Arbeitskampf und Klassenbewußtsein bei den Arbeitern der städtischen Müllabfuhr von Villahermosa (Tabasco, México)
Im Jänner 1997 fand in Mexico Stadt der Arbeitskonflikt zwischen der Stadtregierung von Villahermosa (Hauptstadt des Bundesstaates Tabasco) und ungefähr dreihundert Arbeitern der städtischen Müllabfuhr ein vorläufiges Ende. Die Arbeiter waren 1995 fristlos entlassen worden, weil sie bessere Arbeitsbedingungen – in erster Linie die Durchsetzung des Achtstundentags, die Bezahlung der Überstunden und eine Regulierung ihres Arbeitsverhältnisses – und die Anerkennung ihrer gewerkschaftsähnlichen Organisation und ihres Anführers Aquiles Magaña gefordert hatten. Nach zwei Märschen nach Mexico Stadt (fast 1000 km von Villahermosa entfernt), Hungerstreiks und Besetzungen öffentlicher Gebäude, konnten die Arbeiter ihre Forderungen zum Teil durchsetzen, 190 wurden wiedereingestellt und 110 erhielten eine Abfertigung. In Tabasco wurde ihre Organisation, die Frente Amplio de la Lucha Democratica (Breite Front des demokratischen Kampfes, FALD), zu einer der relevantesten, oppositionellen Kräfte gegenüber der Staatspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional, Institutionalisierte Revolutionäre Partei).
Beim Versuch zu klären, wie die Arbeiter diesen langen, zunächst aussichtslos erscheinenden Arbeitskonflikt durchhalten konnten, zeigt sich, daß eine der wichtigsten Handlungsressourcen das Gefühl der Zusammengehörigkeit war. Kollektives Handeln setzt eine gemeinsame Identität voraus und verstärkt diese, darin stimmen verschiedene theoretische Ansätze zur Erklärung sozialer Bewegungen überein (vgl. z.B. Dubet 1989, Melucci 1989, Sader 1990), aber wie ist, im Falle der Arbeiter von Villahermosa, diese Identität entstanden und worauf beruht sie? Bewußt verwende ich in diesem Zusammenhang das Konzept „Klassenbewußtsein“, obwohl es nicht einfach für die Analyse kollektiver Identitäten anwendbar ist. Nicht nur ist der Begriff, wahrscheinlich noch mehr als „soziale Klasse“, politisch belastet, außerdem lassen sich aus seiner Verwendung die unterschiedlichsten Fragestellungen ableiten. Es geht nicht nur darum zu untersuchen, wie eine bestimmte Klassenlage die Identität prägt, sondern um die Rekonstruktion des Prozesses, den Marx mit den zwei Begriffen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ umschreibt – wenn aus Individuen, die eine vergleichbare ökonomische Existenzgrundlage haben, ein organisiertes Kollektiv entsteht, das sich seiner Interessen und seiner Rolle in der Gesellschaft bewußt wird. Und das beinhaltet schlußendlich eine politische Frage, inwieweit es einen Anknüpfungspunkt für die Verwirklichung der Marxschen Hoffnung gibt, daß die Lohnabhängigen, über die Grenzen ihres Arbeitsverhältnisses hinaus, gemeinsam als politisches Subjekt, mit dem Willen die Gesellschaft zu verändern, agieren können. (vgl. Marx/Engels 1969: 26 ff)
1. Zur Entstehung von Klassenbewußtsein:
Bei der Verwendung des Klassenkonzeptes in der Sozialwissenschaft steht meistens die Analyse der Gesellschaftsstrukturen im Vordergrund, in erster Linie die Position, die ein Individuum innerhalb einer bestimmten Klassenstruktur einnimmt. (vgl. Wright 1997) Kann dann Klassenbewußtsein überhaupt empirisch erfaßt werden? Positionen im Produktionsprozeß prägen natürlich durch unterschiedliche Einkommen, Lebensstile und Prestige die Identität der Individuen, aber im marxistischen Verständnis läßt sich das Klassenbewußtsein nicht unbedingt auf diese unmittelbaren Befindlichkeiten oder Einstellungen reduzieren. Georg Lukacs argumentiert in seinem Text über das Klassenbewußtsein dagegen, daß einzel- oder massenpsychologische Einstellungen, Gedanken oder Motivationen als Klassenbewußtsein bezeichnet werden können. Das „wahre Bewußtsein“ begreife die Gesellschaft in ihrer Totalität, erkenne nicht nur den (bürgerlichen) Klassencharakter derselben, sondern auch die historische Aufgabe des Proletariats – die Durchführung der sozialistischen Revolution. Daher könne man, meint Lukacs, die Einstellungen von Arbeitern und Arbeiterinnen nicht als Maß für das Klassenbewußtsein nehmen, da diese von bürgerlichen Ideologien beeinflußt wären. Im schlechtesten Fall spiegelten sie ein „falsches“ (von der bürgerlichen Ideologie bestimmtes) Bewußtsein, im besten Fall nur eine Annäherung an das wahre Klassenbewußtsein wider. (vgl. Lukacs 1970: 125 f)
Wenn, wie bei Lukacs, die Arbeiterbewegung vor allem als spontane Bewegung begriffen wird, die zwar auf die Entwicklungen der ökonomischen Strukturen reagieren kann, aber selbst Opfer der herrschenden Ideologie ist, dann sind weder ihre Organisationen, wie Gewerkschaften oder Arbeiterparteien, noch ökonomische Kämpfe unbedingt Ausdruck von Klassenbewußtsein. Arbeitskämpfe können das „wahre Klassenbewußtsein“ nur dann ausdrücken, wenn sie den beteiligten Arbeiterinnen und Arbeitern dabei helfen die partikularistische Sichtweise der Wirklichkeit zu überwinden und damit einen weiteren Schritt hin zur sozialistischen Revolution bedeuten. Die Beurteilung obliegt, nach Lukacs, einer revolutionären Partei. Sie muß die Entwicklung jener ökonomischen Tendenzen, die die Konfrontation zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse immer mehr verschärfen, abschätzen können und diesen Prozeß sowie das revolutionäre Ziel artikulieren und dem Proletariat begreifbar machen. Der Klassenkonflikt spiegelt sich in einem ideologischen Kampf um das Bewußtsein des Proletariats wider, wo es um die Aufdeckung oder Verhüllung des Klassencharakters der Gesellschaft geht. Damit wird die revolutionäre Partei zur eigentlichen Trägerin und Vermittlerin des proletarischen Klassenbewußtseins. (vgl. ders. 159 ff)
Für die sozialwissenschaftliche Forschung bedeutet diese theoretische Position – die sich auch im strukturalistischen Marxismus von Nikos Poulantzas oder im analytischen Marxismus von Erik O. Wright findet – zuerst die Gesellschaftsstrukturen zu analysieren, aus diesen heraus Klassentypologien mit bestimmten materiellen Interessen zu konstruieren und ein bestimmtes kollektives Handeln abzuleiten. Daneben können Programme, Strategien und Taktik der Arbeiterorganisationen auf ihren mehr oder weniger revolutionären Inhalt hin analysiert werden. (vgl. z.B. Poulantzas 1987, Wright 1997) Wie aber die Männer und Frauen, die sich im kapitalistischen Arbeitsprozeß befinden, ihre Situation beurteilen oder welche Erwartungen sie haben, bleibt aus dieser Forschungsperspektive weitgehend ausgespart. Fast scheint es, als könnte man nicht ohne einer Partei auskommen, die in der Anlayse einer konkreten Situation die Klasse als politischen Akteur ersetzt und damit die Kluft zwischen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ schließt.
