Im Libanon ist eine mächtige revolutionäre Bewegung ausgebrochen, die das ganze Land umfasst und die politische Situation dramatisch verändert. Von Adam Zeineddine and Hamid Alizadeh
Mit einer kollabierenden Wirtschaft und einer enormen Verschuldung hat die korrupte Hariri-Regierung verzweifelt versucht, neue Einnahmen zu erzielen, um ihre Rückzahlungen zu decken und den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank sowie andere imperialistische Institutionen zu beruhigen. Leider hat dies für jeden, der nicht Teil des korrupten Regimes im Libanon ist, einen Abbau der sozialen Leistungen und eine höhere Besteuerung der Armen bedeutet. Die Situation erreichte einen kritischen Punkt, als die Regierung eine geplante Abgabe auf WhatsApp-Anrufe ankündigte. Die Massen stürmten die Straßen, und Tausende Jugendliche protestierten am Donnerstagabend. Am nächsten Tag wurden die Proteste größer und umfassten Familien, ArbeiterInnen und die allgemeine Bevölkerung. Dies gipfelte in einer enormen Massenbewegung am Samstag, mit über 1.200.000 DemonstrantInnen im ganzen Land und geschätzten 2 Millionen am Sonntag. In jeder Provinz hat sich die libanesische Bevölkerung aller Religionen einer Bewegung angeschlossen, die sektiererische Spaltungen überwunden hat. Ohne jegliche Organisation oder Führung haben die revolutionären Massen der gewalttätigen Unterdrückung getrotzt, um gegen ihre diebischen Herrscher zu kämpfen.
Die Bewegung ergriff weite Teile des Landes. Von den nördlichen Provinzen Jabal und Chouf bis zum weit südlichen Jnoub sind Hunderte von Protesten ausgebrochen. Diese haben die religiösen Gräben überwunden, die von PolitikerInnen seit Jahrzehnten genutzt werden, um ihre Macht zu erhalten. Die Menschen haben es satt und haben sich gegen ihre gemeinsamen Feinde vereint: die Hariri-Regierung, die libanesischen Milliardäre und die imperialistischen Bankiers, die sie unterstützen.
Wirtschaftliche Turbulenzen: Wer bezahlt die Krise?
Der Libanon ist mit einem Schuldenberg von 74,5 Milliarden Dollar, der 140 Prozent des BIP ausmacht, eine der größten Schuldner der Welt. Damit verbunden ist eine massive Ungleichheit, da das Land auch eine der höchsten Milliardärsraten aufweist. Mit insgesamt sieben Milliardären, die die Wirtschaft dominieren, sind das etwas mehr als ein Milliardär pro 500.000 LibanesInnen. Die meisten dieser Milliardäre stammen entweder aus den Familien Hariri oder Makti, die seit Jahrzehnten an der Regierung beteiligt sind und aktiv Gelder unterschlagen haben, um ihre eigenen politischen oder persönlichen Ziele zu verwirklichen. Dies steht im Zusammenhang mit einer Gesamtarbeitslosenquote von über 25 Prozent, wobei die Jugendarbeitslosigkeit mit 37 Prozent noch höher liegt. Und das sind nur offizielle Zahlen, die den Ernst der Lage untertreiben.
Im Jahr 2018 traf die libanesische Regierung unter der Leitung von Saad Hariri in Paris internationale Investoren aus Amerika und Europa. Sowohl der IWF als auch die Weltbank haben der libanesischen Regierung über 11 Milliarden Dollar an Darlehen zugesagt, unter der Bedingung, dass „Strukturreformen“ stattfinden. Insbesondere hat der IWF betont, dass eine Verringerung des Defizits notwendig ist, damit diese Mittel freigegeben werden können. Diese hochtrabende Sprache beinhaltet ein Programm mit schweren Einschnitten für ArbeiterInnen und junge Menschen, um den Staatshaushalt auszugleichen.
Das bedeutet, dass die herrschende Klasse das volle Gewicht der Krise auf die Schultern der Ärmsten verteilt. Bereits im Juni begann ein Sparprogramm für die arbeitenden Menschen. Die Pensionen wurden gekürzt, ebenso gab es einen Einstellungsstopp im öffentlichen Sektor und Kürzungen bei allen Boni, die die Beschäftigten im öffentlichen Sektor erhalten hätten. Zu Recht hat dies die Massen im Libanon erzürnt, die täglich ums Überleben kämpfen. Die Grundversorgung mit Strom und Wasser ist in großen Teilen des Landes kaum gewährleistet. Die Müllabfuhr wurde 2015 sogar für eine Weile eingestellt und wird auch heute noch häufig nicht durchgeführt. Während die Ärmsten Tag für Tag von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck überleben, verbringen die PolitikerInnen ihre Zeit damit, Intrigen zu schmieden, um mehr Reichtum und Macht für sich und ihre Freunde zu erwirtschaften. Die Korruption ist hinter dem Furnier der libanesischen Demokratie verborgen und für alle offensichtlich.
