Die drohende Abschiebung von Mesut Tunc, einem in der Schweiz und in Deutschland anerkanntem politischen Flüchtling, in die Türkei zeigt einmal mehr wie menschenverachtend das österreichische Fremdenrecht ist. Von Samuel Stuhlpfarrer.
Mutmaßlicher DHKP-C Aktivist von Auslieferung in die Türkei bedroht
Machte Österreichs Exekutive sich zum Handlanger des türkischen Regimes?
Es sollte wie jedes Jahr sein. Mesut Tunc wollte mit seiner Familie während der Feiertage nach Wien fahren, um Verwandte zu besuchen. Auf dem Weg zurück in die Schweiz, wo er seit 2005 als anerkannter Konventionsflüchtling lebt, wird der mutmaßliche DHKP-C Aktivist Anfang Jänner verhaftet. Im Falle einer Abschiebung in die Türkei drohen ihm nun Haft und Folter. Es wäre nicht das erste Mal.
Wien, 3. Januar, 21:50 Uhr: Mesut Tunc, seine Frau Sati und die gemeinsamen Töchter Delal (2) und Anita Shilan (4) sitzen im EuroNight Wiener Walzer in Richtung Zürich Hauptbahnhof. Sie haben die Feiertage bei Satis Familie in Wien verbracht, nun soll es in die Schweiz zurückgehen, wo die Familie seit 2005 lebt. Der Zug fährt ab, man legt die Kinder zum Schlafen nieder. Plötzlich, nach zehn Minuten Fahrt stoppt der Zug und macht kehrt. Zurück am Westbahnhof steigen 5 Beamte der Unterstützungsgruppe des Grenzdienstes (USG) zu. Gegen 23:10 Uhr fährt der Zug erneut ab, 40 Minuten später öffnen fünf Beamte die Tür zum Abteil der Tunc´ und verlangen die Pässe. „Mesut Tunc, aufstehen“ raunt einer der Beamten in schroffem Ton. Man nimmt ihn aufgrund „eines über die Interpol gelaufenen Auslieferungsgesuches des türkischen Staates“ fest, legt ihm vor den Augen der Kleinkinder Handschellen an und führt ihn ab. So erzählt es Sati Tunc.
Der Grund: Mesut Tunc soll 1994 als damals 18-jähriger an bewaffneten Aktionen der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) teilgenommen haben. Er wird verhaftet, misshandelt und gefoltert. Solange, bis er es nicht mehr aushält und jenes Papier unterschreibt, das die Grundlage für seine Verurteilung zu lebenslanger Haft aus dem Jahr 1995 ist. Tunc sitzt sieben Jahre im Gefängnis. 2002 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand zusehends. Nach 280 Tagen im Hungerstreik – er beteiligt sich am „Todesfasten“ aus Protest gegen die Isolation – wird die Lage bedrohlich und die Haft für kurze Zeit ausgesetzt. Tunc nützt die Chance und flieht. Bis 2005 lebt er in Deutschland, danach in der Schweiz. In beiden Staaten ist er anerkannter Konventionsflüchtling.
Im Moment sitzt er in der oberösterreichischen Justizanstalt Wels ein. Dass Mesut Tunc sich noch nicht in türkischer Haft befindet dürfte ohnedies nur dem energischen Einschreiten seiner Frau geschuldet sein. Erst nach deren lautstarken Interventionen entschließen sich die Beamten – offenbar anders als geplant – die Fahrt bis nach Salzburg fortzusetzen und den Festgenommenen nicht, wie sie Tunc´ Frau zufolge sagten „mit der nächsten Maschine in die Türkei“ zu bringen. Er bleibt das Wochenende über in der JVA Salzburg, am Montag folgt die Verlegung nach Wels. Die Familie erfährt davon nur auf Nachfrage und ist überzeugt: „Das alles war geplant“.
