Den vorliegenden Artikel schrieb Alan Woods ursprünglich 2005 zum 400-Jahr-Jubiläum der Ersterscheinung von Don Quijote, dem größten Meisterwerk der spanischen Literatur. In der Einleitung zu seinem Text erklärte er, dass „die Arbeiterklasse das größte Interesse daran hat, die Kultur zu verteidigen, und diesen Anlass mit Begeisterung feiern sollte. Dieses Buch war der erste moderne Roman, geschrieben in einer Sprache, die auch einfache Männer und Frauen zu verstehen vermochten. Es gehörte zu den Lieblingsbüchern von Karl Marx, das er seinen Kindern regelmäßig laut vorlas. Der Kampf um den Sozialismus ist untrennbar verbunden mit dem Kampf um Kultur und Ideen.“ In diesem Sinne wollen wir diese historisch-materialistische Analyse von Don Quijote und dem Zeitalter, in dem Miguel de Cervantes dieses Buch verfasste, erstmals in deutscher Sprache abdrucken.
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘.“
(Marx und Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848)
„Spanien erlebte Zeiten großer Blüte, einer Überlegenheit dem anderen Europa gegenüber und der Beherrschung Südamerikas. Die mächtige Entwicklung des Innen- und Welthandels glich in wachsendem Maße die Wirkung der feudalen Entvölkerung der Provinzen und den Partikularismus der nationalen Landesteile aus. Der Machtzuwachs und die Bedeutung der spanischen Monarchie in diesen Jahrhunderten war untrennbar mit der zentralisierenden Rolle des Handelskapitals und mit der schrittweisen Herausbildung der ‚spanischen Nation‘ verbunden.“ (Trotzki, Die Revolution in Spanien, 1931.)
Das Leben von Cervantes
Miguel de Cervantes (1547-1616) ist die berühmteste Persönlichkeit in der spanischen Literaturgeschichte. Der Schriftsteller, Dramatiker und Poet hinterließ ein beachtliches literarisches Werk und ist heute vor allem als Schöpfer von Don Quijote bekannt. Cervantes wurde in Alcalá de Henares, einer Stadt nahe Madrid, geboren. Seine Familie zählte zum niederen Adel. Sein Vater Rodrigo de Cervantes war Chirurg, der auf der Suche nach Arbeit mit seiner Familie von Stadt zu Stadt zog. Rodrigo de Cervantes war in Valladolid, Toledo, Segovia und Madrid wohlbekannt – für seine Schulden. Mehrfach landete er im Gefängnis, weil er sie nicht begleichen konnte. Ein Schicksal, das zu dieser Zeit alles andere als ungewöhnlich war.
Auf den ersten Blick erscheint das Leben von Miguel de Cervantes wie eine einzige Aneinanderreihung von Fehlschlägen: Er scheiterte als Soldat, und auch als Poet und Dramatiker hatte er keinen Erfolg. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich eine Anstellung als Steuereintreiber zu suchen. Doch selbst dabei hatte er kein Glück. Er wurde der Korruption bezichtigt und landete im Gefängnis. Im Zuge dieser verschiedenen Tätigkeiten sammelte er jedoch einiges an Lebenserfahrung. Er hatte verschiedenste Typen von Menschen kennengelernt und auf diese Weise ein gutes Gespür für die damalige Gesellschaft entwickelt.
Cervantes entwickelte 1568 ein Interesse für die Schriftstellerei, als er eine Hommage an die verstorbene Isabel de Valois, die dritte Frau Phillips II., verfasste – zweifellos mit dem Hintergedanken, Gunst und Geld zu erlangen. Doch seine literarische Karriere wurde durch den Militärdienst unterbrochen. Nachdem er 1568-69 in Madrid bei dem Humanisten Juan López de Hoyos studiert hatte, trat er 1570 in die spanische Armee ein und diente in Italien. 1571 nahm er auf dem Kriegsschiff Marquesa an der Seeschlacht von Lepanto teil. Aufgrund einer Schussverletzung konnte er für den Rest seines Lebens seine linke Hand nicht mehr gebrauchen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich der Miliz auf vier weitere Jahre zu verpflichten.
Kriegsmüde kehrte er 1575 gemeinsam mit seinem Bruder Rodrigo auf der Galeere El Sol nach Spanien zurück. Doch das Schiff wurde von algerischen Seeräubern gekapert, die ihn und seinen Bruder versklavten und nach Algier brachten. Cervantes lebte fünf Jahre als Sklave, bis seine Familie genug Geld aufbringen konnte, um das Lösegeld für ihn bezahlen zu können. 1580 kam er endlich frei.
Nach seiner Rückkehr nach Madrid ging er zuerst verschiedenen Arbeiten in der Verwaltung nach und wandte sich erst relativ spät in seinem Leben der Schriftstellerei zu. In Galatea und Los Tratos de Argel schrieb er über das Leben christlicher Sklaven in Algier. Diese Bücher bescherten ihm auch einigen Erfolg. Sein bedeutendstes Werk in Versform war Viaje Del Parnaso (1614). Er schrieb auch viele Theaterstücke, von denen aber nur zwei überliefert sind, und einige Kurzromane. Doch keine dieser Arbeiten sicherte seinen Lebensunterhalt.
Nachdem er schließlich heiratete, musste sich Cervantes eingestehen, dass seine Schriftstellerkarriere nicht genug einbrachte, um eine Familie zu ernähren. Deshalb zog er nach Sevilla, wo er Arbeit als Lieferant für die Marine fand. Das war noch lange nicht das Ende seiner Abenteuer. Im Laufe seines Lebens erzielte er viele Erfolge, machte sich aber auch so manchen Feind und landete deshalb immer wieder für längere Zeit im Gefängnis. Während einer dieser Phasen der erzwungenen Inaktivität begann er an jenem Buch zu arbeiten, das ihm schließlich ewigen Ruhm bescheren sollte. Der erste Teil von Don Quijote erschien 1605 und wurde einer Legende nach im Gefängnis von Argamasilla de Alba in der Region La Mancha geschrieben. Der zweite Teil folgte dann zehn Jahre später.
Das Buch war ein Erfolg und obwohl es seinem Autor zu internationaler Bekanntheit verhalf, blieb er arm. Zwischen 1596 und 1600 lebte Cervantes vorrangig in Sevilla. 1606 ließ er sich in Madrid nieder, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Am 23. April 1616 – auch der Todestag von Shakespeare – verstarb Cervantes verarmt in einer Straße in Madrid, die heute seinen Namen trägt, nur ein Jahr nachdem der zweite Teil von Don Quijote erschienen war.
Dieses Meisterwerk beginnt allem Anschein nach als eine komische Satire auf die Rittergeschichten, die zu dieser Zeit äußerst populär waren, doch es erweitert sich schnell zu einer kaleidoskopischen Reflexion der Epoche, in der Cervantes lebte. Es wirkt deshalb so lebendig, weil es wahrheitsgetreu das Leben in dieser Zeit wiedergibt. Ein buntes Mosaik einer Welt im Umbruch, ein Ferment aufeinanderstoßender Ideale und Lebensvorstellungen und eine endlose Vielfalt an Charakteren, von denen die meisten den unteren Klassen entstammen. Don Quijote repräsentierte einen neuen Aufbruch in der Literatur: ein Bild des echten Lebens und der damals gewöhnlichen Umgangsformen, geschrieben in einfacher Sprache. Die Leserschaft war voll des Lobes über die Verwendung der Alltagssprache in einem literarischen Werk.
Anders als viele seiner Zeitgenossen hatte Cervantes keinen reichen Gönner. Er war ausschließlich von seinen Lesern abhängig. Daraus resultierte eine völlig neue Beziehung zwischen Autor und Publikum. Cervantes hatte nur genügend zu essen, indem er Bücher verkaufte, und er konnte nur Bücher verkaufen, wenn er einen Ton traf, der in den Herzen und Köpfen seines Publikums Anklang fand. Letzteres gelang ihm in brillanter Weise. Nur wenige Werke der Literaturgeschichte fingen den neuen Geist einer in Umwälzung begriffenen Gesellschaft so gewissenhaft ein wie Don Quijote. Um diese Tatsache würdigen zu können, werden wir nicht umhinkommen, ein grobes Bild der damaligen spanischen Gesellschaft zu zeichnen.
Das Spanien zur Zeit von Cervantes
„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ (Marx und Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848)
Das Spanien zur Zeit von Cervantes war eine Gesellschaft im Umbruch. Die Vereinigung der Krone von Aragón mit der Krone von Kastilien durch die Heirat von Ferdinand II. und Isabella schuf die Basis für die Vereinigung Spaniens und die Schaffung einer absoluten Monarchie. Der Fall Granadas, dem letzten maurischen Königreich Spaniens, im Jahre 1492 war der letzte Akt der Reconquista (Rückeroberung), die Jahrhunderte gedauert hatte. Gleich darauf folgten die Entdeckung Amerikas und der Aufstieg Spaniens zur militärisch und wirtschaftlich dominanten Macht in Europa.