1.1. „Macht“ sich die Klasse selbst?
Vielleicht sollte Klasse nicht ausschließlich als Kategorie oder Position in einer Klassenstruktur verstanden werden, sondern als soziale Beziehung und historischer Prozeß? Statt sich darauf zu beschränken, die Aussagekraft der Kategorie „Arbeiterklasse“ und „Klassenbewußtsein“ an der sozialen Wirklichkeit zu überprüfen, könnte man diese – dem Ansatz des Historikers Edward P. Thompson folgend – als analytische Konzepte begreifen, die dabei helfen, gesellschaftliche Fakten zu „ordnen“ und aufeinander zu beziehen. (vgl. Thompson 1979)
Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse müssen dafür als Herrschafts- und Machtverhältnisse im eigentlichen Sinn begriffen werden, die sich nicht nur in der ökonomischen Sphäre, sondern auf allen Ebenen lokalisieren lassen. Damit können alle gesellschaftlichen Bereiche zu potentiellen Konfliktfeldern werden. Anstatt die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse ausschließlich aus der Position im Produktionsprozeß abzuleiten, wird angenommen, daß die gesamte Lebensweise – von Arbeit, Reproduktion, Freizeitverhalten bis zum sozialen Prestige – von einer bestimmten kapitalistischen Akkumulationslogik geprägt wird.
Ein Schlüsselkonzept bei Thompson, um zu verstehen, wie eine Akkumulationslogik das Bewußtsein und Handeln von Menschen prägt, ist die Erfahrung. (vgl. ders. 1979: 36) Menschen „erfahren“ Produktionsbeziehungen und Ausbeutung, nehmen dadurch sowohl ihre gemeinsamen – als auch die ihnen entgegengesetzten – Interessen wahr und beginnen gemeinsam für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen zu kämpfen. Dabei entdecken sie sich als Klasse – und die Erfahrung dieses sozialen Prozesses, kulturell interpretiert und verkörpert in Traditionen, Wertsystemen, Ideen und institutionellen Formen ist das Klassenbewußtsein: „Eine Klasse formiert sich, wenn Menschen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen – seien sie von den Vorfahren weitergegeben oder zusammen erworben – die Identität ihrer Interessen empfinden und artikulieren, und zwar sowohl untereinander als auch gegenüber anderen, deren Interessen von ihren eigenen verschieden (und diesen gewöhnlich entgegengesetzt) sind.“ (ders. 1987: 8)
Aus diesem Konzept lassen sich einige Annahmen ableiten, die für die Analyse der Bewegung der Arbeiter der Müllabfuhr von Villahermosa relevant werden. Ausgehend von Thompson geht es darum, die Lebensweise in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext zu rekonstruieren, um aufzuzeigen, wie die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse über die Sphäre der Produktion hinaus alle Bereiche des persönlichen und öffentlichen Lebens beeinflussen. Aus der Lebensweise lassen sich Bedürfnisse ableiten, die, da ihre Befriedigung nicht möglich ist, zum Handeln motivieren. Dennoch: das Einbeziehen der gesamten Lebensweise in die Analyse darf, so meine ich, nicht den Blick darauf verstellen, daß die Erfahrungen im Arbeitsprozeß entscheidend sind, wenn sich kollektive Interessen in erster Linie als Klasseninteressen (und nicht z.B. als lokale Interessen) definieren, da sich in diesem Bereich die gesellschaftlichen Widersprüche am offensichtlichsten als Ausbeutungsverhältnisse manifestieren, die den Produktionsverhältnissen entspringen.
Aber was braucht es, damit ein Bedürfnis überhaupt als solches empfunden und als Bedürfnis oder Interesse artikuliert wird? Der brasilianische Soziologe Eder Sader schreibt dazu, daß ein Bedürfnis erst dann ausgesprochen werden kann, wenn das Gut, auf das es sich bezieht (z.B. ein sicherer und gut entlohnter Arbeitsplatz, aber auch eine Wohnung, ein Stadtteil mit Infrastruktur etc.), als wichtig wahrgenommen und sein Nichtvorhandensein als Beeinträchtigung der Lebensweise wahrgenommen wird. Dafür ist ein symbolischer Vermittlungsprozeß notwendig: „Fui llevado, por ello, al estudio de los procesos de atribución de significados, por los cuales una ausencia es definida como carencia y como necesidad, y ciertas acciones sociales son explicadas correspondiendo a los intereses de una colectividad.“ (Sader 1990: 71) Daher reicht es nicht, „objektive Existenz- oder Arbeitsbedingungen“ eines bestimmten Kollektives zu untersuchen, auch Werthaltungen und Normen, mit denen die Situation beurteilt und Rechte begründet werden, müssen in die Analyse einbezogen werden.
