Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats – Ein Leseleitfaden

Nach dem Tode von Karl Marx im Jahr 1883, nahm sein enger Freund und Mitstreiter Friedrich Engels die kolossale Aufgabe auf sich, mit Hilfe der von Marx hinterlassenen Manuskripten die Bände 2 und 3 des Kapitals vorzubereiten. Während seiner Arbeit stieß er auf die Notizen von Marx zu „Die Urgesellschaft“, einem Werk des amerikanischen Anthropologen Lewis Henry Morgan. Auf Basis der Notizen, Morgans Arbeit und umfangreicher Forschung schritt Engels zur Produktion von „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, einem wahren Meisterwerk des Historischen Materialismus und eine der großartigsten Schriften marxistischer Theorie aller Zeiten.
In seinem Werk geht Engels auf viele der bahnbrechendsten anthropologischen Studien seiner Zeit ein und erklärt die materielle Basis der Frauenunterdrückung und des Staats. Hierbei zeigt er, dass diese keine zeitlosen, ewigen Phänomene sind und sich vielmehr als Produkte der Geschichte gemeinsam mit der Teilung der Gesellschaft in widerstreitende Klassen entwickelten. Ihre Existenz würde mit der Abschaffung des Privateigentums beendet. So schrieb er: „Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“
Engels inspirierte und lehrte mit seinen revolutionären Schlussfolgerungen ganze Generationen von Marxisten. Lenin, der einen Großteil seines Klassikers „Staat und Revolution“ auf Engels Schrift stützte, beschrieb sie als eine der grundlegendsten Arbeiten des modernen Sozialismus. Fast 140 Jahre nachdem es verfasst wurde, bleibt es Pflichtlektüre für jeden, der die Welt sowohl verstehen als auch verändern will.
In den Vorworten stellt Engels eine prägnante Erklärung der materialistischen Geschichtsauffassung auf, um darauffolgend die Entwicklung der Ideen über die Geschichte der Familie zu diskutieren. Hierbei konzentriert er sich auf Forscher wie Bachofen, McLennenm und schließlich Morgan, dessen Buch „Die Urgesellschaft“ (neben den von Marx verfassten Notizen zu dem Buch) die Arbeit von Engels maßgeblich beeinflussten.
Im ersten Kapitel fasst Engels Morgans Schlussfolgerungen zur Anthropologie zusammen, welche sich aus „Die Urgesellschaft“ ergeben. Morgan unterteilt die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in drei Stufen: Wildheit, Barbarei und Zivilisation. Diese werden wiederum in obere, mittlere und untere Stufen aufgeteilt. Auch wenn die Begriffe Wildheit und Barbarei in der modernen Anthropologie nicht mehr genutzt werden, folgen heutige Anthropologen weiterhin diesem grundlegenden Schema.
Die Wildheit wird nun als Altsteinzeit bzw. fachsprachlich Paläolithikum bezeichnet, welches in Alt-, Mittel- und Jungpaläolithikum eingeteilt wird. Das Altpaläolithikum begann mit dem Zeitpunkt, auf welches die ältesten bekannten Steinwerkzeuge zurückgehen (vor ca. 3,3 Mio. Jahren) und fiel mit dem Ursprung der ersten Hominini (unseren direkten Vorfahren) zusammen. Es dehnte sich bis zur Zeit vor 300.000 Jahren, als der physiologisch moderne Mensch (Homo sapiens) zum ersten Mal auftauchte. Das Mittelpaläolithikum
markiert die Kindheit unserer Spezies, als wir steinerne Handäxte entwickelten (dies zeigt einen beachtlichen kognitiven Sprung an). Das Jungpaläolithikum begann vor ca. 50.000 und endete vor 12.000 Jahren.
Die Etappen der unteren Stufe der Barbarei, die Engels beschrieb, werden mittlerweile ins Jungpaläolithikum oder ins Mesolithikum (die Mittelsteinzeit) eingeordnet. Gesellschaften, welche sich auf dieser Stufe befanden, werden zuweilen (insb. im Englischen) als „transegalitäre“ Jäger und Sammler bezeichnet (d.h. Gesellschaften, die sich im Übergang von egalitären Ordnungen zum sozial geschichteten Häuptlingstum befinden). Andere Teile der unteren Stufe, gemeinsam mit den Mittelstufen der Barbarei, werden nun als Neolithikum (Jungsteinzeit oder Neusteinzeit) bezeichnet. Sie sind charakterisiert durch die Entwicklung von Ackerbau, Viehzucht und Töpferei.