Und tatsächlich scheint der Ablauf der Verhaftung in hohem Maße aufklärungsbedürftig. Weshalb fährt ein Zug planmäßig ab, um nach 10 Minuten kehrt zu machen und erneut den Westbahnhof zu verlassen. Die österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) wollten Mittwochmittag die Version von Sati Tunc nicht stützen. In einer Stellungnahme ist lediglich von einer üblichen Verspätung in Wien Westbahnhof und einem weiteren 17-minütigen Stopp aufgrund eines technischen Defekts im niederösterreichischen Tullnerbach die Rede. Decken die ÖBB hier etwa polizeiliche Vorgänge? Und woher stammen die peniblen Vorinformationen der handelnden Beamten? So erzählt etwa Sati Tunc, dass man ihr zwar erst auf Nachfrage den Eintrag gezeigt habe, aus dem hervorgeht, dass Mesut Tunc per Internationalem Haftbefehl gesucht werde, allerdings ohne, dass die Beamten zuvor irgendetwas in den Laptop eingegeben hätten. Darüber hinaus sollen sich die Beamten beim Öffnen des Abteils als Beamte der Interpol vorgestellt haben. Es liegt der Verdacht nahe, dass die österreichischen Behörden von dritter Seite einen Tipp bekommen haben dürften. Eine Vermutung die Rudolf Gollia Sprecher des Innenministeriums nicht kommentieren will. „Das werde ich Ihnen nicht sagen“. Und weiter: „Wir haben kein Interesse die Öffentlichkeit über die Hintergründe der Verhaftung zu informieren“. Dass es dabei zu einer Kooperation zwischen türkischen und österreichischen Stellen gekommen ist, darf vermutet werden. Immerhin, „ausschließen“ will das auch der Ministeriumssprecher zunächst nicht. Auch nicht, dass es sich dabei möglicherweise um geheimdienstliche Stellen gehandelt haben könnte.
Das war Mittwochmorgen. Wenige Stunden danach, um 12:23 Uhr meldet sich Rudolf Gollia telefonisch. Und sieht die Sache anders: Die Amtshandlung sei von vier und nicht fünf Beamten durchgeführt worden, infolge einer routinemäßigen Überprüfung erfolgt und einen Tipp von dritter Seite könne man ausschließen. Darüber hinaus, so Gollia, habe die Verhaftung um 00:35 Uhr im Raum Wels in Oberösterreich stattgefunden. Warum aber behaupten die Angehörigen von Sati Tunc in Wien, sie wären bereits gegen 23:50 von der Verhaftung informiert worden. Für 23:50 Uhr vermeldet etwa der Mobiltelefonspeicher von Gülli Kilic, der Schwägerin Mesut Tunc´, einen Anruf ihrer Schwester, 2 Minuten später läutet es am Apparat ihrer Tochter Gülsen Sözen. Unisono versichern beide, Sati Tunc hätte sie zu diesem Zeitpunkt über die Verhaftung ihres Mannes informiert.
Und dennoch: „Die Nacht-und-Nebel-Aktion ist nun erstmal vom Tisch“, ist Michael Genner vorsichtig optimistisch. Der Obmann des Flüchtlingshilfevereins Asyl in Not betreut die Angehörigen von Mesut Tunc und hat sich des Falles angenommen. „Wir werden nun alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, zumal die Abschiebung in ein Land, in dem ihm Folter droht gegen Artikel 33 der Genfer Konvention verstößt.“ Wie lange das Auslieferungsverfahren dauern wird ist gegenwärtig nicht absehbar. Manfred Holzinger von der Staatsanwaltschaft Wels konnte darüber gestern Mittwoch keine eindeutige Aussage treffen.
Mesut Tunc ist derweil zum Warten verurteilt. „Große Angst“ habe er, erzählt seine Frau und, dass die Familie schwere Zweifel plagen, ob er ihren Beschwichtigungen überhaupt noch glaube. Wer könnte es ihm verdenken? Folter und Hungerstreik haben ihre Spuren hinterlassen. Der mutmaßliche DHKP-C Aktivist leidet unter einem posttraumatischen Belastungs- und dem Wernicke-Korsakoff-Syndrom, einer hirnorganischen Schädigung als Folge der Mangelernährung. Seit Samstag, den 3. Januar befindet sich Mesut Tunc im Hungerstreik.
Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erscheint demnächst in der Tageszeitung junge Welt.