Rechtzeitig zum Revolutionsjubiläum erschien „Marx und Wien“ von Pressemitarbeiter Günther Haller. In der Tat verbrachte Karl Marx im Spätsommer 1848 einige Tage in Wien. In der „Presse“ wird die Reise abschätzig als „Revolutionstourismus“ belächelt, bei der der verbohrte Dogmatiker Marx aber gescheitert sei, die Revolution entscheidend zu beeinflussen.
Nach der Niederlage des Juniaufstandes in Frankreich war für Marx Wien zum Zentrum der Revolution in Europa geworden. Hier würde sich das Schicksal der Revolution in allen deutschen Staaten und darüber hinaus entscheiden. Marx und sein Freund und Genosse Friedrich Engels hatten mit Ausbruch der Revolution versucht nach Deutschland zurückzukehren. Ihre Organisation, der „Bund der Kommunisten“, der kurz vor Ausbruch der Revolution das „Kommunistische Manifest“ herausgegeben hatte, war in Deutschland noch kaum präsent, weshalb Marx und Engels sich dazu entschieden, die eigenen Genossen darauf zu orientieren, dort mit Hilfe der „Neuen Rheinischen Zeitung“ (NRZ) in der demokratische Bewegung für ihre Perspektiven zu wirken. Die NRZ berichtete auch regelmäßig über die Ereignisse in Wien und wurde ihrerseits von den radikalsten Teilen der Bewegung in Wien gelesen.
Marx‘ Wien-Reise hatte gewiss den Zweck, Kontakte zu den fortgeschrittensten Teilen der revolutionären Bewegung herzustellen. Dokumentiert sind seine Reden vor dem „Demokratischen Verein“ sowie vor dem Ersten Allgemeinen Arbeiterverein, wo er vor rund 1000 Personen über den Zustand der Arbeiterbewegung in Westeuropa bzw. über Lohnarbeit und Kapital referierte. Marx vertrat offen den Standpunkt, dass die Revolution längst durch den Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat gekennzeichnet sei und dass die organisierte Arbeiterbewegung der entschiedenste Trupp der Revolution sein müsse.
Marx nahm auch am Begräbnis der gefallenen Arbeiter der Praterschlacht vom 23. August teil und sah dort eine eindrucksvolle Kundgebung des revolutionären Wien, speziell der noch jungen Arbeiterbewegung in der Stadt. Karl Marx traf sich aber in Wien auch mit dem Prager Reichstagsabgeordneten Alois Borrosch, der durch sein radikales Auftreten in der Frage der Bauernbefreiung Furore machte und zu einer Symbolfigur der Revolution wurde, und nahm am Fackelzug zu dessen Ehren teil.
Mit seiner Reise konnte Marx natürlich nicht die Geschicke der Revolution entscheiden, doch wie Karl Höger, einer der Pioniere der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung, rückblickend schrieb: „Es ist wohl zweifellos, daß die Anwesenheit Marx‘ und dessen Vorträge im Arbeiterverein bei den Mitgliedern befruchtend gewirkt haben, da er ihnen seine Ideen über die politische und wirtschaftliche Umgestaltung nicht vorenthalten hat.“
Marx selbst zog aus den Erfahrungen der Revolution von 1848/9 wichtige Schlüsse in Bezug auf seine Revolutionstheorie. Im Gegensatz zu den revolutionären Demokraten sei „unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ (Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, 1850)
Link zur Stadtführung: „Auf den Spuren der 1848er Revolution in Wien“