Anlässlich des 91. Jahrestags der Oktoberrevolution behandelt Fabian Laudenbach in diesem Artikel die Lehren, die die russische Revolution aus der ersten Arbeiterregierung während der Pariser Commune gezogen hat.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit heftete sich das siegreiche
Bürgertum der Französischen Revolution an seine Fahnen. Nun kann aber
Freiheit nur dann verwirklicht sein, wenn es keine ökonomischen Zwänge
gibt; Gleichheit nur dann, wenn keine konkurrierenden Klassen
existieren; und Brüderlichkeit nur dann, wenn der Wettstreit ums
Überleben nicht mehr der Trieb des Handelns ist. Die schönen Ideale
der Französischen Revolution lassen sich also nur in einer
sozialistischen Gesellschaftsordnung verwirklichen. Dieser Artikel
zeigt, welche Lehren die russische Revolution aus der ersten
Arbeiterregierung während der Pariser Commune gezogen hat.
Die Machtergreifung des Bürgertums in der Großen Französischen
Revolution versprach der Welt eine endgültige, von nun an „gerechte“
Gesellschaftsordnung. Alle Gesetzgebung würde den strengen Regeln der
Vernunft und der Menschlichkeit unterworfen sein. Tatsächlich aber
konnte das Bürgertum nicht halten, was es versprach. Jedes Element
menschlicher Gesetzgebung – sei es das allgemeine Wahlrecht, der
Achtstundentag oder das Gewerkschafts- und Streikrecht – musste der
Bourgeoisie in teils blutigen Auseinandersetzungen von der
Arbeiterbewegung abgerungen werden.
Marx und Engels wussten, dass der Sozialismus nicht schon am Tag der
Revolution Einkehr halten würde. Die an die Macht gelangte
Arbeiterklasse könne mit sozialistischen Maßnahmen nur allmählich den
Klassengegensatz beseitigen, und damit gleichzeitig auch die einzige
Berechtigungsgrundlage des Staates an sich. In seiner Broschüre Staat
und Revolution legt Lenin die wichtigsten Eckpfeiler einer
Arbeiterregierung dar. FunktionärInnen dürften nicht mehr Lohn
erhalten als eine durchschnittliche Arbeiterin und müssten jederzeit
abwählbar sein, das stehende Heer sollte zugunsten einer Volksmiliz
abgeschafft werden und alle administrativen Aufgaben sollten von allen
Gesellschaftsmitgliedern in Rotation durchgeführt werden, um der
Entstehung einer festgefahrenen Bürokratie vorzubeugen.
Die Geschichte bietet nur äußerst wenige Anschauungsbeispiele einer
Arbeiterregierung, die aber dennoch einen sehr reichhaltigen Fundus an
Erfahrungen und Lehren liefern.
Die Pariser Commune
Die Commune ist das erste Beispiel der Menschheitsgeschichte, in der
die untersten Schichten der Gesellschaft selbst das Heft in die Hand
nahmen und tatsächlich ebendiese Gesellschaft nach ihren eigenen
Bedürfnissen gestalteten – wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum.
In der von den Preußen belagerten Hauptstadt Paris war die
republikanische Garde National der letzte Teil der bewaffneten
Körperschaften, der willens war, gegen die Besatzer zu kämpfen.
Gemeinsam mit der Pariser Stadtbevölkerung forderte sie die Bewaffnung
des Volkes, um gegen die Preußen vorgehen zu können. Die französische
Bourgeoisie zog es jedoch vor, die Hauptstadt der feindlichen Armee
auszuliefern. Mehr als das preußische Heer fürchtete sie nämlich den
Aufstand, der von einer bewaffneten Pariser Bevölkerung ausgehen
könnte. 18. März 1871: Beim Versuch der französischen
Zentralregierung, die Kanonen der Garde Nationale auf dem Hügel von
Montmartre zu konfiszieren, versammelten sich am Schauplatz umgehend
Menschenmassen, um das Regiment des reaktionären Generals Lecomte am
Diebstahl zu hindern. Lecomte gab den Schießbefehl auf die
protestierenden Männer, Frauen und Kinder. Jedoch nicht ein Schuss
fiel. Die Soldaten reichten den Aufständischen die Hände, man fiel
sich in die Arme, weinte vor Rührung und stimmte gemeinsam
Arbeiterlieder an. Die letzten regierungstreuen Offiziere und Truppen
flohen in Richtung Versailles. Die vielleicht schönste Revolution
aller Zeiten war hiermit siegreich.
