In Deutschland wird immer konkreter über die Bildung einer Koalitionsregierung aus Sozialdemokratie, Grünen und Liberalen verhandelt. Florian Keller berichtet.
Wie zuvor berichtet, brachten die Bundestagswahlen am 26. September eine krachende Wahlniederlage für die konservative CDU/CSU. Seitdem kristallisierte sich schnell heraus, dass die Regierung nicht von ihr, sondern von der SPD angeführt werden würde, die mit den Grünen und den Liberalen von der FDP in Sondierungsgespräche eintrat. Nach 16 bleiernen Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel hat die kommende Regierung sich das Label der „Fortschrittskoalition“ verpasst. Jetzt sind die Sondierungen abgeschlossen und anhand eines Ergebnispapieres bekommt man einen Eindruck darüber, wie viel „Fortschritt“ wirklich in ihr stecken wird, wenn sie denn zustande kommt.
Nicht mehr und nicht weniger als eine „umfassende Erneuerung unseres Landes“ haben sich die drei Parteien auf die Fahnen der künftigen Regierung geschrieben. Beschworen werden die großen Herausforderungen, dass „Deutschland einen Aufbruch braucht“. Es soll in diesem Sinne große Investitionen in den Klimaschutz, die Bildung und die Digitalisierung geben und gleichzeitig der „soziale Zusammenhalt“ gesichert werden. Doch wie sieht es unter der Oberfläche tatsächlich für die Arbeiterklasse aus?
Sozial-liberale Politik im Sinne des Kapitals
Von den sozialen Wahlversprechen der SPD ist eigentlich nur die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von derzeit 9,60€ auf 12€ pro Stunde übriggeblieben. Das ist zweifelsohne eine reale Verbesserung, doch selbst hier liegt der Teufel im Detail: Einerseits gibt es eine ganze Reihe von Ausnahmen für den Mindestlohn, andererseits gibt es in Deutschland heute über 1 Mio. sogenannte „Aufstocker“, deren Einkommen so gering ist, dass sie zusätzlich zur Arbeit Arbeitslosengeld beziehen müssen, um über die Runden kommen zu können. Für viele von ihnen würde eine Erhöhung des Mindestlohnes nicht zu einem höheren Lebensstandard führen, sondern eigentlich nur dem Staat Einsparungspotential bringen. Darüber werden durch die stark ansteigende Inflation (im Oktober 4,5%) und spezieller die unbezahlbaren Mieten in den großen Städten große Teile der Lohnerhöhungen sofort aufgefressen.
Doch wer als Kapitalist über mögliche Mehrkosten trotzdem noch verärgert ist, dem bietet die „Fortschrittskoalition“ auch gleich eine Reihe von Möglichkeiten, mehr Profit aus den ArbeiterInnen herauszupressen.
Um nur einige zu nennen: Die Verdienstgrenze für den Niedriglohnsektor aus Midi- und Minijobs soll angehoben werden. Das bedeutet, dass durch das Einsparen von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern die Lohnkosten, die die Unternehmer zahlen, gedrückt werden. ArbeiterInnen in Österreich werden insbesondere bei dem Vorhaben zur Arbeitszeitflexibilisierung ein Déjà-Vu bezüglich der Reform zum 12-Stunden-Tag der türkis-blauen Regierung haben: Es wird explizit festgehalten, dass „eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ geschaffen werden soll. Durch diese und andere Maßnahmen wird sich die Arbeiterklasse die einmalige Erhöhung des Mindestlohns letztendlich mehr als nur völlig selbst finanzieren.
Doch das ist nur der unmittelbare Anfang. Für die Zukunft stehen mehr Angriffe auf der Tagesordnung der „Fortschrittskoalition“. Die „Frankfurter Rundschau“ fasst die Perspektiven so zusammen:
„[…] die Schuldenbremse bleibt und weder Menschen mit Spitzeneinkommen noch Vermögende tragen mehr als bisher zur Finanzierung von Megaaufgaben wie Klimaschutz, sozialer Zusammenhalt oder Bildung bei. Die Koalitionsverhandlungen werden zeigen, mit welchen Tricks sich die Ampelregierung das notwendige Geld zu beschaffen gedenkt. Die Forderung der FDP, zum Ausgleich bei Sozialleistungen zu kürzen, wird nicht lange auf sich warten lassen.“
Wir können uns sicher sein, dass es nicht bei „Forderungen der FDP“ bleiben wird.
Hinter den großen Worten von „Fortschritt“ und „Aufbruch“ steckt also vor allem viel alte Politik im Sinne des großen Geldes von Industrie und Banken. Wie schon Bertold Brecht wusste: „Je mehr es in unserem Land Propaganda / Desto weniger gibt es sonst.“. Das ist kein Zufall: Das deutsche Kapital steht weltweit in einem immer schärferen Konkurrenzkampf, während die Widersprüche in der EU ihm immer weniger Spielraum in seiner unmittelbaren Einflusssphäre geben.
Das bedeutet, dass sich das deutsche Kapital darauf vorbereiten muss, in der näheren Zukunft den Lebensstandard der Arbeiterklasse weiter anzugreifen, auch wenn das wegen der relativ großen finanziellen Reserven des deutschen Kapitalismus noch nicht die unmittelbare Perspektive der nächsten Monate ist. Die „Fortschrittskoalition“ inklusive der rechten Reformisten an der Spitze der SPD bereitet genau das vor und macht sich so zum willfährigen Werkzeug dieser Interessen.
So wird klar: Eine sozialdemokratisch-grün-liberale Regierung ist keine Alternative für die ArbeiterInnen, sondern eine Alternative für das Kapital, wenn die Konservativen abgewirtschaftet haben. Das ist auch eine wichtige Erkenntnis für die Politik in Österreich.