Mitte Oktober brach im Libanon eine revolutionäre Bewegung aus, die innerhalb weniger Tage die gesamte Situation im Land komplett transformierte. Ein Bericht von Martin Halder.
Der Libanon, der durch den Syrienkrieg wirtschaftlich schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde, leidet unter einer massiven Staatsverschuldung (86 Mrd. US-$; 150% des BIPs). Fast die Hälfte der Staatseinnahmen fließt an ausländische Gläubiger. Um deren Interessen weiter bedienen zu können, hat sich die korrupte Regierung unter Ministerpräsident Saad Hariri – selbst ein steinreicher Unternehmer – für weitere Steuererhöhungen und Kürzungen bei den Massen entschieden. Die angekündigte Besteuerung von WhatsApp-Anrufen war dann schließlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und den Unmut der Menschen auf die Straße brachte.
Am 17. Oktober, einem Donnerstag, kam es zu ersten Demonstrationen von mehreren Tausend Jugendlichen, welche die folgenden Tage rasant anwuchsen und sich radikalisierten. Am Samstag darauf demonstrierten bereits 1,2 Millionen und am Sonntag 2 Millionen – also ein Drittel der Bevölkerung – im gesamten Land. Schulen und Universitäten wurden bestreikt und am 21. Oktober legte ein Generalstreik das Land lahm. Die beliebtesten Demo-Slogans lauteten „Revolution! Revolution!“ und „Das Volk will den Sturz der Regierung!“.
Wir lassen uns nicht spalten
Der Libanon gehört zu den Ländern auf der Welt, wo die soziale Ungleichheit besonders stark ausgeprägt ist. Sieben Milliardäre kontrollieren den Großteil der Wirtschaft. Sechs von ihnen entstammen den Familien Mikati bzw. Hariri, welche seit Jahrzehnten auch an der Regierung beteiligt sind, Geld hinterziehen und ihre eigenen Interessen durchsetzen. Die herrschende Klasse hat in der Vergangenheit ihre Macht durch ein System der Spaltung der Bevölkerung entlang von religiösen Linien gesichert. Durch das Ausspielen religiöser Konflikte wurde von den sozialen Widersprüchen abgelenkt. So müssen im Libanon bestimmte politische Ämter proportional nach Religionszugehörigkeit vergeben werden. Diese Strategie des „Teile und Herrsche“ hat auch eine mit Blut geschriebene Geschichte. Von 1975 bis 1990 herrschte im Libanon ein brutaler Bürgerkrieg. Seitdem blieb die Spaltung der Bevölkerung anhand von Herkunft, Religion und Geschlecht eines der wichtigsten Mittel der korrupten Elite, um das Land zu regieren.
Diese historisch gewachsene Spaltung wurde nun aber durch die Massenproteste überwunden. Christen, Drusen, Sunniten und Schiiten gehen gemeinsam auf die Straße. Die Einheit der ArbeiterInnen und Unterdrückten wurde auch materiell durch eine 170 km lange Menschenkette vom Norden bis in den Süden des Landes dargestellt. Ein schiitischer Demonstrant meinte: „Ich komme aus dem Süden, ich fahr zu den Protesten in Beirut und jetzt bin ich im Norden. Ich will zeigen, dass wir alle eins sind und die Politiker uns nicht spalten können.”
Der Unmut der Massen richtet sich gegen Politiker aller Konfessionen, so auch gegen Hassan Nasrallah, den Führer der schiitischen Hisbollah, welche sich demagogisch als Vertretung der Armen darstellt, sich in Wahrheit aber klar hinter die Regierung gestellt hat. So lautet ein Demospruch: „Wenn wir von allen sprechen, meinen wir alle. Nasrallah ist einer von ihnen!“. Und: „Alle unsere Politiker sind Diebe!“.
Auch gegen die Spaltung zwischen den Geschlechtern und die Zurückdrängung der Frau an den Herd wenden sich die Proteste. Gut die Hälfte der TeilnehmerInnen an den Protesten sind Frauen, die entschieden für ein besseres Leben kämpfen. Stellvertretend hierfür stehen die inspirierenden Bilder einer Demonstrantin, die dem bewaffneten Leibwächter eines Ministers in die Magengrube tritt und damit verhindert, dass dieser auf die DemonstrantInnen schießt.
Mutig voran
Im Vorwärtsgehen schaffte es die Bewegung sogar Sympathien der einfachen Soldaten für sich zu gewinnen, die selbst aus den ärmsten Schichten der Gesellschaft und allen religiösen Gruppen kommen. Kaum eine Straßenblockade wurde geräumt. Schlussendlich konnte sich Hariri weder durch Repression noch durch allerlei Zugeständnisse an der Macht halten. Am 29. Oktober musste er seinen Rücktritt verkünden.
Sein Sturz ist allerdings nicht das Ende der Bewegung. Viele AktivistInnen verkünden, dass nun „alle von ihnen“ – die ganze korrupte Clique des Landes – gehen müssen. Ein absolut richtiger Instinkt: Solange die Milliardäre, die die Wirtschaft kontrollieren, nicht gestürzt sind, werden sie weiter das Land aussaugen.
Die Massen haben wichtige Erfahrungen gemacht. Wenn sie vereint kämpfen, erreichen sie innerhalb weniger Tage Veränderungen, die die letzten Jahrzehnte unmöglich schienen. Eine erfolgreiche Revolution im Libanon würde in der gesamten Region des Nahen Ostens einen neuerlichen Arabischen Frühling auslösen.
(Funke Nr. 178/8.11.2019)