Als Cervantes geboren wurde, hatte Madrid lediglich 4.000 Einwohner, vergleichbar mit Städten wie Toledo, Segovia oder Valladolid. Das Wachstum Madrids wurde begünstigt durch die Fueros, der Rechtsordnung, die die Könige von Kastilien und León im Mittelalter dem aufsteigenden Bürgertum zugestanden haben. Aufgrund des angenehmeren Klimas, den günstigeren Bedingungen für die Jagd und der besseren Wasserqualität ließ Ferdinand IV. im 14. Jahrhundert die Ständeversammlung (Cortes de Castilla) in Madrid stattfinden. Die Monarchie konnte sich so eine eigene Basis schaffen und war in der Folge nicht mehr so abhängig vom Adel.
Philipp II. (1527-1598) etablierte einen umfangreichen bürokratischen Apparat und der absolutistische Staat wurde ausgestaltet und perfektioniert. Madrid wurde dadurch von einem schäbigen Provinzdorf zu einer Stadt mit hunderttausend Einwohnern voller Kirchen, Kathedralen, Paläste und Gesandtschaften. Für die rege Bautätigkeit in der Stadt wurden alle Wälder abgeholzt. Die Gegend, die einst bekannt war für ihre gesunde Luft und ihr sauberes Wasser, wurde zu einem Seuchenherd. Die Straßen Madrids waren dunkel, eng und schmutzig. Die Schweine wühlten im Dreck. Die Stadt war geprägt von schlecht gebauten Häusern und geschmacklosen Palästen, Straßen voller Dreck und Tierkadaver, Armenbezirken in maurischer Atmosphäre, und die Häuser der Reichen waren umgeben von den Hütten der armen Bevölkerungsschichten. Der Gestank verwesenden Abfalls und Schlimmerem hing in den Straßen, wo im Schutz der Dunkelheit einfach alles entsorgt wurde. Am Hof war es nicht viel besser, allen Überlieferungen zufolge galt er als der schmutzigste in ganz Europa.
Spanien glich einem siedenden Kessel des sozialen Wandels, in dem die alten Klassen schneller dahin schmolzen, als neue sie ersetzen konnten. Der Verfall des Feudalismus hatte gemeinsam mit der Entdeckung Amerikas verheerende Folgen für Spaniens Landwirtschaft. An die Stelle einer produktiven Bauernschaft, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdiente, war nun ein Heer von Bettlern und Schmarotzern, ruinierten Adeligen, Räubern, königlichen Dienern und Trunkenbolden getreten, die alle versuchten, ohne Arbeit ein Auskommen zu finden.
Und der Fisch begann vom Kopf her zu stinken. Inmitten all diesen Elends galt der spanische Hof als einer der glänzendsten in ganz Europa. Es war ein endloses Spektakel an Bällen, Maskenspielen und Musik. Das spanische Königshaus lebte wahrhaft königlich – auf Kredit. Nur selten bezahlten sie ihre Handelsleute. An solch vulgäre Dinge wie Geld verschwendete der Adel wenig Gedanken.
Der parasitäre Adel lebte in solch verschwenderischer Extravaganz, dass es notwendig wurde, Gesetze gegen überschwänglichen Luxus bei Bekleidung, Möbeln und sogar Sätteln zu verabschieden. Die Behörden fühlten sich sogar genötigt, üppig dekorierte Pantoffeln, Strumpfbänder und kunstvoll bestickte Kleider öffentlich verbrennen zu lassen. Manche Herzöge verließen ihren Palast nur in Begleitung von einhundert in Seide gekleideten Lakaien. Selbst Offiziere der Armee zeigten sich in der Öffentlichkeit mit edlen Mänteln und Jacken, dekoriert mit Bändern, Juwelen und Federn.
Trotz der äußerlichen Fassade religiöser Frömmigkeit, flirteten Edelleute öffentlich mit jungen, attraktiven Nonnen, denen sie auf den Straßen begegneten. Es heißt, dass das berühmte Bild des gekreuzigten Jesus Christus von Diego Velazquez von Philipp IV. als Zeichen der Reue für eines seiner zahlreichen sexuellen Abenteuer in Auftrag gegeben wurde. Die Damen des Adels standen ihren Männern um nichts nach. Wenn die Herzogin von Najera und die Gräfin von Medellín eine Meinungsverschiedenheit hatten, so sagt man, überschütteten sie sich zunächst mit einer Reihe an Beleidigungen, die jede Tratschtante erröten hätte lassen, bevor sie dann ihren Konflikt mit den stichhaltigeren Argumenten – und zwar direkt mit dem Messer oder dem Schwert – ausfochten.
Korruption war die Regel, ehrliche Beamte die Ausnahme. In Kirche und Staat tummelte sich eine regelrechte Armee von Schmarotzern, die alle danach strebten, ihr Vermögen auf Kosten der Staatskasse zu vergrößern. Gleichzeitig lebten viele Beamte unter so prekären Bedingungen, dass sie bereit gewesen wären, für ein paar Real ihre Großmutter zu verkaufen. Der Verkauf von Ämtern war die Norm. Besonders korrupte Minister wurden auf besonders beleidigende Weise durch den Kakao gezogen, doch in der Regel schenkte niemand der Korruption allzu viel Beachtung, war sie doch so gängig, dass sie als normal angesehen wurde.
Die Große Armada
Philipp II. erbte ein unvorstellbar wohlhabendes Imperium, dem jedoch ein stabiles Fundament fehlte. Mit diversen außenpolitischen und militärischen Abenteuern trug er seinen Teil dazu bei, das Reich weiter zu destabilisieren. Der große Bau in El Escorial, in der Nähe von Madrid, wurde zum Monument seines seelenlosen bürokratischen Regimes. Hier verschmolzen engstirniger Bürokratismus mit religiösem Fanatismus: Teils Palast, teils Kloster, teils Mausoleum, war es das administrative Zentrum eines riesigen Imperiums. Hinter den hohen Mauern des Escorial frönte Philipp II. seinen imperialen Fantasien. Seine königlichen Paläste ließ er immer wieder ausbauen und mit Marmor und anderen kostspieligen Materialien ausgestalten.
Der hohe Adel konnte es nicht erwarten, es dem Monarchen gleichzutun und ließ sich seine eigenen prunkvollen Paläste errichten. Dem Bauboom fielen in kürzester Zeit die Wälder zum Opfer, die seit jeher die Sierra um Madrid herum bedeckt hatten. All dies führte am Ende in den Bankrott. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Spanische Imperium am Höhepunkt seiner Macht und seines Wohlstands kopfüber in den Niedergang und die Armut stürzte. Der stolze Edelmann mit Löchern im Mantel, einer leeren Geldbörse und einem Familienstammbaum so lang wie die Liste seiner Gläubiger war ein Jahrhundert später ein literarischer Gemeinplatz.
Obwohl Spanien die dominante Macht in Europa war, hinkte es in seiner sozialen Entwicklung England hinterher. Wie Marx erklärte, waren in England die kapitalistischen Verhältnisse in der Landwirtschaft in Folge der großen Pestseuche (dem Schwarzen Tod) und der Bauernaufstände im 14. Jahrhundert bereits weit fortgeschritten:
„In England war die Leibeigenschaft im letzten Teil des 14. Jahrhunderts faktisch verschwunden. Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigentum immer versteckt sein mochte.“[1]
Am Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich der Kapitalismus sowohl in Spanien als auch in England bereits entwickelt. Paradoxerweise trugen die Entdeckung Amerikas und die Ausplünderung des neuen Kontinents durch die Konquistadoren dazu bei, dass die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Spanien selbst bereits in seiner Entstehung erstickt wurde. Die Flut an Gold und Silber, geschaffen durch die Sklavenarbeit in den Minen der Neuen Welt, untergruben die Entwicklung der Landwirtschaft, des Handels, des Manufakturwesens und der frühen Industrie in Spanien. Umso mehr wurde jedoch die Inflation angeheizt, was zu einem Anstieg des Elends und nicht des Wohlstands führte.