Ein weiteres wichtiges Moment, um die Definition von Bedürfnissen und die Entstehung einer Klassenidentität zu klären, ist die Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Im strukturalistischen Gesellschaftsmodell wird zwar der Klassenkampf als entscheidend für die Herausbildung von Klassenbewußtsein erkannt, aber der Konflikt ist der Formulierung der klassenspezifischen Interessen zeitlich nachgeordnet. Faßt man hingegen Klasse als sozialen Prozeß auf, bekommen Konflikte einen anderen Stellenwert: Schon bevor von Klasseninteressen oder entwickelten Klassenformationen (als Parteien, Gewerkschaften etc.) gesprochen werden kann, kämpfen die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander. Klassenbewußtsein und neue Organisationsformen entstehen gerade in der Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Institutionen und, wie sich der Konflikt im konkreten entwickelt, beeinflußt die weitere institutionelle Formierung einer Klasse.
Der brasilianische Sozialwissenschaftler Francisco de Oliveira betont in diesem Zusammenhang, wie wichtig für die Artikulation von Klassenbewußtsein ein „gegenüber“ ist. Für Oliveira geht es bei der Entstehung von Klassenbewußtsein weniger um die Konstituierung der „Klasse an sich“ noch „für sich“, sondern um die Konstituierung der „Klasse für die anderen“, die gegnerischen Klassen. Nicht so sehr der Moment des „sich selbst bewußt werdens“ ist entscheidend für die Entwicklung des Bewußtseins, sondern der Prozeß des sich wechselseitigen Erkennens. Dieses sich ständige „Wiedererkennen“ (Oliveira verwendet den schwer zu übersetzenden Begriff „consciências recíprocas das classes“) passiert auf der politischen Ebene, wo sich die Klassen als politische Subjekte begegnen. (vgl. Oliveira 1987: 11-12)
1.2. Der Staat als der Andere
Geht es um die politische Ebene, muß das Konzept Klassenbewußtsein um eine weitere Dimension ergänzt werden, denn nicht nur die Abgrenzung gegenüber der gegnerischen Klasse, sondern auch gegenüber dem Staat wirkt identitätsstiftend. Auffallend ist, wie dieser Aspekt gerade bei lateinamerikanischen AutorInnen immer wieder hervorgehoben wird, sicher aufgrund ihres Kontextes, wo sich Bewegungen der subalternen Klassen direkt über ihr Verhältnis zum Staat – schlimmste Repression wie in den Militärdiktaturen des Cono Sur oder Kooptierung/und selektive Repression wie in Mexico – definieren mußten.
Für den Historiker Adolfo Gilly erreicht das proletarische Bewußtsein dann den höchsten Punkt, wenn der Staat als von außen aufgezwungene Realität wahrgenommen wird. Der Staatsapparat verliert seine Legitimität und die Fähigkeit, einen nationalen Klassenkompromiß zu verkörpern, wenn er immer offener die Interessen der besitzenden Klassen vertritt: „En esa evolución de la conciencia, el Estado deja de ser „nosotros“ para convertirse en „ellos“ los dueños del poder.“ (Gilly 1980: 173) Das neue Verständnis ergibt sich nicht automatisch, sondern folgt aus einer Reihe kollektiver und individueller Erfahrungen mit VertreterInnen des Staatsapparates, die dazu führen, den Staat nicht mehr als den übergeordneten Repräsentanten der gesamten Gesellschaft zu sehen.
Auch individuelle und kollektive Erfahrungen mit dem Staatsapparat werden von den Betroffenen innerhalb eines bestimmten Kontextes interpretiert. In Mexico ordneten – abgesehen von der selektiven Repression systemkritischer Bewegungen – eine Reihe von Mechanismen auf symbolischer und politisch-institutioneller Ebene das Verhältnis zwischen politischer Elite und Bevölkerung, was dem Regime eine jahrzehntelange Stabilität bescherte. Auf der symbolischen Ebene umfaßten diese Mechanismen die in der Verfassung verankerten sozialen Rechte – vor allem das Recht auf Land, auf Arbeit, einen gerechten Lohn – ein Zugeständnis der Sieger der Revolution von 1910-1917 an die subalternen Klassen, ohne daß diese Rechte jemals für alle umgesetzt wurden. Als Konsequenz daraus wurde der Kampf um ihre vollständige Durchsetzung zu einer zentralen Forderung der mexikanischen Arbeiterbewegung und der Staat zum direkten Ansprechpartner, ein Schiedsrichter, dessen Unterstützung gesucht wurde, um gegen private Unternehmen vorzugehen.
Auf der politisch-institutionellen Ebene stabilisierte der Klientelismus das mexikanische Regime, wobei über die PRI, ihre Massenorganisationen und die korporativen Gewerkschaften nach dem Prinzip „politische Loyalität gegen ökonomische Vergünstigungen“ die organisierten Teile der mexikanischen Bevölkerung an den Staat gebunden wurden. Zumindest bis in die 80er Jahre bestimmten diese Mechanismen die Beziehungen des Regimes zu den Unterschichten: Während die (priistischen) Regierungsfunktionäre versuchten, sich als Ansprechpartner zu präsentieren, als Schiedsrichter über klassenspezifische Interessen hinweg oder als mögliche Verbündete, versuchten die Unterschichten dieses Angebot so gut es ging zu nützen, um Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. (vgl. ders. 1980: 182 ff, Roux 1996)
2. Die barrenderos von Villahermosa: Mikroprozesse kollektiven Widerstandes
Ausgehend von den biographischen Interviews, die ich im April und Mai 1998 mit zwölf Arbeitern der städtischen Müllabfuhr der Gemeinde Centro führte, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise am Arbeitskonflikt beteiligt hatten, rekonstruierte ich die Entstehung ihres kollektiven Widerstandes. An dieser Stelle kann nur darauf eingegangen werden, wie die Arbeiter in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern – der Stadtregierung und später der bundesstaatlichen und nationalen Regierung – zu einem Kollektiv wurden. Das Verständnis vom Staat als Gegner war dabei nicht von vornherein vorhanden, sondern wurde von ihnen selbst, ausgehend von einem bestimmten Vorverständnis und aufgrund konkreter Erfahrungen konstruiert.