Das ist die Ausgangsbasis für die Bewegung auf den Straßen. Mit fast einem Drittel der Bevölkerung (fast zwei Millionen), die im ganzen Land protestieren, markiert dies eine neue Stufe in der Entwicklung des Klassenkampfes im Libanon. Der aufkommende Zorn gegen die herrschende Klasse hat alle Versuche, die Massen zu spalten, überwunden und zu einer einheitlichen, revolutionären Bewegung geführt, die den Sturz der Regierung anstrebt.
Die Menschen wollen die Regierung stürzen
In der Vergangenheit wurden die meisten Proteste und Bewegungen durch die Religionspolitik des Landes leicht verdrängt. Seit der Bildung des politischen Systems des Libanon basieren die Regierungen auf religiösen Gruppen. Verschiedene politische Ämter werden ausschließlich von schiitischen oder sunnitischen Muslimen besetzt, während andere Ämter von den Christen besetzt werden. Dies war ein beabsichtigter Plan der französischen Mandatsbehörde, die das Land gründete, um die Massen zu spalten und sicherzustellen, dass keine Bewegung die Interessen der Imperialisten gefährden konnte.
Bei der derzeitigen Bewegung ist klar, dass die Religionspolitik die Massen nicht aufhalten wird. Allein in Beirut marschierten eine Million DemonstrantInnen aus allen Religionen und Schichten. Schiiten, Sunniten, Christen und Drusen marschierten alle gemeinsam gegen eine korrupte Regierung, die von der Plackerei des Volkes lebt. Dies wird durch die beiden beliebtesten Slogans der Bewegung deutlich: „Revolution! Revolution!“ und „Das Volk will den Sturz der Regierung!“ Sogar der Hisbollah-Führer, Hassan Nasrallah, wurde nicht verschont, mit Gesängen wie „Wenn wir von allen sprechen, meinen wir alle. Nasrallah ist einer von ihnen“! Alle Versuche der politischen Führer, die Massen mit leeren Worten zu beruhigen, haben diese nur weiter ermutigt.
Seit einem Jahrhundert nutzt die herrschende Klasse diese wichtigsten sektiererischen Gräben im Land, um ihre eigene Herrschaft und ihre fortgesetzte Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Armen zu rechtfertigen. Aber diese oberflächliche Erklärung wurde als Täuschung entlarvt. Wie eine Diebeshöhle haben sich Regierungsbeamte aller Religionen hinter ihrer eigenen Klasse versammelt und diese korrupte Regierung verteidigt. Vor allem Nasrallah sprach sich für die Regierung aus und erklärte, dass ihr Rücktritt eine „Zeitverschwendung“ wäre. Die Hisbollah repräsentiert einen Teil der schiitischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Bourgeoisie, aber sie hat sich immer als eine Partei der Armen dargestellt. Mit zunehmendem Einfluss hat sie sich aber auch stärker am Staat und an der Wirtschaft beteiligt. Sie ist auch inoffiziell Teil der jetzigen Regierung der „nationalen Einheit“ – das heißt einer Regierung aller Parteien zur Sicherung der Stabilität des libanesischen Kapitalismus. Mit seinen Kommentaren zur Unterstützung der Regierung hat Nasrallah gezeigt, wo seine wahren Interessen liegen.
Dies hat den Massen verdeutlicht, dass keiner der derzeitigen politischen Parteien vertraut werden kann. Die DemonstrantInnen haben Minister aller Couleur ins Visier genommen, wobei schiitische DemonstrantInnen die Büros ihrer Abgeordneten im Südlibanon angriffen und auf Gewalt von Hisbollah-Milizen gestoßen sind. Dies ist ein beispielloser Schritt, denn der Südlibanon ist seit Jahrzehnten die Hochburg der Hisbollah. Dies zeigt die Krise des gesamten Establishments. Die Massen haben das Vertrauen in das kapitalistische System verloren und wollen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Thawra hatta al nasr! Revolution bis zum endgültigen Sieg!
Aufgrund dieser enormen Bewegung hat die Hariri-Regierung bereits viele ihrer Kürzungen zurückgenommen. Die Steuer auf WhatsApp-Anrufe, die die Bewegung ausgelöst haben, wurde fast unmittelbar nach Ausbruch der Proteste abgeschafft und vier Kabinettsminister sind inzwischen aus der Regierung ausgeschieden. Der neue Haushalt, den Hariri zusammenstellt, verspricht keine Kürzungen oder zusätzliche Abgaben und beinhaltet einige Strukturreformen – aber das ist nicht genug. Es ist klar, dass die Regierung keine Antwort auf die lähmenden Schulden, die Arbeitslosigkeit und die allgemeine Verschlechterung der libanesischen Gesellschaft hat. Diese „Lösung“ ist ein Heftpflaster, das nur zu einer Fortsetzung des Status quo führen wird. Das Hauptproblem ist nicht diese oder jene Steuer, sondern das kapitalistische System, das den ArbeiterInnen und den Armen Libanons nichts als endloses Leid gebracht hat.