„Durch die neuen Entdeckungen lief der Seehandel dem Handel auf dem Landweg nach Indien den Rang ab; und die Nationen der iberischen Halbinsel, die bis dahin abseits der wichtigsten Handelsrouten gelegen waren, wurden nun die Handelsvertreter und Spediteure von ganz Europa.“[2]
Die aufsteigende Macht des englischen Kapitalismus geriet zwangsläufig in Konflikt mit dem spanischen Imperium. Die englische Krone forderte die spanische Vormachtstellung auf hoher See, zunächst mithilfe der Piraterie, mit der Zeit aber immer offener heraus. Schrittweise etablierten die Engländer und die Niederlande Stützpunkte in der Karibik und legten so das Fundament für neue Kolonialreiche. Der Konflikt zwischen Spanien und England spitzte sich zu, als die Engländer den Niederlanden, die sich gegen die spanische Herrschaft auflehnten, militärische Hilfe schickten. Unweigerlich führte das zum Krieg.
Der Macht und dem Stolz Spaniens wurde ein heftiger Schlag versetzt, als im Sommer 1588 die Spanische Armada (Kriegsflotte) von einer tödlichen Kombination aus englischen Kriegsschiffen und rauem Wetter besiegt wurde. Über Nacht war Spanien von der aufsteigenden Macht England bloßgestellt worden. Diese Niederlage war äußerst symbolträchtig – die alte Welt des feudalen Katholizismus wurde rapide vom aufsteigenden protestantischen Kapitalismus im Norden Europas verdrängt.
Die letzten Lebensjahre Philipps II. waren geprägt von körperlichem Verfall, Verbitterung und Angst. Die blutigen Kriege in Flandern zogen sich in die Länge. Ein Ende war weit und breit nicht in Sicht. Der König starb 1598, zehn Jahre nach der Niederlage der Armada, und mit ihm endete das Zeitalter, in dem Spanien das Schicksal der Welt entschied. Sein Sohn Philipp III. war ein nichtsnutziger Selbstdarsteller, der an den Freuden der Jagd (entweder nach Wildschweinen oder hübschen Schauspielerinnen) mehr Interesse zeigte als an den Staatsangelegenheiten. Kurz nach dem Tod seines Vaters trat man an ihn mit der Frage „Was soll mit der hinterlassenen Korrespondenz geschehen, Herr?“ heran, worauf er antwortete: „Legt sie in die Hände des Herzogs von Lerma.“
So wurde aus dem absoluten Monarchen ein abwesender Monarch. Die reale Macht lag in den Händen seines Ratgebers, des Herzogs von Lerma. Der innere Zerfall Spaniens wurde weiter beschleunigt durch die Inkompetenz und Degeneration des Königshauses. Doch die wahren Ursachen des Niedergangs lagen tiefer. Die königlichen Herrscher Spaniens waren die passenden Charaktere für diese Tragikomödie aus Niedergang, Vetternwirtschaft und Korruption.
Spanien war der erste geeinte Nationalstaat in Europa und eine Zeit lang die größte wirtschaftliche und militärische Macht auf dem Kontinent. Geschlagen wurde es von jenen Nationen, beginnend mit England und den Niederlanden, die als erste und am entschiedensten den Weg einer kapitalistischen Entwicklung beschritten und wo das Bürgertum nach der politischen Macht strebte.
Die immensen Reichtümer, die aus der Lebensader eines ganzen Kontinents herausgepresst worden waren, wurden vom Hof und seinem Heer an adeligen Schmarotzern binnen kürzester Zeit verprasst. Abseits des Hofes herrschte das Elend, was in regelmäßigen Abständen zu gewaltsamen Ausschreitungen führte.
El Siglo de Oro
Zu dieser Zeit herrschte in Spanien ein reges Treiben. Die Dinge, die zu Hause und im Ausland passierten, befeuerten die Fantasie von geistvollen Männern (und auch einigen Frauen). Das waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Spaniens Siglo de Oro (Goldenem Zeitalter). Weder zuvor noch danach erlebte die spanische Kunst einen derartigen Höhenflug wie zu dieser Zeit. Der Hof und der Adel beschäftigten Dichter, Schriftsteller und Maler von außergewöhnlichem Können. Die Welt hatte selten eine solche Vielfalt an literarischem Talent gesehen, mit Namen wie Miguel de Cervantes, Felix Lope de Vega, Francisco de Quevedo, Pedro Calderon de la Barca und Tirso de Molina – und das sind nur die wichtigsten.
Die herausragendste Persönlichkeit dieses Zeitalters war Lope de Vega. Trotz seiner adeligen Herkunft war Lope, wie Cervantes, beinahe stets in finanziellen Schwierigkeiten. Er war ein Mann seiner Zeit, im Guten wie im Schlechten. Er beteiligte sich am verheerenden Abenteuer der Großen Armada. Er veröffentliche mehrere Spottschriften gegen eine einstige Affäre sowie ihre Familie und wurde deshalb aus Madrid verbannt. Zwei Mal heiratete er, nach dem Tod seiner zweiten Frau trat er in einen Orden ein. 1635 starb er schließlich als reicher Mann.
Wie Cervantes lebte er ein Leben voller Abenteuer, Liebesgeschichten und Reisen. Sein Leben war so erfüllt, dass wir uns fragen, wann er überhaupt die Zeit zum Schreiben fand. Dennoch schrieb er viel – 2000 Stücke. Ein Werk, das in der spanischen Literatur seinesgleichen sucht. Davon sind leider nur 430 erhalten geblieben. Darunter sind Klassiker wie El mejor alcalde, el Rey, und Fuenteovejuna (basierend auf realen Ereignissen), und Perribañez y el Comendador de Ocaña. Er schrieb außerdem Gedichte, Epen, prosaische Romanzen und religiöse Arbeiten.
In einigen seiner Texte finden sich wichtige soziale und politische Elemente. Fuenteovejuna basiert auf dem realen Ereignis eines Volksaufstandes, und Peribañez y el Comendador de Ocaña deckt die Tyrannei der feudalen Verhältnisse im ländlichen Spanien auf. Das gemeine Volk wird gezeigt, wie es gegen seine Feudalherren aufbegehrt, doch die Monarchie wird als Verbündeter und Verteidiger des Volkes dargestellt. Was wir hier haben, ist in anderen Worten also ein literarischer Ausdruck des Konzepts des Absolutismus. Die absolute Monarchie steigerte ihre Macht wie in allen Ländern auf Kosten des Adels, indem sie zwischen den Interessen der verschiedenen Klassen balancierte.
Lopes Zeitgenosse Pedro Calderon de la Barca war ein Dramatiker, Philosoph und Theologe, der unter anderem La Vida es Sueño (Das Leben ist ein Traum) und El Alcalde de Zalamea (Der Richter von Zalamea) schrieb. Er war ähnlich beliebt wie Lope, wenn auch weniger produktiv. Er wurde im Jahr 1600 in eine wohlhabende Familie geboren, sein Vater war Sekretär des Schatzamtes und er genoss eine Ausbildung an den prestigeträchtigen Universitäten von Salamanca und Alcalá de Henares. Später nahm er an den Offensiven in Flandern und dem Feldzug gegen das abtrünnige Katalonien 1640 teil. Es gibt Berichte über zumindest eine unerlaubte Liebesbeziehung und ein uneheliches Kind. 1651 äußerte er den Wunsch, in ein Kloster einzutreten und wurde nur durch die direkte Intervention von Philipp IV. davon abgehalten.
Calderons Stücke, die im Barockstil verfasst sind, haben eine stark moralisierende Note, und seine Charaktere leiden darunter. Das Hauptmotiv in El Alcalde de Zalamea und El Medico y su Honra ist die Ehre, das dem feudalen Ideal der höfischen Gesellschaft entsprach, das aber niemals und schon gar nicht zu jener Zeit existiert hatte. Kein Wunder, dass Philipp IV., der König aller Lüstlinge, der für seine Vielzahl an Mätressen bekannt war, zu den glühenden Bewunderern von Calderon zählte. Sein berühmtestes Werk Das Leben ist ein Traum trägt einen zum damaligen Zeitalter höchst passenden Titel. Die herrschende Klasse lebte damals in einem Traumzustand, aus dem sie bald unsanft erwachen würde.
Der Name Francesco de Quevedo ist außerhalb Spaniens weniger bekannt, doch er war ein weiterer großartiger Schriftsteller des Goldenen Zeitalters. Sein Name steht für Satire. Er hinterließ mit seinem Buch El Buscon, einem Meisterwerk der pikaresken Literatur, ein lebendiges Bild vom Spanien seiner Zeit. Seine Arbeiten zeichnen sich durch subtilen Humor und einen kritischen Geist aus, die ihren Ursprung eindeutig in dieser tragischen Periode der spanischen Geschichte haben.