Dem Zentralkomitee der Garde Nationale war überraschend die Macht über
Paris in die Hände gefallen. Sofort rief sie Wahlen zum neuen
Gemeinderat aus, die prompt eine Woche später stattfanden. Siegreich
aus den Wahlen zur Commune gingen kommunistische und sozialistische
ArbeiterInnen, Intellektuelle, und KleinbürgerInnen hervor. Die neue
Pariser Stadtregierung ging unter starker Mitbestimmung und
Beteiligung der Bevölkerung sofort ans Werk: Rückwirkend wurden alle
noch ausstehenden Mietzahlungen erlassen, der Arbeitstag drastisch
verkürzt, zugunsten von Frauen und Jugendlichen die Nachtarbeit
abgeschafft, leerstehende Gebäude den Obdachlosen zur Verfügung
gestellt. Staat und Kirche wurden strikt getrennt, die Volksbewaffnung
vorangetrieben, die Fabriken geflohener Werksbesitzer gingen in
gesellschaftliches Eigentum über und wurden unter Arbeiterkontrolle
weitergeführt. In seinem einen Aufruf an „die Brüder und Schwestern
Frankreichs und der Erde“, ermutigte die Commune die ArbeiterInnen
aller Länder, ihrem Beispiel zu folgen und „die Tyrannei des
Kapitalismus gemeinsam zu beseitigen“.
Allerdings hatte auch die französische Regierung den ArbeiterInnen
aller Länder ein Beispiel zu setzen, wie mit Revolutionären umgegangen
werden würde. Nur zehn Wochen nach dem siegreichen Aufstand am Hügel
des Montmartre nahmen aus Versailles kommende Regierungstruppen Paris
ein und exekutierten alles und jeden, der nur den Verdacht erweckte,
mit den Kommunarden in Verbindung zu stehen oder mit ihnen zu
sympathisieren – und immerhin sympathisierte fast die gesamte
Stadtbevölkerung mit der Commune. Eine ganze Stadt wurde in Blut
getränkt. Zigtausende PariserInnen kamen bei den Kämpfen, bei
Massenexekutionen oder im Zuge der noch Monate anhaltenden
Verfolgungen ums Leben. Die Revolution war auf die hässlichste Art und
Weise niedergeschlagen worden.
Die Sowjets und die Russische Revolution
Das klarste Beispiel einer Arbeiterregierung liefern die Ereignisse
rund um das Jahr 1917 in Russland. Arbeiter-, Soldaten- und
Bauernschaft hatten sich mit den Sowjets schrittweise eine eigene
demokratische Staatsmacht aufgebaut. Die Russische Revolution bestand
im Wesentlichen darin, diese Staatsmacht zur eigentlichen Regierung
des Landes zu erklären. Die durch Isolation, Welt- und Bürgerkrieg
ermöglichte Degeneration der Sowjetunion ist nicht etwa als eine
Schwachstelle des Rätegedankens zu begreifen, sondern im Gegenteil als
Beweis dafür, dass eine Arbeiterregierung ohne demokratische
Beteiligung der ArbeiterInnen, also eben ohne funktionierende Sowjets,
auf Dauer gesehen zum Scheitern verurteilt ist.