Engels setzt den Beginn der Oberstufe der Barbarei an den Zeitpunkt der technologischen Entdeckung der Eisenschmelze und platziert die antiken Griechen zur Zeit Homers auf dieser
Entwicklungsstufe. Spätere Entdeckungen legen den Beginn an einigen Orten der Erde noch früher ins Chalkolithikum (Kupfersteinzeit). Entscheidend ist, dass alle Gesellschaften dieser Stufe durch Metallverarbeitung und eine aufkeimende Verstädterung mit beginnender sozialer Schichtung und Ungleichheit geeint wurden. Kurz: diese Gesellschaften bewegten sich auf die nächste Stufe – die Zivilisation – zu.
Wichtige Begriffe:
Diskussionsfragen:
Hier führt Engels viele der Ideen aus, welche Morgan zur Entwicklung menschlicher Verwandtschaftsbeziehungen formulierte. Die Entwicklung der Familie wird über vier Hauptstufen skizziert: Blutsverwandtschaftsfamilie, Punalua-Familie (Gruppenfamilie), Paarungsfamilie und schließlich die monogame Familie. Die ersten drei Stufen werden als evolutionäre Entwicklungen betrachtet – Formen natürlicher Auslese, welche Inzest nach und nach unmöglich machen und in einer intelligenteren und gesünderen Spezies resultieren. Nur die letzte Stufe, die Monogamie, ist eine ökonomische Entwicklung, welche von der Entwicklung des Privateigentums vorangetrieben wurde. Mit der Entstehung der Monogamie, so Engels, wäre auch das Patriarchat entstanden
Wichtige Begriffe:
Diskussionsfragen:
In diesem Kapitel diskutiert Engels ein Beispiel der Entwicklung der Familie und eine Form sozialer Organisation, die keinen Staat benötigt. Zuerst diskutiert er die Irokesen, deren Familienstruktur und soziale Institutionen von Morgan genau analysiert wurden. Durch die Beschreibung der irokesischen Gens demonstriert Engels, dass es für Menschen möglich ist, auf einer egalitären Grundlage ohne Sklaverei und Staatsgewalt zusammenzuleben. Allerdings hätten diese egalitären Gesellschaften nach Engels nur so lange bestehen können, weil die Stufe ihrer ökonomischen Entwicklung relativ niedrig war. Als die Entwicklung der Produktivkräfte eine größere und verlässlichere Überschussproduktion ermöglichte, besonders durch die Entwicklung des Ackerbaus, musste „[d]ie Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen […] gebrochen werden – sie wurde gebrochen.“
Diskussionsfragen:
Diese Kapitel verfolgen die Entwicklung von Gentil- zur Klassengesellschaften und die Entwicklung des Staats in Athen. An dieser Stelle steuert Engels große Beiträge zu Morgans
Ideen bei, indem er die Entstehung der Zivilisation aus der Barbarei durch mächtige ökonomische Kräfte erklärt, statt sie einfach als Produkt herausstechender Individuen oder
neuer kultureller Ideen zu betrachten. Er erklärt, dass die Ursprünge des athenischen Staats tatsächlich auf massive soziale Unruhen zurückgeführt werden können. Diese wurden durch
die Entwicklung des Geldes verursacht, welches „wie zersetzendes Scheidewasser“ (Salpetersäure) ins Leben der ländlichen Gemeinschaft eindrang. Die Bauern blieben auf dem Land, für das sie erpresserische Pachten zahlten. Jene, die sich dies nicht leisten konnten, waren dazu gezwungen, sich selbst und ihre Kinder in die Sklaverei zu verkaufen, um ihre Schulden zu begleichen.
Das eröffnete eine Periode sozialer Unruhen, welche so gewaltig wurden, dass sie die Notwendigkeit für einen Staat begründeten – ein Staat der die Interessen der besitzenden Klasse verteidigen und wenn nötig, ihre schlimmsten Exzesse im Namen der Ordnung zügeln kann.