Quevedo erkannte, dass der Niedergang Spaniens mit der Degeneration und Korruption des Hofes zusammenhing. Diese Bande von Schmarotzern, die am Alcázar von Madrid das Sagen hatte, war ihm aufgrund seiner eigenen Erfahrungen als junger Mann am Hof wohlbekannt. Im Alter von 31 Jahren entschied er sich, nach Italien zu ziehen, wo er den Posten des Privatsekretärs des Herzogs von Osuna annahm. Als Letzterer in Ungnade fiel, wurde Quevedo ins Gefängnis geworfen und anschließend verbannt. Gerettet wurde er vom Herzog von Olivares, dem späteren Berater von Philipp IV., zu dem er sein ganzes Leben eine kuriose Hassliebe pflegte.
Sein Buch El Buscon ist wohl der feinste Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. In seinem Werk Sueños (Träume) beschreibt er das adelige Leben am Hof. Das ging nicht gut aus und er wurde später für seine Kritik an den herrschenden Kreisen und am Herzog von Olivares eingekerkert. Als dieser in Ungnade fiel, wurde Quevedo zwar aus dem Gefängnis freigelassen, er war aber in Vergessenheit geraten und starb nur zwei Jahre später im Jahre 1645.
Einen weiteren Autor dieser Periode wollen wir noch nennen: Tirso de Molina. So lautete das Pseudonym von Fraile Gabriel Tellez, einem Priester, der uns die unsterbliche Geschichte eines der unmoralischsten (oder besser amoralischsten) Charaktere der Weltliteratur hinterließ: Don Juan, die Hauptfigur in El Burlador de Sevilla (Der Verführer von Sevilla). Interessanterweise war dieser Priester sehr vertraut mit der weiblichen Psyche. In seinen comedias de enredo, darunter Don Gil de las calzas verdes (Don Gil von den grünen Hosen) und El amor médico waren die Protagonisten allesamt Frauen.
Der Schelmenroman
„Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. Andrerseits konnten die plötzlich aus ihrer gewohnten Lebensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in die Disziplin des neuen Zustandes finden. Sie verwandelten sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände. Ende des 15. und während des ganzen 16. Jahrhunderts daher in ganz Westeuropa eine Blutgesetzgebung wider Vagabundage. Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als ‚freiwillige‘ Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten.“[3]
Diese Epoche brachte das spanischste aller literarischen Genres hervor – den Schelmenroman. Der Schelm (picaro) ist ein Betrüger, ein Schurke und Abenteurer, der außer Köpfchen nichts hat, von dem er leben könnte. Er ist das Produkt einer bestimmten sozialhistorischen Übergangsperiode, die gekennzeichnet war durch den Zerfall des Feudalismus. Wir haben es hier mit dem Treibgut und Strandgut einer Welt zu tun, die sich im Prozess der vollständigen Auflösung befindet. Der Zerfall der alten Ordnung rief Chaos hervor, die alte Moral verlor ihre Wirkung, doch es gab nichts, was an ihre Stelle treten hätte können: daher der fröhliche, moralische Nihilismus des Picaro.
Die spanische Gesellschaft dieser Zeit präsentiert uns ein schillerndes Mosaik von Schurken, Dieben und Gaunern, das in der Weltgeschichte wohl seinesgleichen sucht. Die Philosophie dieser Schicht kann in einem Wort zusammengefasst werden – Überleben. Das Leben ist für sie nicht viel mehr als ein verrücktes Gerangel, um sich mit allen erdenklichen Mitteln eine Existenzgrundlage zu sichern. Ihr Motto lautet: „Jeder für sich und den Letzten beißen die Hunde.“
Madrid, das bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Beinamen „überaus ehrenwert und loyal“ bekam, wurde 1561 zur Hauptstadt des Reiches. Die Bevölkerungszahl explodierte durch den Zuzug von vielen Auswärtigen, die vom Hof angezogen wurden, wie die Fliegen von übelriechenden Exkrementen. Der Schelmenroman spiegelte sehr realitätsnah den Untergang des spanischen Feudalismus zu dieser Zeit wider. Die Betrügereien der Händler, die Brutalität der Soldaten, der Fanatismus der Priester und die Korruption der Höflinge – all dies war schlicht und ergreifend tägliche Praxis.
Dieses komplexe Kaleidoskop war Ausdruck einer Gesellschaft, die sich in einem Zustand der Auflösung befand und die keine Synthese zuließ. Neben dem Adel, der sich durch wichtige Titel und leere Geldbeutel auszeichnete, existierte eine Masse an deklassierten Elementen, Söldnern und Abenteurern. Die Straßen der Hauptstadt waren voll von Kriminellen, Deserteuren und bewaffneten Draufgängern aller Art. Sie waren stets auf Ärger aus. Räuberbanden trieben ihr Unwesen, und nachts unterwegs zu sein, war keine gute Idee. Ein zeitgenössischer Chronist beklagte: „In ganz Frankreich, Deutschland, Italien oder Flandern gibt es keinen Unruhestifter, keinen Krüppel, keinen Einarmigen, Einbeinigen oder Blinden, der nicht aus Kastilien stammt.“
Vor diesem Hintergrund entstanden Charaktere wie Lazarillo de Tormes, Buscón und nicht zuletzt Don Quijote. Als literarischer Stil entwickelte sich der Schelmenroman aus dem Niedergang des Ritterromans, genauso wie die menschlichen Urbilder der Hauptfiguren in diesen Büchern Ergebnis des Niedergangs des Feudalismus waren – es handelt sich nur um einen anderen Ausdruck derselben Idee. Der Zerfall des Feudalismus rief unweigerlich eine Reaktion gegen die Werte, die Moral und die Ideale des Feudalismus hervor. Diese Reaktion drückt sich aus in Form von Ironie und Spott; eine unzeitgemäße Anschauung, die sich selbst überlebt hat, ist per Definition lächerlich und deshalb eine Quelle des Humors.
In diesen Werken wimmelt es nur so von Menschen mit starkem und farbenfrohem Charakter. Die Art des Antihelden im Schelmenroman, wie ihn der Lazarillo de Tormes verkörpert, ist eine Karikatur der Helden des Ritterromans. Er ist kein Ritter in glänzender Rüstung, sondern ein schurkischer junger Bettler – eine nur allzu bekannte Figur im Spanien dieser Zeit.
Auf diese Weise entstand ein wiedererkennbarer literarischer Typus, der später in Gil Blas von Le Sage, Fielding’s Jonathan Wilde und Thackaray’s Barry Lyndon wieder aufgegriffen wurde. Die Seiten von Don Quijote sind voll von Persönlichkeiten und Situationen, die das Leben selbst geschrieben hat. Der Geist dieses Buches, der sich durch bodenständigen Realismus und fröhlichen Optimismus auszeichnet, ist eindeutig ein Kind des humanistischen Weltbilds der Renaissance und nicht der Gegenreformation. Unsere Augen werden nicht hinauf in den Himmel gelenkt, sondern herab auf die Erde mit all ihren Schätzen. Sein Motto lautet: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.“
Don Quijote beinhaltet ein starkes nationales Element. Es ist ein durch und durch spanisches Buch. Nirgends sonst hätte sich die Handlung abspielen können. Die Geschichte ist geprägt vom scharfen Kontrast von Licht und Schatten, der so typisch für die spanische Landschaft ist und der sich auch in der spanischen Gesellschaft und dem Charakter des spanischen Volkes widerspiegelt. Doch diese Erklärung, so wahr sie auch ist, beantwortet diese Frage noch lange nicht erschöpfend. Die Vielfalt der Darstellungen in der Arbeit von Cervantes kann nicht rein auf das nationale Element zurückgeführt werden. Um Cervantes wirklich verstehen zu können, ist es notwendig, sein Werk in den sozialen, wirtschaftlichen und geschichtlichen Kontext einzubetten, in dem es entstand.
Es war Marx, der feststellte, dass Perioden großer historischer Umwälzungen besonders reich an wahren „Charakteren“ sind. Das trifft auf Shakespeare wie auch auf Cervantes zu. Das England zur Zeit von Shakespeare lag wie das Spanien von Cervantes in den Geburtswehen einer großen sozialen und ökonomischen Revolution. Die damit verbundenen Veränderungen erfolgten schlagartig und schmerzhaft, sie stürzten viele Menschen in die Armut und brachten eine Vielzahl von besitzlosen, lumpenproletarischen Schichten hervor: Bettler, Diebe, Prostituierte, Deserteure und ihresgleichen, die sich zu den Söhnen verarmter Adeliger und aus dem Amt verstoßener Priester gesellten und einen schier endlosen Vorrat an Charakteren wie Sir John Falstaff und Lazarillo de Tormes bildeten.
