in der Hand aufbegehrte. Im Gegenzug schreckte die Bourgeoisie aus Angst vor ihren eigenen revolutionären Aufgaben zurück und akzeptierte, unter das Joch der Abenteurers Louis Bonaparte gestellt zu werden. Damit trug sie ihre ganze Dekadenz, Feigheit und Armseligkeit zur Schau, die Balzac so präzise zu fassen vermochte.
Lassen wir die reaktionären Träume Balzacs beiseite, finden wir in seinem Werk eine vernichtende Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer heuchlerischen Moral. Die realistische Methode, deren Vorreiter Balzac war, inspirierte große Schriftsteller wie Charles Dickens und Emile Zola, die die Aufgabe übernahmen, die Bedingungen des erwachenden industriellen Proletariats darzustellen. Ebenso hatte sie einen fruchtbaren Einfluss auf die Autoren des Kommunistischen Manifests, das 1848 erstmals erschien, als Balzacs brillante literarische Karriere ein Ende nahm.
Im Kommunistischen Manifest, ähnlich wie in der Menschlichen Komödie, sehen wir den unaufhaltsamen Lauf der Geschichte. Für den rückwärtsgewandten Balzac war diese vorwärtsstrebende Bewegung Quelle großen Bedauerns, die seine alte idealisierte Gesellschaft mit ihrer Ehrfurcht vor König, Gott und der Familie in ihren Grundfesten erschütterte. Marx und Engels, der Zukunft zugewandt, sahen im Gegensatz dazu die schöpfende Kraft, die der Zerstörung der alten Gesellschaft zugrunde lag. Sie legt die Grundlage für einen neue, klassenlose Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der die Grauen der Klassengesellschaft, die der Kapitalismus auf die Spitze trieb, für immer ein Ende finden werden.
[1] Honoré de Balzac (1846/2022): Cousine Bette. Matthes-Seitz, Berlin, S.376.
[2] Friedrich Engels (1883): Engels an Laura Lafargue, in MEW Bd. 36. Dietz Verlag Berlin, S. 75.
[3] Karl Marx und Friedrich Engels (1848): Das Kommunistische Manifest, in MEW Bd. 4. Dietz Verlag Berlin, S. 465.
[4] Ebd.
[5] Stefan Zweig (1922): Drei Meister, online: https://www.hellenicaworld.com/Austria/Literature/StefanZweig/de/DreiMeister.html (zuletzt aufgerufen am 17.08.2023).
[6] Honoré de Balzac (1842): Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie, online: https://www.projekt-gutenberg.org/balzac/eugenie/vorrede.html (zuletzt aufgerufen am 17.08.2023).
[7] Stefan Zweig (1946): Balzac. Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, S.44.
[8] Ebd.
[9] Balzac: Vorrede, online.
[10] Honoré de Balzac (1937/2007): Verlorene Illusionen. Diogenes Verlag, Zürich, S. 67f.
[11] Balzac: Cousine Bette, S.524.
[12] Karl Marx und Friedrich Engels (1847/48): Das Manifest der Kommunistischen Partei, in MEW Bd. 4. Dietz Verlag, Berlin, S.465.
[13] Honoré de Balzac (1925): Vater Goriot. Verlag Romane der Ewigkeit, Leipzig, S. 120f.
[14] Ebd., S. 207.
[15] Ebd., S. 86.
[16] Hinweis auf den linken Flügel der republikanischen Partei, der 1832 einen Aufstand gegen die Monarchie unter Louis Philippe anführte. Die letzte Barrikade der Arbeiter und Studenten fiel vor dem Kloster Saint-Méry. Victor Hugos Stück „Les Miserables“ bezieht sich auf jenen Aufstand.
[17] Friedrich Engels (1888): Engels an Margaret Harkness, in MEW Bd. 37. Dietz Verlag, Berlin, S. 44.