2.1. Regionaler Kontext: Erdölboom und Exklusion
Die Arbeiter stammen vorwiegend aus den Gemeinden Centro und Nacajuca, eine Region, die – zuerst mit der Durchsetzung einer extensiven Landwirtschaft, später durch die Erdölförderung durch den staatlichen Erdölkonzern PEMEX (Petroleos Mexicanos) – in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Strukturwandel durchmachte. Tabasco wurde in den 70er Jahren, gemeinsam mit Veracruz, zum wichtigsten erdölproduzierenden Bundesstaat und die Ölförderung dominiert alle anderen ökonomischen Aktivitäten. Leopoldo Allub spricht in diesem Zusammenhang von einem „ausschließenden Akkumulationsprozeß“ (acumulación excluyente), der eine extrem polarisierte Klassenstruktur geschaffen hat. Ein kleiner, produktiver Sektor mit hohen und stabilen Einkünften steht einer Masse von niedrig- und unqualifizierten Arbeitskräften mit niedrigen Einkünften und geringer Produktivität gegenüber (vgl. Allub 1985: 352). Die aus der Landwirtschaft kommenden Arbeitskräfte konnten bisher kaum in den formellen Arbeitsmarkt integriert werden, da der Erdölboom – vielleicht mit Ausnahme der Dienstleistungsbranche und der öffentlichen Verwaltung – kaum Arbeitsplätze schuf und PEMEX vor allem qualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Bundesstaaten beschäftigt. Tabasco gehört zu den Bundesstaaten Mexicos mit den stärksten sozialen Gegensätzen: Laut einer Studie des nationalen Statistikinstitutes INEGI, verfügten Mitte der 90er Jahre die 20% ärmsten Familien Tabascos nur über 5″2% aller Einkünfte, während die 20% reichsten Familien über 54% verfügten. (vgl. Acosta/Perez 1998: 8)
Im Gegensatz zum Norden Mexikos, wo man sehr wohl von einer „einheimischen Unternehmerklasse“ sprechen könnte, bildete sich in Tabasco die ökonomische Elite im Umfeld von PRI, staatlicher Verwaltung und PEMEX heraus. Diese überaus enge Verbindung zwischen Staatsapparat und Wirtschaftsinteressen und die Präsenz des staatlichen Erdölkonzerns haben die Tendenz, den Staat als wichtigsten Ansprechpartner in gesellschaftlichen Konflikten anzusehen, verstärkt. Die großen sozialen Bewegungen Tabascos der letzten Jahrzehnte – die durch die Erdölförderung geschädigten Bauern (seit 1976), die entlassenen Erdölarbeiter zu Beginn der 90er Jahre und die Bewegung gegen den Wahlbetrug bei den Gouverneurswahlen von 1991 und 1994 – wandten sich, sei es als Ansprechpartner oder als Gegner, vorwiegend an den Staat bzw. die tabasqueñische Regierung.
2.2. Rekrutierung und Integration in den neuen Arbeitsbereich
Aus den Interviews geht hervor, daß die Arbeiter der Müllabfuhr zum Großteil „Arbeiter der ersten Generation“ waren, die vorwiegend aus dem urbanen informellen Sektor oder aus der Landwirtschaft (teilweise aus indigenen Gemeinden der Chontales oder Choles) kamen. Die bäuerliche Lebensweise prägte, vor allem bei jenen, die noch immer im ländlichen Raum lebten und wo einzelne Familienmitglieder einer Beschäftigung in der Landwirtschaft (als Subsistenzbauer oder -bäuerin und LandarbeiterIn) nachgingen, auch weiterhin ihre Einstellungen. Das fällt bei der Bewertung der sozialen Beziehungen auf, da primordiale Solidaritätsnetze der bäuerlichen Gemeinschaft – die Familie und die Verwandtschaft – das Zusammengehörigkeitsgefühl bestimmen.
Ein wichtiger Beweggrund für die Annahme eines Arbeitsplatzes in der Stadtverwaltung war der Wunsch, in ein relativ geschütztes Arbeitsverhältnis mit geregeltem Einkommen einzutreten, die Voraussetzung, um das familiäre Haushaltseinkommen zu konsolidieren und so eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu erreichen. Damit sollte die Ausbildung der Kinder ermöglicht werden, was – so die Sichtweise der Arbeiter – eine bescheidene intergenerationelle soziale Mobilität möglich machen könnte. Außerdem sollte die Ehefrau vom Zwang befreit werden, einer Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses nachgehen zu müssen.. Vorwiegend für die in den ländlichen Gemeinden lebenden Arbeiter brachte weibliche Erwerbsarbeit nicht nur das traditionelle Rollenbild von Mann und Frau durcheinander, sondern wurde als Statusverlust für die gesamte Familie empfunden. Ehefrauen trugen dennoch (und tragen auch weiterhin) zum Haushaltseinkommen bei, indem sie Arbeiten nachgingen, die sie zu Hause verrichten konnten und die der traditionellen Arbeitsteilung im ländlichen Mexiko entsprachen, wie beispielsweise für andere Haushalte waschen, Maistortillas backen oder nähen.