Wichtige Begriffe:
Diskussionsfragen:
Dieses Kapitel behandelt die Herausformung des römischen Staats aus der Gentilverfassung in Rom. Engels beschreibt die römische Gens im Allgemeinen als der griechischen Gens ähnlich. Sie war exogam, mit gewählten Oberhäuptern sowie in Phratrien organisiert, curia genannt. Als Handel und Reichtum in der römischen Gesellschaft wuchsen, musste die Gens nicht mehr aus der Not der Knappheit heraus komplett gleich sein. Da nun Überschuss produziert werden konnte, musste auch nicht jeder der Arbeit auf dem Land nachgehen. Der Senat bestand aus gewählten Mitgliedern der Gens. In der neuen römischen Gesellschaft entstanden aus dieser Gruppe die „Patrizier“ und mit ihnen die Ursprünge des Erbadels.
Die römischen Eroberungen sorgten unterdessen für die Eingliederung von Menschen, welche keiner Gens angehörten – diese wurden als Plebejer bezeichnet und besaßen keine Bürgerrechte. Dem konnte die alte Gentilverfassung keinen Widerstand leisten. Aus dem Konflikt zwischen Plebejern und alter Ordnung erwuchs die Teilung der Gesellschaft in eine neue Verfassung, welche auf Reichtum basierte. Eine neue (staatliche) Versammlung entstand, welche aus „Klassen“ bestand, die sich durch Eigentum unterschieden. Im Endeffekt war dies ein vollständiger Staat durch den die Geschichte Roms, mit der Ersetzung der Bauern durch Sklaven, freien Lauf nehmen konnte.
Diskussionsfragen:
In diesem Kapitel benennt Engels Belege für die Gentilorganisation innerhalb schottischer, irischer und germanischer Stämme und schreitet weiter zur Erklärung der von Tacitus im 1. Jahrhundert u. Z. beobachteten Gentilverfassungen bei den Germanen, welche sich später zu den ersten Feudalstaaten weiterentwickeln sollten und aus der Eroberung des zerfallenden
römischen Europas entstanden.
Gegen Ende des 5. Jahrhunderts wurde das Römische Reich immer schwächer. Es kämpfte mit allgemeiner Verarmung, Rückgang in Handel und Handwerk, einer schrumpfenden
Bevölkerung, dem Zerfall der Städte sowie dem Rückfall der Landwirtschaft auf eine niedrigere Ebene. Als die Sklaverei abnahm wurden Bauern, colonii genannt, kleine Stücke Land gegeben, auf
die sie jährliche Pacht zahlten. Sie waren ans Land gebunden und konnten gemeinsam mit diesem verkauft werden. Sie waren weder Sklaven noch Freie – die Vorläufer der Leibeigenen des Feudalismus.
Die Germanen übernahmen mit ihren Eroberungen große Teile des Landes. Mit dem Voranschreiten der Zeit schwächten sich die Blutsbande innerhalb der Gens mit zunehmender Integration von Römern in die germanischen Gesellschaften ab. Allerdings mussten die Germanen nun das organisieren was sie eroberten. Es bestand die Notwendigkeit, etwas an die Stelle des alten römischen Staats zu setzen. Der Ersatz war ein neuer Staat. Da der unmittelbare Vertreter der erobernden Völker ihr Heerführer war, begann die Transformation der Heeresführung ins Königtum.
Wichtige Begriffe:
Diskussionsfragen:
Im letzten Kapitel fasst Engels den Inhalt des gesamten Werks zusammen, während er eine allgemeine Theorie zur Entwicklung von Verwandtschaftsbeziehungen, der Entstehung des Privateigentums (d.h. der Klassengesellschaft) und des Staats aufspannt. Jedoch ist es keine bloße Zusammenfassung der vorangegangenen Kapitel. Engels zeigt explizit auf, warum bestimmte Bedingungen für Entwicklung und Untergang der (bürgerlichen) monogamen Familie, der Frauenunterdrückung, der Klassengesellschaft und des Staats notwendig sind.
Das Kapitel ist, wie auch der gesamte Text, eine scharfe Zurückweisung der nichtmaterialistischen und unwissenschaftlichen Idee, dass die menschliche Gesellschaft nicht wie der Rest der Natur allgemeinen Gesetzen unterworfen sei. Dieses Kapitel wird auch in langen Auszügen in Lenins „Staat und Revolution“ zitiert, da es den Grundstein für die marxistische Herangehensweise an den Staat legt.
Wichtige Begriffe:
Diskussionsfragen: