Die Junge Welt hat in ihrer Ausgabe vom 27. August eine Rezension der Neuauflage der „Denkzettel“ veröffentlicht.
Praktische Absicht
Die Gegenwart reicht nicht: »Denkzettel«, die beste deutschsprachige Sammlung von Trotzki-Texten, ist wieder erhältlich
Für Gegner des Reformismus hat Leo Trotzki drei zeitlose Regeln aufgestellt: »1. Traut nicht der Bourgeoisie. 2. Laßt uns unsere eigenen Führer kontrollieren. 3. Vertraut auf die eigene revolutionäre Kraft.« So sprach er im Mai 1917. Es war seine erste Rede im Sowjet von St. Petersburg. Trotzki war gerade einen Tag wieder Rußland, frisch aus kanadischer Internierung entlassen. Hatte er vorher Lenin gewissermaßen als zu avantgardistisch kritisiert, forderte er nun mit ihm gemeinsam den Sturz der bürgerlichen Regierung, die den Zar abgelöst hatte, und »die Übergabe der ganzen Macht« an die Arbeiter- und Soldatenräte. Später urteilte er, daß ohne Lenin und seine Person die Bolschewiki vermutlich die Oktoberrevolution 1917 abgesagt hätten.
Das klingt zwar recht eingebildet, aber nicht völlig abwegig. Man sagt, Trotzki wäre der beste Redner der Partei gewesen, auf jeden Fall war er ein Mann »der Feder und des Schwerts«, wie der Herausgeber seiner Schriften in deutscher Übersetzung, Helmut Dahmer, schreibt. Mit »Denkzettel« hatte der Soziologe 1981 für den Suhrkamp-Verlag eine handliche Sammlung von Trotzki-Texten besorgt, die nun im Wiener AdV-Verlag neu aufgelegt worden ist.
Ursprünglich von dem mittlerweile verstorbenen marxistischen Theoretiker George Novack 1964 in den USA ediert, ist »Denkzettel« immer noch die beste deutschsprachige Trotzki-Kompilation. Als Theroretiker führt hier Trotzki selbst in seine Überlegungen, Strategien und tagespolitischen Interventionen ein – durch hervorragend ausgesuchte Auszüge aus seinen Texten von 1900–1940, die von Dahmer fast schon minimalistisch, aber durchgängig hilfreich, weil auf den Punkt genau, eingeführt werden.
Der 1940 im mexikanischen Exil von einem sowjetischen Agenten ermordete Trotzki war die Ausnahmeerscheinung eines vielseitig interessierten Intellektuellen wie radikalen Politikers, der tatsächlich in der Lage war, über seine eigene Rolle und die seiner politischen Freunde wie Gegner in der Geschichte nachzudenken – eben weil sie in diese mit der Oktoberrevolution auf sensationelle Weise eingegriffen hatten. Was hatten sie da eigentlich angerichtet? Und was sollte daraus werden? Trotzki versuchte, sich die historische Situation durch den Rückgriff auf die Französische Revolution von 1789 klarzumachen. Bemerkenswerterweise war der erste Außenminister der neuen revolutionären Regierung, der zu deren Verteidigung die Rote Armee gegründet hatte, nur fünf Jahre kein Oppositioneller: von 1918–23. Danach wurde er im Zuge der Fraktionskämpfe um die Nachfolge Lenins und die Frage der Industrialisierung sukzessive entmachtet. Kaum war Lenin im Januar 1924 gestorben, startete die Stalin-Gruppe die Kampagne gegen den »Trotzkismus« – ein Schreckgespenst, das sich als Vorwurf bis heute in weiten Teilen der kommunistischen Bewegung gehalten hat. Allerdings wird deshalb heute zum Glück niemand mehr umgebracht. »Was alle diese Beschuldigungen letztlich widerlegt«, schrieb der berühmte Trotzki-Biograph Isaac Deutscher in seinem Vorwort zur Suhrkamp-Ausgabe der »Denkzettel«, das in der neuen Auflage leider nicht mehr enthalten ist, »ist die Tatsache, daß die vielen Fehler und Beschuldigungen, die Stalin Trotzki zuschrieb, fast alle von Stalin selbst begangen wurden. Seine Trotzki-Karikatur erscheint uns heute als eine Selbst-Projektion«.
Statt mit Deutscher wartet die Neuauflage mit einem glanzlosen, weil ungezügelt pathetisch gehaltenen Vorwort des »trotzkistisch« orientierten englischen Politikers Alan Woods auf. Demgegenüber hatte Deutscher schon Mitte der 60er Jahre festgestellt: »Außerhalb der UdSSR war der Trotzkismus keine vitale politische Bewegung: die Vierte Internationale ist nie richtig zum Zug gekommen«. Hauptsächlich ist ja die von Trotzki 1938 aus Motiven der organisatorischen Notwehr und des politischen Probehandelns gegründete Vierte Internationale für ihre unübersichtliche Geschichte der Aufspaltungen bis an die Grenzen der Karikatur berühmt geworden, auch wenn es dafür teilweise gute Gründe gegeben haben mag. Aber ist nicht Trotzki – wie sonst kaum ein kommunistischer Politiker – »auf dem Gebiet der künstlerischen Selbstbestimmung [für] völlig Freiheit« eingetreten?
Tröstlich für Revolutionäre auch anderer Richtungen ist Trotzkis bereits 1901 skizzierte Antwort auf realpolitisch gehaltene Postulate der Hoffnungslosigkeit und Utopieverneinung, daß diese nicht »die Zukunft«, sondern »nur die Gegenwart« darstellten. Trotzki, schreibt Dahmer an anderer Stelle als in »Denkzettel«, »analysierte die politische Situation stets in praktischer Absicht, das heißt, seine Diagnose führte zu Interventionsvorschlägen oder Handlungsanweisungen für bestimmte Gruppen und Organisationen, die auf der Suche nach einem Ausweg waren«. Für Trotzki, der als erster eine Theorie über den bürokratischen Charakter der stalinschen Herrschaft noch vor dem Einsetzen des sogenannten Massenterrors vorgelegt hatte und der ebenso hellsichtig die in erster Linie mit sich selbst beschäftigte deutsche Arbeiterbewegung auf die Gefahren des Faschismus hingewiesen hatte, sieht die zu verhandelnde Sache allgemein so aus: »Die historische Krise der Menschheit geht auf die Krise ihrer revolutionären Führung zurück«. Das kann man auch heute noch locker unterschreiben. Ebenso das Diktum seiner 1905/1906 ausgearbeiteten »Theorie der Permanenten Revolution«, sich »mit keiner Form der Klassenherrschaft« abzufinden.
Von Christof Meueler
Leo Trotzki: Denkzettel – Politische Erfahrungen im Zeitalter der Permanenten Revolution. AdV-Verlag, Wien 2010, 491 Seiten, 20 Euro * Herausgegeben von George Novack und Helmut Dahmer