Und deshalb drängen die Massen immer wieder nach vorne. Wenn sie sehen, wie die Regierung Zugeständnisse macht, von denen man ihnen erst vor wenigen Tagen sagte, dass sie unmöglich sind, dann gewinnen die Massen an Selbstbewusstsein und spüren ihre kollektive Stärke. Sie wissen vielleicht nicht genau, was sie wollen, aber sie wissen, dass sie keinen weiteren Tag unter den gegenwärtigen Bedingungen ertragen können.
Trotz mangelnder Organisation haben die Massen verschiedene Forderungen gestellt. Der Rücktritt der Regierung ist die offensichtlichste. Aber es folgten weitere Forderungen, den Missbrauch durch die Sicherheitskräfte zu beenden, alle inhaftierten AktivistInnen freizulassen und alle zusätzlichen Steuern für die Massen abzuschaffen. Es werden auch Forderungen gegen Arbeitslosigkeit, Inflation und Korruption erhoben.
Jetzt geht es darum, all dies auf eine organisierte Basis zu stellen. Erstens muss die Bewegung die Arbeiterklasse einbeziehen, die die einzige Kraft ist, die in der Lage ist, die Gesellschaft vollständig zum Stillstand zu bringen. Bereits jetzt teilen AktivistInnen Bilder, die einen Generalstreik für Montag erklären, und die Stimmung der Massen zeigt die Unterstützung für diese Idee. In jeder Fabrik, Universität, Nachbarschaft und jedem Dorf sollten Kampfkommissionen eingerichtet werden, um den Streik und die Verteidigung gegen staatliche Repressionen zu koordinieren. Es müssen auch Appelle an die Soldaten im Libanon gerichtet werden, sich der Bewegung anzuschließen.
Die Ausschüsse sollten auf lokaler und nationaler Ebene vernetzt werden, um die Forderungen des Kampfes zu diskutieren, wie z.B. den Sturz der Regierung, die Beendigung aller Repressionen, die Freilassung politischer Gefangener, die Rücknahme aller Sparmaßnahmen, die Bereitstellung von Strom und Wasser in Wohngebieten, die Wiederherstellung der Pensionen für Beschäftigte im öffentlichen Sektor und ein Ende des Einstellungsstopps. Darüber hinaus ist die Frage der Verstaatlichung zu stellen. Seit Jahrzehnten saugen die Hariris, Matkis und der Rest der kleinen libanesischen Elite den Rest der Bevölkerung aus. Sie müssen enteignet werden, zusammen mit all ihren GefährtInnen und allen anderen, die für die Plünderung des Staates verantwortlich sind. Ihre Unternehmen und ihr Vermögen sollten genutzt werden, um den Lebensstandard zu erhöhen und die libanesische Gesellschaft als Ganzes weiterzuentwickeln.
Durch eine organisierte Bewegung könnte die Regierung leicht gestürzt werden. Es ist die Arbeiterklasse, die Reichtum produziert und die Gesellschaft am Laufen hält. Ohne die Erlaubnis der ArbeiterInnen würde die libanesische Gesellschaft nicht funktionieren, und ein Generalstreik würde ihre Macht zur Geltung bringen.
Es sind nicht die Werktätigen, die für diese Krise bezahlen müssen, sondern die Bosse, Bankiers und Imperialisten des Libanon. Sie leben seit Jahrzehnten auf Kosten der arbeitenden Menschen. Man kann sich nicht auf sie verlassen oder darauf, dass sie die Bedingungen im Land ändern. Das müssen die Menschen selbst tun, indem sie auf den Straßen die Macht in die eigenen Hände nehmen. Überall im Nahen Osten brodelt die Revolution unter der Oberfläche. Von Marokko über Algerien, Tunesien, Sudan, Ägypten, Jordanien und Irak wenden sich die Massen wieder einmal gegen ihre völlig überkommenen Herrscherklassen. Selbst in Ländern wie dem Iran und der Türkei wurden die Bewegungen nur vorübergehend durch Auseinandersetzungen zwischen den Mächten der Region aufgehoben. Eine siegreiche Revolution im Libanon wäre ein starker Impuls, die Bewegung auf einem weitaus höheren Niveau wiederzubeleben, als wir es 2011 erlebt haben.
★ Nieder mit der Regierung der Diebe!
★ Nieder mit der korrupten Elite!
★ Vorwärts zur libanesischen Revolution!
★ Für eine sozialistische Revolution im Libanon als Auslöser einer breiten Revolution im Nahen Osten!