Nach dem Sturz des Zarentums im Februar 1917 hatten sich über das Land
hinweg flächendeckend Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte gebildet –
die Sowjets. Von unterster Ebene aufwärts wählte die Bevölkerung aus
eigenen Reihen ihre VertreterInnen. Der entscheidende Gegensatz zur
parlamentarischen Demokratie bestand darin, dass die in die Räte
gewählten Deputierten keine abgehobenen Berufspolitiker waren, sondern
eben Menschen aus den niedersten Schichten: ArbeiterInnen, die zehn
Stunden täglich immer denselben monotonen Handgriff am Fließband
taten, BäuerInnen, die eigenhändig für den Profit eines
Großgrundbesitzers auf dem Feld schwitzten und Soldaten, die an der
Kriegsfront nicht nur mit den deutschen Gegnern zusammenstießen
sondern auch mit der herabwürdigenden Behandlung durch die eigenen
Offiziere. Mit einem Wort: Die Deputierten der Sowjets waren Menschen,
die mit den Erniedrigungen, den Geldsorgen und Mühen der
allereinfachsten Leute nur zu gut vertraut waren. Sie waren eben
selbst diese allereinfachsten Leute. Die Menschewiki und
Sozialrevolutionäre hatten sich von den neuen Sowjetstrukturen
lediglich erwartet, die Aktivitäten der provisorischen Regierung unter
Fürst Lwow (und später Kerenski) zu „kontrollieren“. Schnell ergab
sich jedoch, dass die Sowjets über die ihnen zugedachte Aufgaben
hinauswuchsen: Sie nahmen politische und verwaltungstechnische
Kompetenzen an sich, beispielsweise die Nahrungsdistribution,
enteigneten woanders Ländereien und setzten in Fabriken und
Regimentern würdige Arbeitsbedingungen durch. Die Sowjets hatten sich
also zu einer Art zweiter Regierung Russlands entwickelt.
Lenin legte dar, dass die Sowjets gegenüber dem Parlamentarismus die
weit höhere, direktere Form der Demokratie zu Tage brachten.
Bezugnehmend auf die Pariser Kommune erklärte er die Unmöglichkeit,
den bürgerlichen Staatsapparat für die Zwecke der Arbeiter- und
Bauernschaft nutzbar zu machen. Er schlug vor, die bestehende Teilung
der politischen Herrschaft zwischen Duma und Sowjets aufzulösen – und
zwar zugunsten der Sowjets als Instrument des Volkes und zuungunsten
der Duma als Herrschaftssystem über das Volk. Seit April 1917
propagierten die Bolschewiki eben nur diese eine Losung: nicht etwa
Alle Macht den Bolschewiki! sondern Alle Macht den Sowjets! Ende
Oktober, noch bevor mit der Verhaftung der provisorischen Regierung
der Umsturz endgültig wurde, war diese Forderung de facto bereits
umgesetzt. Alle politischen Kompetenzen waren schrittweise in die
Hände der Sowjets übergegangen. Die Minister der provisorischen
Regierung überschwemmten zwar panisch das Land mit Befehlen, Drohungen
und Ordnungsrufen, niemand nahm jedoch mehr diese letzten Zuckungen
der sterbenden Regierung zur Kenntnis.
Als am 7. November 1917 kurz vor Mitternacht der zweite Allrussische
Sowjetkongress in Petrograd eröffnete, unterbrach lautes Donnern die
Begrüßungsrede des Tagesvorsitzenden: Der Panzerkreuzer Aurora hatte
seinen ersten Warnschuss auf das Winterpalais, Sitz der provisorischen
Regierung, abgefeuert. Einige Stunden später ernannten die
ArbeiterInnen BäuerInnen und Soldaten auf ihrem Kongress die neue
Regierungsmacht, die von nun an allein von den Sowjets ausgehen
sollte. Die etwa 400 Delegierten dieses Kongresses erklärten
ebendiesen zum höchsten politischen Gremium Russlands. Auf derselben
Sitzung verabschiedete die neue offizielle Staatsmacht ihre ersten
drei Dekrete: eines zur sofortigen Beendigung des ersten Weltkrieges,
ein zweites enteignete entschädigungslos alle Ländereien dem
Großgrundbesitz und überführte sie in die Verwaltung lokaler Sowjets,
das dritte gestand allen Völkern des Großrussischen Reichs das Recht
auf nationale Selbstbestimmung zu. In den darauffolgenden Monaten
führte die neue Regierung die Arbeiterkontrolle in den nun
verstaatlichten Betrieben ein, legalisierte als erstes Land der Welt
die Abtreibung, führte flächendeckende Alphabetisierungen durch, schuf
Kinderkrippen uvm.
Anfang des 18. Jahrhunderts gründete Zar Peter der Große am finnischen
Meerbusen eine Stadt die „das Fenster Russlands zum Westen werden“
sollte. Zweihundert Jahre später war ebendiese Stadt nicht nur mehr
ein Fenster Russlands zum Westen – für die Lohnabhängigen aller Welt
hatten die Petrograder Aufständischen ein Fenster zur Zukunft der
Menschheit geöffnet.
Fabian Laudenbach,
SJ 21-ausgeschlossen