Die unzüchtigen Szenen des Tavernenlebens in Don Quijote machen den Roman anschaulich und farbenreich, während sie gleichzeitig die zentralen Widersprüche jener historischen Epoche aufzeigen. Das gemeine Volk ist dabei so lebendig und temperamentvoll, wie der Adel kraftlos und skurril ist. Das zentrale Motiv von Don Quijote beinhaltet eine grundlegende Wahrheit über das Spanien im Zeitalter der feudalistischen Dekadenz. Die Ideale der Ritterlichkeit erscheinen längst lächerlich und wie antiquierte Exzentrik im Angesicht der aufkeimenden kapitalistischen Wirtschaft, in der alle sozialen Beziehungen, Ethik und Moral durch das Geld bestimmt werden.
Eine Periode des Übergangs
„An die Spitze aller Romanciers stellte er Cervantes und Balzac. „Don Quijote“ war für ihn das Epos des aussterbenden Rittertums, dessen Tugenden in der eben entstehenden Bourgeoiswelt zu Lächerlichkeiten und Narreteien wurden.“ (Paul Lafargue, Karl Marx, Persönliche Erinnerungen)
Jede herrschende Klasse gibt sich denselben Illusionen über sich hin. In ihrer Vorstellung sind sie siegreiche Helden, während sie in Wahrheit nur den schmutzigsten Geschäften nachgehen. Karl Marx, der Don Quijote sehr schätzte, schrieb:
„Soviel ist klar, daß das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte. Es gehört übrigens wenig Bekanntschaft z. B. mit der Geschichte der römischen Republik dazu, um zu wissen, daß die Geschichte des Grundeigentums ihre Geheimgeschichte bildet. Andrerseits hat schon Don Quixote den Irrtum gebüßt, daß er die fahrende Ritterschaft mit allen ökonomischen Formen der Gesellschaft gleich verträglich wähnte.“[4]
Während bei Lope de Vega das alte feudale Ideal der Ehre mit tödlichem Ernst behandelt wird, verwandelt es sich bei Don Quijote in ein humoristisches Thema. Cervantes blickt nach vorne, während Vega völlig rückwärtsgewandt ist. Cervantes repräsentiert den Übergang hin zu einer kapitalistischen Gesellschaft und Moral, die sich auf Geld und nicht auf Rang stützt, während Vega sehnsüchtig zurückblickt auf die moralischen Sicherheiten einer verschwindenden Welt, in der jeder seinen Platz kannte und eine Gesellschaft, die von Ehrgefühl und gegenseitigen Verpflichtungen zusammengehalten wurde. Dennoch nehmen Vegas Werke den Lauf der Dinge schon vorweg: Stillschweigend räumt Vega ein, dass diese Werte mit der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte, untergegangen sind.
Die Essenz des Humors von Don Quijote liegt genau in den Widersprüchen, die sich im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus auftun, von einer Gesellschaft, die sich auf das Konzept des Frondienstes, der Ehre und Loyalität stützte, hin zu einer völlig anderen Gesellschaft, die alleinig auf Geldbeziehungen aufgebaut ist. Wenn Don Quijote als Ritter herumirrt, gerät er in Konflikt mit der herrschenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität, in ähnlicher Weise wie Träume mit dem alltäglichen Leben in Konflikt stehen. Bei dieser Geschichte handelt es sich um den literarischen Ausdruck des Zustands des bankrotten spanischen Adels, der seine Armut hinter vornehmer Gesinnung zu verstecken versucht. Es ist die Ironie einer sozialen Klasse, die nicht begreift, dass sie dem Untergang geweiht ist und dass das Altbewährte keine Rolle mehr spielt.
Dieser Widerspruch erscheint uns als absurd und somit komisch. Die armen und angeblich ignoranten Leute verstehen die tatsächliche Angelegenheit viel besser und tun das Verhalten des Ritters zurecht als Irrsinn ab. Es handelt sich aber nicht um den Irrsinn eines Individuums, sondern den einer ganzen gesellschaftlichen Klasse, deren Nutzen sich überlebt hat, die dies aber nicht akzeptieren will und daher weltvergessen erscheint.
In der Tat waren Männer mit großen Namen und beeindruckenden Titeln, die keinen müden Pfennig besaßen, im damaligen Spanien alles andere als eine Seltenheit. Selbst große Landbesitzer hatten oft nicht mehr als ein Bettler. Das erste Kapitel beinhaltet bereits eine Beschreibung von Don Quijote als einem Vertreter des Adelsstandes, halb verarmt, der nicht mehr ist als ein Schatten seiner selbst und der den alltäglichen Angelegenheiten der landwirtschaftlichen Produktion kaum Beachtung schenkte:
„Man muß nun wissen, daß dieser obenbesagte Junker, alle Stunden, wo er müßig war (und es waren dies die meisten des Jahres), sich dem Lesen von Ritterbüchern hingab, mit so viel Neigung und Vergnügen, daß er fast ganz und gar die Übung der Jagd und selbst die Verwaltung seines Vermögens vergaß.“[5]
Don Quijote hat keine Vorstellung von Geld. Er verkündet entrüstet: „Welcher fahrende Ritter hat jemals Kopfsteuer bezahlt oder den Kauf- und Tauschpfennig, der Königin Nadelgeld, die siebenjährige Königssteuer, Wegezoll oder Fährgeld? Welcher Schneider bekam je von ihm Macherlohn für Kleider? Welcher Burgvogt nahm ihn in seiner Burg auf, daß er ihm die Zeche abgefordert hätte?“[6] Er lebt gänzlich außerhalb einer Geldwirtschaft – jedenfalls denkt er das. Ginge es nach dem wirtschaftlichen Verständnis von Don Quijote, dann wäre die gesamte Gesellschaft bald pleite, denn bis dahin hatte noch niemand von Kredit gehört. Doch selbst der stolze Besitzer einer Kreditkarte weiß, dass er früher oder später nicht umhinkommt, seine Rechnungen begleichen zu müssen.
In einer Szene im dritten Kapitel erhält Don Quijote von einem Gastwirt eine Lektion in Sachen moderner Ökonomie. Der Wirt fragt ihn, ob er Geld bei sich habe, worauf Don Quijote antwortet „er habe keinen Pfennig in der Tasche, denn er habe nie in den Geschichten der fahrenden Ritter gelesen, daß irgendeiner Geld mitgenommen hätte.“
„Er sei im Irrtum“, rief der Wirt, denn „zugegeben, daß es in den Geschichten nicht geschrieben stehe, weil deren Verfasser gemeint, es sei unnötig, so selbstverständliche Dinge, die bei sich zu haben so unerläßlich seien, wie Geld und reine Hemden, ausdrücklich zu erwähnen, so müsse man darum nicht glauben, daß sie dieselben nicht bei sich führten. Und also möge er für gewiß und erwiesen halten, daß alle fahrenden Ritter – von denen so viele Bücher angefüllt und vollgepfropft sind – wohlbeschlagene Börsen mit hinausnahmen, um allerhand Zufälligkeiten zu begegnen, und daß sie im gleichen Hemden bei sich führten, auch ein klein Kästchen voll Salben, um die Wunden zu pflegen, die sie empfingen.“[7]
Diese Lektion nahm er sich zu Herzen. Als er sich zu seinem zweiten Abenteuer aufmachte, stellte Don Quijote sicher, dass er genug Münzen des jeweiligen Königreichs eingesteckt hatte, wenngleich er dafür viele Schulden machte. Im siebten Kapitel werden wir dann informiert: „Sogleich traf Don Quijote Anstalt, Geld aufzutreiben; und indem er einen Acker verkaufte und einen andren verpfändete und dabei alles verschleuderte, brachte er eine ziemliche Summe zusammen.“[8] Diese Passage steht für die Geschichte des gesamten spanischen Adels und Spaniens.
Sancho Panza
In Don Quijote haben wir nicht nur einen, sondern zwei Protagonisten. Begleitet wird der große schlanke Ritter auf seinem heruntergekommenen alten Gaul von einem kleinen dicken Bauern, der auf einem Maultier reitet. Wir haben es hier mit einem der großen Duos der Weltliteratur zu tun. Die beiden gehören zusammen so wie Salz und Pfeffer. Was ist über diese zweite Hauptfigur des Romans zu sagen? Sancho Panza ist ein armer Landarbeiter, ein Nachbar von Don Quijote, „ein guter Kerl (wenn man den gut nennen kann, dem es am Besten fehlt), der aber sehr wenig Grütze im Kopfe hatte“[9]. Wir können nur annehmen, dass es Sanchos Geistlosigkeit war, die ihn dazu verleitete, seinem halb-verrückten Meister zu folgen. Dennoch ist es gerade der ungebildete Landarbeiter, der auf Schritt und Tritt die Situation richtig einschätzt, und dies seinem Meister zu beweisen versucht – der natürlich weigert sich, seinem Schildknappen Glauben zu schenken.