Der individuellen Bereitschaft der befragten Arbeiter, eine Beschäftigung im formellen Sektor zu finden, entsprach die Nachfrage der Stadtregierung nach billigen und unqualifizierten Arbeitskräften, die in den 80er und 90er Jahren in den Vororten und der Umgebung von Villahermosa rekrutiert wurden. Die Rekrutierungen waren aber nicht die Folge „unpersönlicher“ Bewerbungen, sondern ergaben sich über Bestechungen oder persönliche Beziehungen, sei es über Verwandte oder Bekannte, die schon für die Stadtregierung arbeiteten, oder über die Parteikanäle der PRI. Damit wurde von Beginn an ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis geschaffen, das die Grundstruktur für das Verhältnis zwischen Arbeiter und ihren Vorgesetzten bildetet. Ein Arbeiter erzählte über seine Rekrutierung: „Ich habe einen Cousin, der schon um die 19 Jahre hier (in der Stadtverwaltung, Anm.) arbeitet (…) und ich habe ihn gefragt: Hör mal, gibt es keine Arbeit dort? Wenigstens eine sichere Arbeit, auch wenn sie mich umbringt, aber was bleibt denn sonst übrig. Wir gingen hin (…), sie verlangten keine Papiere (…) und G. (der zuständige Beamte, Anm.) sagte, gut, aber wenn du bleiben willst, verlierst du die ganze erste Woche, ab nächsten Montag wirst du gezahlt (…) Eine Woche arbeitete ich gratis, die Woche darauf wurde ich angestellt.“ (Interview 14, Mai 1998)
Das persönliche Abhängigkeitsverhältnis ermöglichte es den Vorgesetzten, ihre Position gegenüber den Arbeitern auszunutzen, um Arbeitsleistung und finanzielle Leistungen zu erpressen: So wurde oft ein Teil des Gehaltes der Arbeiter von den Vorgesetzten einbehalten, außerdem mußten sie während der Arbeitszeit für persönliche Dienstleitungen, wie Reinigungs-, Mal- und Bauarbeiten in den Privathäusern der Beamten, zur Verfügung stehen. Das unpersönliche, weil durch den Lohn vermittelte Ausbeutungsverhältnis, das den modernen Arbeitsprozeß kennzeichnet, gewann damit eine Unmittelbarkeit, die an ein (präkapitalistisches) Verhältnis zwischen Herr und Knecht erinnert.
2.3. Arbeitsalltag und Forderungen
Die Erwartungen der Arbeiter auf ein geregeltes Einkommen und ein relativ geschütztes Arbeitsverhältnis wurden damit enttäuscht. Im wesentlichen ähnelte die Arbeitssituation der Lage im informellen Sektor bzw. der eines Kleinbauern oder Landarbeiters. Ein Indiz dafür, daß die Arbeiter selbst wenig Unterschied feststellen konnten, könnte die Verwendung des Begriffes „macheteros“ sein, mit dem die Arbeiter sich bezeichneten und der in Tabasco für die mit der Machete arbeitenden Landarbeiter verwendet wird. Im Gegensatz zur früheren Situation wurde die Arbeit in der städtischen Müllabfuhr als Verlust der persönlichen Autonomie ohne entsprechender finanzieller Entschädigung empfunden. So erschwerten es die überlangen Arbeitszeiten (bis zu zwölf oder sogar 18 Stunden) kurzfristigen, profitableren Beschäftigungen und Gelegenheitsarbeiten nachzugehen, was früher im informellen Sektor oder der Landwirtschaft noch möglich war. Die überlangen Arbeitszeiten machten ein Familienleben praktisch unmöglich, was als Schwächung der primordialen Solidaritätsnetze angesehen wurde.
Der Aufbau einer kollektiven Verhandlungsmacht war schwierig. Einerseits war das regionale Reservoir an unqualifizierten Arbeitskräften, aus dem die Stadtverwaltung schöpfen konnte, so groß, daß jeder Arbeiter schnell ersetzt werden konnte, andererseits fühlten sich die Arbeiter von der offiziellen Gewerkschaft nicht vertreten: „Das war eine illusorische Gewerkschaft, weil sie nie etwas für den Arbeiter tut; mit anderen Worten, die widmen sich nur dem Einsammeln der Beiträge, davon leben sie, bereichern sich verbotenerweise mit dem Beitrag des Arbeiters, (…) Die Gewerkschaft existiert für uns nicht.“ (Interview 5, April 1998)
Der latente Unmut wurde jedoch erst ab 1989 mit dem Erscheinen einer charismatischen Führerpersönlichkeit artikuliert, Aquiles Magaña, der selbst ein niederer Beamter gewesen war und als Quereinsteiger die Wahlen zum Generalsekretär der Beamtengewerkschaft gewonnen hatte. Da er über keine Beziehungen innerhalb des Staatsapparates oder der PRI verfügte und von der Gewerkschaftsbürokratie abgesetzt wurde, stützte sich Magaña auf die Mobilisierung unorganisierter Angestellter und artikulierte in seinem Forderungskatalog deren Bedürfnisse. Indem sich 1989 Magaña der Bedürfnisse der Arbeiter im wahrsten Sinn des Wortes „annahm“, gab er ihnen eine Perspektive: „Der Señor Aquiles lud uns ein, daß wir uns organisieren, er sagte uns, daß wir, wie alle Beamten, nur von Montag bis Freitag arbeiten sollen, und für uns war das unmöglich, wir dachten, daß nur Lehrer oder Bankangestellte so arbeiten könnten. Wir lachten darüber: Wann würden wir jemals so arbeiten?“ (Interview 2, April 1998)
Auch wenn sich die Beziehung zwischen Magaña und den Arbeitern von Anfang an durch eine paternalistische und klientelistische Komponente auszeichnete, wurde trotzdem die Tatsache, daß die staatlichen Institutionen ihren Anführer nicht als Verhandlungspartner anerkannten, für die Arbeiter zum Ansatzpunkt, das korporative System zu kritisieren und nicht nur die Regulierung ihrer Arbeitszeit und des Arbeitsverhältnisses zu fordern, sondern darüber hinaus auch die Demokratisierung der gewerkschaftlichen Institutionen. Die Erfahrungen am Arbeitsplatz verstärkt durch Erfahrungen mit den staatlichen Strategien, um die Bewegung zu desartikulieren, formten eine bestimmte Einschätzung ihres Verhältnisses zum Staat, die ein Arbeiter folgendermaßen charakterisierte: „Der Staat ist gleichzeitig der patrón“. (Interview 1, April 1998)
2.4. Integrations- und Repressionsstrategien des mexikanischen Staates
Welche Strategien wandte nun das Regime an, um die Organisation der Arbeiter zu desartikulieren – und wie formten die Erfahrungen mit diesen staatlichen Strategien das Verständnis der Arbeiter vom Staat?