Das zieht auch philosophische Implikationen nach sich. Im Spanien zur Zeit von Cervantes war die vorherrschende Philosophie mehr oder weniger auf dem Stand der Scholastik des Mittelalters, einer vulgarisierten Version der Ideen von Aristoteles vermischt mit Platons Idealismus. Die einzigen echten Fortschritte in der Philosophie des Mittelalters verdanken wir den islamischen Philosophen und Wissenschaftlern von al-Andalus. Doch nachdem das christliche Spanien gerade aus einem langen Kreuzzug gegen die Mauren im Süden hervorgegangen war, wurden deren wissenschaftliche Erneuerungen verflucht. Die Kirche hielt die Philosophie wie auch alle anderen Aspekte des intellektuellen Lebens in einem Würgegriff. Eine Ausnahme bildete einzig und allein die Literatur.
Die christlichen Scholastiker verbrachten ungebührlich viel Zeit mit Debatten über das Geschlecht der Engel oder die Frage, wie viele Engel auf einem Stecknadelkopf tanzen könnten. Cervantes parodiert diese universitären Debatten in der lustigen Kontroverse um den Helm des Ritters Mambrin. Dennoch ist Don Quijote selbst ebenfalls ein philosophischer Idealist. Im zehnten Kapitel liefert er seine übliche Ansprache über die Prinzipien der Ritterlichkeit, in der er, frei von jedem Zweifel, beweist, dass Ritter (und implizit auch ihre Knechte) nicht essen müssen:
„Wie schlecht verstehst du dich darauf! Antwortete Don Quijote. Ich tue dir zu wissen, daß es den fahrenden Rittern eine Ehre ist, einen ganzen Monat nichts zu essen, und selbst wenn sie essen, nur, was ihnen gerade zu handen kommt; und das würde dir außer Zweifel stehen, wenn du wie ich so viele Geschichten gelesen hättest. Und so viele es deren waren, so habe ich doch in keiner von allen berichtet gefunden, daß die fahrenden Ritter gegessen hätten, wenn es nicht durch Zufall oder bei köstlichen Festmahlen geschah, die man ihnen gab. Die andren Tage verbrachten sie mit schönen Redensarten. Und wiewohl sich begreifen läßt, daß sie nicht ohne Essen und ohne Verrichtung aller andren natürlichen Bedürfnisse bestehen konnten, denn am Ende waren sie Menschen wie wir, so muß man auch begreifen, daß, sintemal [veraltet für weil] sie den größten Teil ihres Lebens durch Wälder und Einöden und ohne einen Koch hinzogen, ihre gewöhnlichste Nahrung in ländlicher Kost, solcher, wie du sie mir jetzt anbietest, bestanden haben muß. Sonach, Freund Sancho, betrübe dich nicht über das, was mir gerade recht behagt; wolle du nicht eine neue Welt schaffen oder das fahrende Rittertum aus seinen Angeln heben.“[10]
Sancho Panza jedoch ist ein überzeugter philosophischer Materialist und will davon nichts hören:
“Großen Dank, entgegnete Sancho; allein ich kann Euer Gnaden sagen, wenn ich was Gutes zu essen hätte, so würde ich ebensogut und noch besser es stehend und für mich allein essen, als wenn ich neben dem Kaiser säße. Ja, wenn ich die Wahrheit sagen soll, weit besser schmeckt mir, was ich in meinem Winkel ohne Umstände und Reverenz verzehre, wenn´s auch nur Brot mit einer Zwiebel ist, als die Truthähne andrer Tafeln, wo ich genötigt wäre, hübsch langsam zu kauen, wenig zu trinken, mich jeden Augenblick abzuwischen, nicht zu niesen noch zu husten, wenn mir´s kommt, und noch andre Dinge zu unterlassen, die das Frei- und Alleinsein vergönnt. Sonach, edler Herre mein, diese Ehren, die Euer Gnaden mir dafür antun will, daß ich Diener und Genosse der fahrenden Ritterschaft bin, wie ich es denn als Euer Gnaden Schildknappe wirklich bin, verwandelt sie in etwas andres, das mir ersprießlicher und vorteilhafter sein würde; denn selbige Ehren, obschon ich sie für richtig empfangen annehme, ich verzichte darauf für alle Zeit von jetzt ab bis zum Ende der Welt.“[11]
Es stellt sich heraus, dass Sancho Panza wohl doch nicht so dumm ist. Seine Aussprüche zeugen vom bodenständigen Hausverstand der Massen. Er steht mit beiden Füßen im Leben und lebt in der realen Welt, die Don Quijote längst verlassen hat. Er isst, trinkt, niest, schläft und verrichtet auch alle anderen Körperfunktionen, die sein Meister so geringschätzt. Tatsächlich sorgt sich Sancho vor allem um seinen Bauch (wohl nicht zufällig lautet sein Nachnamen Panza, das spanische Wort für „Bauch“). Einmal fragt er seinen Meister, wie hoch der gängige Lohn für Schildknappen fahrender Ritter sei, und ein anderes Mal sagt Don Quijote: „Wohl hätte ich durch lange Erfahrung belehrt sein müssen, daß kein Bauernlümmel sein gegebenes Wort hält, wenn er sieht, daß es ihm nicht dienlich ist, es zu halten.“[12]
Die Kirche
Im 15. und 16. Jahrhundert verkörperte das katholische Spanien die Vorhut der Reaktion in Europa. Es war das Zeitalter der Reformation und der Gegenreformation. Die römisch-katholische Kirche stellte einen zentralen Stützpfeiler der etablierten Ordnung dar und verteidigte unerbittlich ihre Macht und Privilegien gegen den neuen Zeitgeist. In diesem blutigen Krieg um die Seelen der Menschen wurde nicht nur mit der Waffe des Wortes, sondern auch mit Feuer und Schwert gekämpft. Die Kirche nahm die Bibel ernst: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“
Die römisch-katholische Kirche war in Spanien allmächtig – eine Tatsache, die dadurch unterstrichen wird, dass Kardinal Cisneros nach dem Tod von Ferdinand II. die Regierungsgeschäfte übernahm. Nach nur zwei Jahren Regierungszeit ernannte er Karl, den Enkel der katholischen Monarchen Ferdinand und Isabella, zum König. Karl I. (als Karl V. später auch Kaiser) verfolgte eine Strategie der Zentralisierung, im Zuge dieser Madrid schließlich zur Hauptstadt wurde.
Spanien war eine von Priestern dominierte Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass die Inquisition in Spanien besonders brutal war und hier auch die Societas Jesu (die Jesuiten) von dem baskischen Fanatiker San Ignacio de Loyola als militante Schocktruppe der Gegenreformation gegründet wurde. Philipp II. war so besessen von der Religion, dass er unfähig war, auch nur die kleinste politische Entscheidung zu treffen, ohne vorher seine priesterlichen Berater zu fragen.
Madrid und andere spanische Städte waren geprägt von religiösen Institutionen, Kirchen und Klöstern von Ordensgemeinschaften wie den Dezcalzas, Nonnen, die sich selbst demütigten, indem sie nur barfuß gingen, wie ihr Name schon sagt. Auf der neu errichteten Plaza Mayor in Madrid fanden allerlei Spiele und Spektakel zur Unterhaltung der Öffentlichkeit statt – darunter auch das spektakulärste Ereignis von allen: die Autodafé, die öffentliche Verkündung und Vollstreckung des Urteils der Inquisition.
Die Religion durchdrang die spanische Gesellschaft bis in die letzte Pore, was jedoch keine bemerkbaren Auswirkungen auf die öffentliche Moral zu haben schien. Die niederen Stände waren zwar nach außen hin fromm, aber besessen von abergläubischem Fetischismus, der nichts dazu beitrug, sie zu Mäßigung anzuhalten. Tausende sammelten sich auf der Plaza de la Cebada, um den Tiraden irgendeines halbverrückten Mönchs zu lauschen. Die weit verbreitete Obsession für die Götzenanbetung veranlasste sie dazu, den Putz von den Kirchenwänden zu kratzen und diesen gleich einer Reliquie aufzubewahren.
Doch dieser um sich greifende religiöse Fanatismus war kein Mittel gegen die ausufernde Gewalt in Form von Raub, Vergewaltigung, Mord, Fehden und Duellen. Von der Regentschaft des engstirnigen religiösen Fanatikers Philipp II. bis hin zu der des liederlichen Philipp IV. erreichte die Sittenlosigkeit ihren spektakulären Tiefpunkt. Die Kirche selbst spiegelte die generelle Moral der Zeit wider. Es gab Mönche, die an Raubüberfällen, Vergewaltigungen und Morden beteiligt waren. Täglich kam es zu Dutzenden von bewaffneten Duellen. Nachts war es alles andere als ratsam, sich auf die Straße zu begeben, und die Straßenbeleuchtung beschränkte sich auf jene Lampen, die vor den Jungfrauen- und Heiligenbildern an den Hauswänden flackerten.