Im Umgang des mexikanischen Staates mit sozialen Bewegungen lassen sich einige Mechanismen unterscheiden, die je nach Dauer und Intensität einer widerständischen Bewegung eingesetzt und miteinander kombiniert werden. Diese Mechanismen können, den Anregungen von M. Guadalupe Velázquez folgend, in vier Kategorien zusammengefaßt werden: Ignorieren der Forderungen, das Vorschieben von bürokratischen Hürden, das Kooptieren der Bewegung und die Repression (vgl. Velázquez 1982: 171-173). Die ersten beiden Mechanismen sollen eine Organisation entmutigen, entweder indem die Forderungen nicht beachtet werden oder ihnen mit einer sogenannten „muralla de papel“, einer Mauer aus bürokratischen Hindernissen und Ausflüchten begegnet wird. Indem das „Wissen“ um die Sachverhalte der Regierungsverantwortlichen über das „Unwissen“ der protestierenden Gruppen gestellt wird, werden Forderungen nicht anerkannt. Auf unseren Fall bezogen wurden die tabasqueñischen Arbeiter von den Regierungsverantwortlichen wie Unwissende behandelt, deren Forderungen schon längst hätten erfüllt werden können, wären sie nicht von ihrem „skrupellosen“ Anführer manipuliert worden.
Reichen die ersten beiden Strategien nicht aus, um eine Bewegung zu bremsen, wird versucht, Einzelpersonen oder kleine Gruppen in das System einzubinden und damit die Bewegung zu spalten. Das geschieht zumeist, indem den Mitgliedern Geld und den Anführern ein Posten in der PRI oder in einer ihrer Massenorganisationen angeboten wird. Zusätzlich kann Repression angewandt werden, wobei die mexikanischen Behörden versuchen, die Maßnahmen als rechtsstaalich legitim erscheinen zu lassen, indem die Organisation, die unterdrückt werden soll, „außerhalb des Gesetzes“ gestellt wird.
In unserem Fall ging es darum, die Aktionen der Arbeiter für illegal zu erklären. Da jedoch das Streikrecht, die Meinungs- und die Organisationsfreiheit rechtlich gedeckt sind, wurden strafrechtliche Tatbestände, wie z.B. Sachbeschädigung (bei den Demonstrationen der Arbeiter) oder Aufruhr vorgeschoben, um Haftbefehle gegen einzelne Arbeiter und die Anführer auszustellen, die jedoch nicht sofort exekutiert wurden. Damit konnte die Kriminalisierung zur Einschüchterung der Arbeiter und ihrer Familien verwendet werden. Zusätzlich griff die Polizei häufig direkt ein, meistens in der Nacht und in der Früh, wenn die Anwesenheit von JournalistInnen oder anderen Zeugen eher unwahrscheinlich war.
2.5. Gegenstrategien
Um diesen Mechanismen der Desartikulation ihres Protestes zu begegnen, knüpften die Arbeiter teilweise an die Traditionen der sozialen Bewegungen der 60er und 70er Jahre an, die versucht hatten, sich gegenüber dem Regime als politische Kraft zu etablieren, um für ihre Klientel Zugeständnisse (Land, Wohnungen, Infrastruktur) zu erzwingen (vgl. Adler 1994: 130 f). Indem die Arbeiter 1995 und 1996 von Villahermosa nach Mexiko Stadt marschierten, Protestlager vor Ministerien, der Parteizentrale der PRI und der staatlichen Menschenrechtskomission errichteten und diese zeitweise besetzten, versuchten sie mit ihren Forderungen öffentliche Aufmerksamkeit zu erringen. Fast scheint es, als wollten sie mit öffentlichem Druck den politisch Verantwortlichen lästig fallen, damit diese die Forderungen der Arbeiter erfüllten.
Die Aufenthalte in Mexiko Stadt begannen zusätzlich noch die Funktion zu erfüllen, die Arbeiter aus ihrem traditionellen Umfeld zu entfernen, sie dem Druck der Familie zu entziehen, sich beispielsweise doch eine andere Arbeitsmöglichkeit zu suchen, und die Dynamik der Bewegung aufrechtzuerhalten. Indem die Arbeiter 24 Stunden zusammen verbrachten, konnten sie sich gegenseitig beobachten. Damit stieg der soziale Druck die Bewegung nicht zu verlassen.
Die Erinnerung an die Zeit der Mobilisierung und Repression, die fast als „konstruierte Leidensgeschichte“ bezeichnet werden könnte und zur Aufrechterhaltung der kollektiven Identität beiträgt, wurde am besten von jenen beiden Arbeitern, die sich um die hundert Tage im Hungerstreik befanden, verkörpert: „Sie (die Hungerstreikenden, Anm.) hatten die Idee, den Streik nicht sein zu lassen, obwohl sie ins Spital eingeliefert wurden, kein Essen anzurühren. Mit anderen Worten, ihr Kampf ging bis zum Tod (…) sie hörten weder auf uns, noch auf unseren Anführer, nein, sie hatten diesen Mut, ihr Leben für ein gerechtes Recht zu geben (…) Wir begleiteten sie, sie waren die Speerspitze …“ (Interview 1, April 1998) Die kollektive Erfahrung innerhalb der Bewegung und die Disziplinierung in den eigenen Reihen wurde zu einem Kohäsionsfaktor, der die Organisation über den konkreten Anlaß hinweg und noch immer am Leben erhält und bis zu einem gewissen Grad formelle Strukturen ersetzen kann, wenn auch nicht dauerhaft.