Die Kirche, die eigentlich vorgab, die Beschützerin der öffentlichen Moral zu sein, war in Wahrheit eine Brutstätte politischer Intrigen. Ihr fanatisches Beharren auf der Aufrechterhaltung der angeblichen Reinheit der katholischen Lehre war im Grunde eine Maßnahme zur Festigung der kirchlichen Kontrolle über alle Lebensbereiche. Diese geistliche Diktatur, die sich auf die Inquisition – die Gestapo des Mittelalters – stützte, war nur eine weitere Manifestation des bürokratischen Staates, der in Spanien herrschte und den Niedergang des Landes verwaltete.
Intoleranz und Fanatismus prägten das gesellschaftliche Leben. Nach der Eroberung Granadas wurden Muslime gezwungen, zum Christentum zu konvertieren oder Spanien zu verlassen. Viele konvertierten, um in ihrer Heimat bleiben zu können, doch sie waren allerlei schikanösen Einschränkungen und Kontrollen seitens der Inquisition ausgesetzt. Die Diskriminierung ging so weit, dass jede maurische Familie gezwungen wurde, einen Schinken in der Küche aufzuhängen, und eine „Schinken-Polizei“ wurde eingesetzt, um in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob diese Schinken auch gegessen wurden. Dennoch wagt es Cervantes in Don Quijote wohlwollend über die Moriscos zu sprechen.
Mit dem berühmten Ausspruch von Don Quijote „Con la Iglesia hemos tropezado, Sancho“ („Auf die Kirche sind wir gestoßen“) hat Cervantes ein geflügeltes Wort geschaffen.
Don Quijote war zwar bereit, gegen Windmühlen anzukämpfen, doch er musste es sich zwei Mal überlegen, ob er es mit der Kirche aufnehmen soll. Selbstverständlich musste Cervantes vorsichtig sein in einer Zeit, als die Inquisition Männer und Frauen für die trivialsten Vergehen auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Er hielt sich den Rücken frei, indem er beteuerte, ein gläubiger Christ zu sein. Es ist jedoch deutlich, dass seine Haltung zumindest gegenüber der organisierten Religion kritisch, wenn nicht offen feindselig war. Wenn man Don Qujiote aufmerksam liest, dann wird man schnell erkennen, dass sich die Kritik an der Kirche wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Im fünften Kapitel sagt Quijotes Nichte:
„Aber ich selbst bin schuld an allem, weil ich euch Herren nicht von den Narreteien meines Herrn Obheims in Kenntnis gesetzt, damit ihr abgeholfen hättet, bevor es dahin kam, wohin es gekommen, und alle diese verfluchten Bücher, – deren er viele besitzt, – verbrannt hätte; denn wohl verdienen sie das Feuer, als wenn sie Ketzer wären.“[13]
Dies wird prompt in die Tat umgesetzt, wenn im nächsten Kapitel alle seine Bücher Opfer der Flammen werden.
„Diese Nacht vertilgte die Haushälterin mit Feuer und Brand alle Bücher, soviel deren im Hofe und im ganzen Hause waren und manche wohl mochten mitverbrennen, die verdienten, in unvergänglichen Archiven aufbewahrt zu werden; allein ihr Schicksal und die Trägheit des Untersuchungsrichters ließ es nicht zu, und so erfüllte sich an ihnen der Spruch, daß oftmals die Gerechten für die Sünder zahlen.“[14]
Hier haben wir offensichtlich eine Parodie auf die Autodafés der Inquisition, die die Hauptplätze der spanischen Städte mit dem Gestank verbrannten Fleischs erfüllten. In diesen brutalen Zeremonien wurde allzu oft Unschuldigen Leid zugefügt, während die Schuldigen dem Spektakel vorsaßen. Auch bei anderen Gelegenheiten spricht Don Quijote geringschätzig über die Kirche. In einer Zeit, in der die Heilige Inquisition absolute Macht über Leben und Tod hatte, war es heldenhaft, aber auch leichtsinnig, eine solche Position zu veröffentlichen. Im dreizehnten Kapitel sagt jemand, dass kartäusische Mönche ein ähnlich karges Leben führen wie fahrende Ritter. „So streng mag er [der Beruf der der Kartäuser Mönche; Anm.] wohl sein, erwiderte Don Quijote; aber so notwendig in der Welt, da bin ich nicht zwei Finger breit davon entfernt, es zu bezweifeln.“[15]
Ein rebellischer Geist
Zwischen den Zeilen finden sich auf fast allen Seiten von Don Quijote gesellschaftskritische Elemente. Der Geist der Rebellion zieht sich durch das gesamte Werk. In der Vorrede des Autors lesen wir:
„denn du bist weder sein Verwandter noch sein Freund, hast deinen eignen Kopf und deinen freien Willen wie der Allertüchtigste auf Erden und sitzest in deinem Hause, darin du der Herr bist wie der König über seine Steuergelder, und weißt, was man gemeiniglich zu sagen pflegt: unter meinem Mantel kann ich den König umbringen. Alles dieses enthebt und befreit dich von jeder Rücksicht und Verpflichtung, und so kannst du von dieser Geschichte alles sagen, was dir gut dünkt, ohne zu besorgen, daß man dich schelte ob des Bösen, noch belohne ob des Guten, das du von ihr sagen magst.“[16]
Don Quijote ist instinktiv ein Kommunist. In einer Ansprache an einige ungläubige Ziegenhirten spricht er über ein längst vergangenes Goldenes Zeitalter, in dem alle Dinge gemeinsam besessen wurden:
„Glückliche Jahrhunderte, glückliche Zeitalter, dem die Alten den Namen des goldnen beilegten, und nicht deshalb, als wäre das Gold, das in unsrem eisernen Zeitalter so hoch geschätzt wird, in jenem beglückteren ohne welche Mühe zu erlangen gewesen, sondern weil, die damals lebten, die beiden Worte dein und mein nicht kannten. In jenem Zeitalter der Unschuld waren alle Dinge gemeinsam. Keiner bedurfte, um seinen täglichen Unterhalt zu gewinnen, einer andern Mühsal, als die Hand in die Höhe zu strecken, um ihn von den mächtigen Eichen herabzuholen, die freigebig jeden zu ihren süßen gereiften Früchten einluden.“[17]
Dieses Goldene Zeitalter vergleicht er mit der Gegenwart, in der Geld und Gier jeden Aspekt des Lebens und Denkens bestimmen:
„Jetzt aber, in diesen unsren abscheulichen Zeiten, ist keine sicher, wenn auch ein neues Labyrinth wie das kretische sie verbärge und verschlösse; denn auch hier dringt mit der Anreizung der verruchten Umwerbungen die Liebespest herein und bringt ihre ganze Enthaltsamkeit zum Scheitern. Ihnen zur Beschirmung wurde, da im Fortgang der Zeiten die Schlechtigkeit stets höher wuchs, der Orden der fahrenden Ritter eingesetzt, um die Jungfrauen zu verteidigen, die Witwen zu schützen und den Waisen und Hilfsbedürftigen beizustehen. Zu diesem Orden gehöre auch ich, ihr guten Ziegenhirten, denen ich für die Gastlichkeit und freundliche Aufnahme, die ihr mir und meinem Schildknappen zuteil werden lasset, herzlich danke; denn obwohl nach dem Naturgesetz jeder Lebende verpflichtet ist, den fahrenden Rittern Gunst zu erweisen, so weiß ich doch, daß ihr, ohne diese Verpflichtung zu kennen, mich aufgenommen und wohl bewirtet habt; und darum ist es recht und billig, daß ich mit aller Freundlichkeit, deren ich fähig bin, die eure dankend anerkenne.“[18]
Es war eine Meisterleistung von Cervantes, diese tollkühne Gesellschaftskritik in den Mund eines Verrückten zu legen. Jeder Revolutionär in der Geschichte wurde von seinen Zeitgenossen als verrückt angesehen. Für die meisten Menschen ist es rational, den Status quo zu akzeptieren, und wer auch immer die bestehende Ordnung nicht akzeptiert, ist per Definition irrational – verrückt.
Hegel schrieb: „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich.“ Diese Aussage wurde zur Rechtfertigung des Status quo missbraucht. Doch wie Engels erklärt: „Bei Hegel aber ist keineswegs alles, was besteht, ohne weiteres auch wirklich. Das Attribut der Wirklichkeit kommt bei ihm nur demjenigen zu, was zugleich notwendig ist;“ In Hegels Worten: „Die Wirklichkeit erweist sich in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit.“
Das Notwendige erweist sich in letzter Instanz auch als vernünftig.
Es muss nicht sonderlich betont werden, dass aus einer marxistischen Perspektive alles aus einer Notwendigkeit heraus existiert. Doch die Dinge sind in permanenter Veränderung, entwickeln sich, werden verändert, und es entstehen innere Widersprüche, die schlussendlich ihre Zerstörung hervorrufen. So verlieren sie die Eigenschaft, notwendig zu sein, und treten somit in einen Widerspruch zur Wirklichkeit. Der Boden, auf dem die herrschende Ordnung aufbaut, beginnt zu beben. Jene, die sich selbst als große Realisten sehen, stellen sich jetzt als die reaktionärsten Utopisten heraus, während jene, die zuvor als Träumer und Verrückte abgetan wurden, als die einzig Vernünftigen auftreten, in einer Welt, die verrückt geworden ist.
In einer historischen Epoche, in der ein überlebtes sozioökonomisches System sich im Niedergang befindet, verlieren jene Ideologien, Sitten, Werte und Religionen, die vorher die Gesellschaft zusammenhielten, ihre Anziehungskraft. Die alten Ideen und Werte erscheinen nur noch lächerlich. Jene, die daran festhalten, werden zu Witzfiguren, so wie Don Quijote. Es wird deutlich, dass jede Moral ein historisches Ablaufdatum hat. Was schlecht war, wird gut, und was gut war, wird schlecht.
Der langsame und schmachvolle Abstieg Spaniens
„Die Entdeckung Amerikas, die Spanien zuerst reich und stark machte, wirkte sich in der Folge zu seinem Nachteil aus. Die großen Handelswege wandten sich von der iberischen Halbinsel ab. Das reich gewordene Holland riss sich von Spanien los. Nach Holland erhob sich England für lange Zeit weit über Europa. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte der Abstieg Spaniens begonnen. Dieser Abstieg nahm mit der Zerstörung der Großen Armada (1588) einen sozusagen offiziellen Charakter an. Der Zustand einer, wie Marx es nannte, ‚unrühmlichen und langwierigen Fäulnis‘ richtete sich in dem feudal-bürgerlichen Spanien ein.“ (Trotzki, Die Revolution in Spanien, 1931)
Unter der glänzenden Oberfläche begann Spaniens Fundament bereits zu bröckeln. Sein ganzes soziales Gefüge war verfault. Trotz des desaströsen Zustands der Staatsfinanzen entschied man sich dafür, den Krieg mit Holland weiterzuführen. Um Söldnertruppen in Spanien und Deutschland rekrutieren zu können, ließ das Schatzamt falsche Vellón-Münzen prägen, was eine explodierende Inflation nach sich zog. Der endgültige Zusammenbruch kam langsam und schmachvoll.
Doch nicht nur die Währung verlor an Wert. Die Monarchie war völlig verkommen, und der Hof war eine einzige Kloake der Sittenlosigkeit und des Lasters. Während der Herrschaft von Philipp IV. erreichte diese Sittenlosigkeit ein extrem skandalöses Ausmaß. Der Monarch selbst hatte, wenn er nicht gerade in El Pardo, El Escorial und Aranjuez auf der Jagd war, zahlreiche Affären und war somit umgeben von einer beträchtlichen Heerschar an Mätressen, Geliebten und unehelichen Kindern. Unter diesen Kindern war das berühmteste der Prinz Juan José de Austria, dessen Mutter eine Schauspielerin war, die unter dem Namen La Caldonera bekannt war. Auch die Königin machte kein Geheimnis aus ihrer Affäre mit dem Herzog von Villamedina.
Als die führende Kraft der Gegenreformation war Spanien stets rückwärtsgewandt und versuchte den Lauf der Geschichte aufzuhalten – eine quijotische (weltfremde) Strategie. Wie auch Don Quijote blieb Spanien erfolglos beim Versuch, das Rad der Zeit aufzuhalten. Es verdammte sich damit aber selbst zum Niedergang auf allen Ebenen. Spanien glich bereits einem Riesen auf tönernen Füßen, und seine militärischen Abenteuer gegen die Niederlande sollten sein letzter Sargnagel sein. Innerhalb sehr kurzer Zeit befreite sich Holland aus den Fängen Spaniens, das innerhalb kürzester Zeit selbst Opfer militärischer Aggression wurde.
Die Inquisition wurde allmächtig und verkörperte ein Terrorregime, in dem Folter und Verbrennungen üblich waren. 1680 war die Plaza Mayor Schauplatz einer spektakulären Autodafé. Der Gestank verbrannten Fleischs vergiftete Spaniens Seele und machte die Köpfe wahnsinnig. Der Obskurantismus reichte bis in die höchsten Stellen des Staates. Diese allgemeine Stimmung spiegelte sich auch in der Kunst jener Periode wider, die bis auf wenige nennenswerte Ausnahmen von engstirnigem und gedankenlosem Fanatismus geprägt war.
Der Niedergang Spaniens ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft, die unfähig ist, ihre Produktivkräfte weiterzuentwickeln, ihrem eigenen Erfolg zum Opfer fällt. „Hochmut kommt vor dem Fall“, besagt das Sprichwort. Die Arroganz des imperialen Spaniens findet sein modernes Gegenstück in den USA. So wie Spanien im 16. Jahrhundert die mächtigste und reichste Nation der Welt war, sind dies heute die USA. So wie Spanien damals das Zentrum der Konterrevolution darstellte, so nehmen heute die USA diese Rolle ein. Und so wie sich Spanien damals mit seinen militärischen Abenteuern übernahm und sich selbst schwächte, so übernehmen sich heute die USA in der Weltarena.
Die Parallelen sind offensichtlich und erstrecken sich bis in die Sphären der Ideologie und der Religion. Präsident George W. Bush ist ein engstirniger religiöser Fanatiker, genau wie es Philipp II. war, und er ist genauso versessen darauf, die absolute Vormachtstellung auf der Welt zu erlangen. Diese Parallelen sind kein Zufall. Wir leben in einer Periode großen historischen Wandels – eine Übergangsperiode, ähnlich der des 16. Jahrhunderts. Doch während die damalige Welt Zeuge des Niedergangs des Feudalismus wurde und der Kapitalismus in dieser Epoche unaufhaltsam seinen Siegeszug antrat, beobachten wir jetzt den Todeskampf des Kapitalismus. Die Welt bewegt sich heute unweigerlich in Richtung einer neuen Gesellschaftsordnung – dem Sozialismus.
Diejenigen, die den Mut haben, zu sagen, was ist, werden als Utopisten, Träumer und Verrückte bezeichnet. Wir teilen uns diese Ehre mit Don Quijote. Wir sind in der Welt des Kapitalismus genauso wenig zu Hause wie unser illustrer Vorfahre. Doch im Gegensatz zu ihm streben wir nicht danach, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Wir wollen auch nicht in ein Goldenes Zeitalter zurückkehren, das so niemals existierte. Im Gegenteil, wir wollen entschlossen vorwärts schreiten zu einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung.
Wir brauchen keine Träume und Illusionen, wir stehen mit beiden Beinen in der realen Welt. In dieser Hinsicht treten wir wohl mehr in die Fußstapfen des edelmütigen, proletarischen Sancho Panza mit seinem gesunden Menschenverstand. Doch mit dem Ritter von La Mancha teilen wir den erbitterten Hass auf jede Form von Ungerechtigkeit. Wir teilen mit ihm die Fähigkeit, über die engstirnige Begrenztheit der bürgerlichen Spießer hinauszugehen. Wie Don Quijote wünschen wir uns eine bessere Welt, als die, in der wir leben, und wir teilen seinen Mut im Kampf für Veränderung.
[1] Karl Marx (1867/1968): Das Kapital. Band 1, in MEW Bd 23. Dietz Verlag, Berlin, S. 744f.
[2] W. H. Prescott (1962): History of the Reign of Ferdinand and Isabella. George Allen & Unwin, S. 740.
[3] Marx: Kapital. Band 1, S. 761f.
[4] Ebd., S. 96.
[5] Miguel de Cervantes (1923/2006): Don Quijote von der Mancha. Anaconda Verlag, Köln, S. 14.
[6] Ebd., S. 532.
[7] Ebd., S. 28.
[8] Ebd., S. 60.
[9] Ebd., S. 59.
[10] Ebd., S. 83.
[11] Ebd., S. 85
[12] Ebd., S. 344.
[13] Ebd., S. 46.
[14] Ebd., S. 57.
[15] Ebd., S. 102.
[16] Ebd., S. 2.
[17] Ebd., S. 86.
[18] Ebd., S. 87f.