2.6. Die Utopie: Politische und soziale Demokratisierung
Die konkreten Erfahrungen mit der Repression und dem Schweigen der zivilen Behörden – vor allem der nationalen Menschenrechtskomission – formten das Bild der Arbeiter vom Staatsapparat und von der PRI, deren Verknüpfung mit dem Staat als zentrales politisches Problem wahrgenommen wurde. Ein Arbeiter meinte dazu: „Wir Mexikaner werden unterdrückt, werden wie Verbrecher verfolgt und das nur deswegen, weil wir unsere Meinungsfreiheit wahrnehmen, weil wir unsere Rechte als Mexikaner und als Tabasqueños einfordern. (…) Das einzige, was uns Mexikanern übrigbleibt, ist uns zu verteidigen, aber nicht vor dem (äußeren, Anm.) Feind, sondern vor uns selbst, vor den Behörden, dem Caziquismo hier in Mexiko, was die PRI ist …“ (Interview 2, April 1998) Die Betonung des „Mexikanerseins“, die sich auch in den übrigen Interviews zeigt, weist darauf hin, daß den FunktionärInnen der PRI im Staatsapparat immer mehr das Recht abgesprochen wurde, die Interessen der MexikanerInnen zu vertreten. Hier zeichnet sich der Umdeutungsprozeß ab, bei dem die PRI nicht mehr als Vertreterin des revolutionären Nationalismus und Erbin der Revolution angesehen wird.
Kann von dieser Bewegung als „rückwärtsgewandte“ Bewegung gesprochen werden, weil sie sich auf alte Rechte beruft? Nicht unbedingt, auch wenn die Arbeiter bestimmte Traditionen und Wertsysteme aufgriffen, um ihre Forderungen zu rechtfertigen. Naheliegend war dafür das ideologische Erbe der mexikanischen Revolution, die in die Verfassung enthaltenen sozialen Rechte. Zusätzlich wurden demokratischen Rechte eingefordert, die sich sowohl auf die Gewerkschaften als auch auf die allgemeine politische Ebene bezogen – die Transparenz bei Wahlen und das Respektieren der Ergebnisse dieser Wahlen. Die Auffassung der Arbeiter von demokratischen Gewerkschaftsrechten wird heute von ihrer Organisation, der FALD, verkörpert, deren organisatorische Abgrenzung und Innovation gegenüber den korporativen Gewerkschaften die „comisiones obreras“ sind: Arbeiterkomissionen auf Betriebsebene, die alle in der FALD organisierten Arbeiter direkt vertreten, jederzeit abwählbar und den Arbeitern direkt verantwortlich sind.
Die politische Demokratisierung verband sich im Diskurs der Arbeiter mit der Vorstellung von einer sozialen Demokratie. Ohne konkrete Vorschläge zu formulieren war damit in erster Linie eine Sozial- und Bildungspolitik gemeint, die die Gesellschaftsstruktur nach oben hin durchlässiger machen sollte. Ein Arbeiter sagte: „Ich glaube, daß wir das Recht haben auf eine andere Art von Gesellschaft, von Gleichheiten (sic), gleiche Möglichkeiten, gleiche Rechte, ich glaube, hätten wir eine Gesellschaft, die … in der die Kinder unserer Kinder in Würde leben könnten, wie es sein sollte.“ (Interview 2, April 1998). Die Vagheit dieser Aussage weist auf ein zentrales Problem für kollektives Handeln in Ländern hin, in denen bisher die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften ausgeschlossen war und auf das sich unter anderem Eder Sader bezieht: Wie können bestimmte soziale Bedürfnisse in Gesellschaften, in denen die Befriedigung dieser Bedürfnisse für den Großteil der Bevölkerung seit jeher unbekannt war und ist, als universell gültige gesellschaftliche Rechte formuliert werden? Worauf können sich die Betroffenen beziehen, um eine einigermaßen konkrete Vorstellung von dem, was sie wollen, zu artikulieren?
3. Abschließende Bemerkungen
Die Konstituierung der Arbeiter der Müllabfuhr von Villahermosa als sozialer Akteur ist nur vor dem Hintergrund der Krise der korporativen Institutionen des mexikanischen Staates, vor allem der Gewerkschaften, verständlich. Die Stabilität des Regimes gründete sich auf drei Mechanismen: (1) die Ideologie des „revolutionären“ Nationalismus“, welche die nationale Einheit aller MexikanerInnen und deren Recht auf soziale Sicherheit und Einkommen propagierte, (2) die selektive Unterdrückung oder Korrumpierung von Regimegegnern und (3) auf den Klientelismus, der die Beziehung zwischen politischer Elite (organisiert in der PRI) und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nach dem Prinzip „politische Loyalität gegen ökonomische Vergünstigungen“ ordnete. Damit wurde zumindest für eine kleine Gruppe innerhalb der Industriearbeiterschaft und der Staatsbediensteten ein minimales staatliches Sozial- und Pensionssystem bereitgestellt, während dem Rest der Bevölkerung eine schrittweise Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und eine gewisse soziale Mobilität versprochen wurde. Seit Beginn der 80er Jahre werden durch die Umorientierung der Wirtschaftspolitik immer weniger ökonomische Vergünstigungen gewährt, was den klientelistischen Beziehungen den materiellen Boden entzieht. Parallel dazu wurden transparente Mechanismen zur Entscheidungsfindung auf allen politischen Ebenen (demokratische Wahlen) zwar von den politischen Eliten versprochen, ohne wirklich umgesetzt zu werden.
In diesem gesellschaftlichen Kontext konstituierten sich die Arbeiter der städtischen Müllabfuhr von Villahermosa zu einem politischen Akteur. Aufgrund ihrer Arbeitssituation als Angestellte der Stadtverwaltung überschnitt sich ihre Wahrnehmung von Arbeitgeber und staatlicher Macht. Die Haltung der Staatsfunktionäre gegenüber den Arbeitern, die das Ignorieren des Konfliktes mit Abblocken und Repression kombinierten, beeinflußte die Einstellung der Arbeiter gegenüber dem Staat. Aus ihrer Sicht wurde der postrevolutionäre Pakt gebrochen, weil das Versprechen, das dieser für die subalternen Klassen symbolisierte – nämlich von minimaler sozialer Sicherheit und Aufstiegschancen – durch das Handeln der politischen Eliten nicht mehr einlösbar schien. Mit den Verweise auf die Verfassung und die mexikanische Revolution, indem sie ihren Arbeitskampf sowohl mit den Werten des alten Systems – das Recht auf eine gewisse soziale Absicherung – als auch mit der Forderung nach demokratischen Rechten – vor allem Organisationsfreiheit und Gewerkschaftsfreiheit – rechtfertigten, versuchten die Arbeiter den Konflikt in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Bei der Formulierung von Forderungen und von Rechten dürfen allerdings die Vermittler (die in diesem Artikel kaum besprochen wurden), insbesonders der Anführer, nicht übersehen werden, da sie bestimmte Bedürfnisse artikulieren und so den Prozeß in eine bestimmte Richtung leiten können. Aber weder ihre Rolle noch die der Organisation darf überschätzt werden: So wie Anführer und Anführerinnen auf Ressourcen zurückgreifen, die ein bestimmtes gesellschaftliches Vorverständnis implizieren – sie müssen sogar darauf zurückgreifen, wollen sie Erfolg haben – beeinflussen die Konflikte die Organisationsstrukturen. Einerseits bediente sich Aquiles Magaña klientelistischer und paternalistischer Methoden, um die Bewegung zu konsolidieren und Erfolge zu erringen; es stellt sich jedoch die Frage, ob andere Führungsmethoden – weniger personenzentriert, dafür „basisdemokratischer“ – eine vergleichbar integrative Funktion erfüllen hätten können. Andererseits könnten sich die durch den Konflikt entstandenen Arbeiterkomissionen in Tabasco als Keime neuer Gewerkschaftsformen herausstellen.
Inwieweit ist es nun möglich, einen Bezug zum Konzept des Klassenbewußtseins herzustellen? Folgt man den strukturalistischen Ansätzen und versucht das Klassenbewußtsein der Arbeiter der Müllabfuhr allein von ihrer Position im kapitalistischen Produktionsprozeß abzuleiten, erwartet man, nur aufgrund der extremen Ausbeutung, die sie erleben mußten ein sozialistisches oder revolutionäres Bewußtsein bei ihnen vorzufinden, wird man nichts derartiges vorfinden. Nationalistische und demokratisch-liberale Elemente bestimmen die Identität der Arbeiter wesentlich stärker als sozialistische Positionen. Die Perspektive eines sozialen Aufstiegs der nächsten Generation als individuelle Lösungsstrategie, um der Marginalisierung zu entkommen, dominiert über Vorstellungen von kollektiven Lösungsansätzen.
Verstehen wir aber Klassenbewußtsein als die Form, wie Erfahrungen, die aufgrund einer bestimmten Position im Produktionsprozeß gesammelt, interpretiert und weiter vermittelt werden, dann verfügen die Arbeiter der Müllabfuhr über ein Bewußtsein, das von Klassenkonflikten geprägt ist. Ein Arbeiter meinte, aufbauend auf seinen eigenen Erfahrungen: „Ich glaube, daß wir gemeinsam siegen können, weil ich wünsche mir, daß in anderen Ländern, andere Leute – weil das Problem ja nicht nur in Mexiko, in Tabasco, ist – überall gibt es Müll, auf der ganzen Welt und ich glaube, daß es Menschen gibt, die ein Bettelgeld verdienen. Immer wird der Arbeiter so gesehen, als ob er, weil er Müll wegräumt, kein menschliches Wesen ist, nein, hier sind wir alle Menschen und alle sollen wir kämpfen, damit es niemandem so schlecht geht.“ (Interview 4, April 1998) Aus diesen Aussagen ließe sich auf ein vages Kollektivbewußtsein schließen, das über die unmittelbare Gemeinschaft der Arbeitskollegen hinausgeht und sich konstituiert, indem sich der Arbeiter von den „Reichen“ abgrenzt und sich mit den „Armen“ identifiziert .
Bewußtsein und kollektives Handeln können dann als „wahr“ oder „“richtig“ bezeichnet werden, wenn wir es als subjektive Antwort auf konkrete Gegebenheiten in einem bestimmten Kontext sehen. Die Erfahrungen der hier vorgestellten Arbeiter wurden von direkter Ausbeutung am Arbeitsplatz und von der Repression durch die Staatsgewalt geprägt. Sie nahmen das mexikanische Regime als illegitim wahr, das seine Untergebenen schikaniert und verfolgt, statt sie zu schützen; und dagegen durfte mit Recht rebelliert werden. Ähnlich der zapatistischen Guerilla definierten sie ihren Kampf als gerechtfertigten Widerstand gegen die „schlechte Regierung“. Aber der Wunsch der Arbeiter war und ist die vollständige Integration in den formellen Sektor der unselbständig Erwerbstätigen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden alle Ressourcen, über die die Arbeiter verfügten, eingesetzt, die Gruppensolidarität mit den Kollegen, die bedingungslose Unterstützung für den Anführer und die offene Konfrontation mit dem Staatsapparat. Ihre Forderungen waren nicht radikal, auch wenn es die Protestmethoden waren.
Im Rahmen der neoliberalen Akkumulationslogik fehlt in Mexiko der ökonomische Spielraum und der politische Wille, die Bedürfnisse einer breiten Bevölkerungsmehrheit auch nur einigermaßen zu befriedigen. Damit sind die Arbeiter aus Tabasco Teil jener sozialen Bewegung, die in ihrer Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat die politische Landschaft Mexikos in den letzten Jahre geprägt hat.