Türkei. In der Türkei ist der Übergang zu einer offenen Diktatur in vollem Gange. Doch es gibt auch immer mehr Widerstand gegen Erdogan und das System. Von Florian Keller.
Nachdem der Putschversuch vom 15. Juli 2016 durch Erdogan und seine Verbündeten abgewendet wurde, sitzt der Sultan scheinbar unerschütterlich auf seinem Thron. Erdogan und seine Clique nutzten die Zeit nach dem Putsch für eine großangelegte Säuberung des Staatsapparates und der Neutralisierung politischer GegnerInnen. So sitzen laut Angaben der Regierung selbst im Zusammenhang mit dem Putsch derzeit 50.000 (!) Menschen hinter Gittern. Etwa noch einmal so vielen wird der Prozess gemacht. Insgesamt wurden 109.000 Menschen aus dem öffentlichen Dienst entlassen.
Die Konsolidierung der Diktatur geht dabei den Weg, der schon fast klassisch genannt werden kann: Erdogan provozierte einen blutigen Bürgerkrieg in den kurdisch dominierten Gebieten der Türkei mit tausenden Toten. Die Situation in einigen Gebieten der Osttürkei ist dabei mittlerweile nicht mehr von den 1990er Jahren zu unterscheiden, als der Bürgerkrieg seinen bisherigen Höhepunkt erreichte: Straßensperren und Checkpoints von Armee und Polizei zerstückeln alle Straßen, es gibt ständige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Staatsmacht und PKK-KämpferInnen.
Die „Gefahr des Terrorismus“ wird dafür benutzt, demokratische Rechte einzuschränken, Polizeiaktionen gegen alle und jeden, der in Frage kommt, eingeschlossen. Dabei ist Terrorismus zum Schlagwort nicht nur für Oppositionelle geworden, sondern für alles, was in irgendeiner Form kritisch ist. Alleine im vergangen Jahr gab es über 68.000 „Anti-Terror“-Operationen, bei denen über 30.000 Menschen verhaftet wurden. „Unterstützung von Terrorismus“ ist dabei zur universalen Anklage geworden, mit denen alles gerechtfertigt wird. Das alles ist Begründung für eine enorme Ausweitung der Rechte der Staatsmacht und spezieller Erdogans. Neben der Verfassungsreform, die die Türkei in ein Präsidialsystem umbaute, ist der Ausnahmezustand zu nennen, der Mitte Oktober noch einmal verlängert wurde und damit bald eineinhalb Jahre in Kraft ist.
Dabei beschränkt sich Erdogan nicht mehr „nur“ auf Oppositionelle, es findet auch eine groß angelegte Säuberung der regierenden AKP selbst statt. So musste der Bürgermeister Istanbuls zurücktreten, dessen Schwiegersohn in einen Korruptionsskandal verwickelt ist. Dasselbe droht jetzt dem Bürgermeister von Ankara, der seit 1994 im Amt ist und bereits seinen Rücktritt angekündigt hat. Und das alles ist nur die Spitze des Eisberges in Erdogans Clinch mit Bürgermeistern, Provinzchefs und Funktionären. Man sieht, dass die Luft an der Spitze des türkischen Staates dünner wird.
Auch auf wirtschaftlicher Ebene bleibt Erdogan nur sehr wenig Raum zum Manövrieren. Zwar steht ein robustes Wirtschaftswachstum von 5% zu Buche, aber dieses steht auf extrem wackligen Füßen: Die Türkei ist von der relativ stabilen Situation am Weltmarkt und Krediten eben dort abhängig. Die Regierung hat in den letzten Jahren ein schwächer werdendes Wachstum mit immer mehr Geld aus der Zentralbank zugeschüttet, was die Währung (die türkische Lira) unter dauernden Druck setzt – die politischen Bocksprünge sind dabei ein weiterer Unsicherheitsfaktor, während die Staatsverschuldung massiv steigt. De facto erhöht der türkische Staat den Einsatz im Casino des Weltmarktes immer mehr und wettet hochspekulativ auf ein weiteres Anhalten der relativ positiven Entwicklungen.
Auch wenn das im Moment noch gut geht – den Preis zahlen schon jetzt die ArbeiterInnen, deren Einkommen unter dem Druck einer massiv gestiegenen Inflation stehen (derzeit über 11%) und die unter einer immer größer werdenden Arbeitslosigkeit leiden. Sie leiden außerdem unter massiven Steuererhöhungen, die das wachsende Loch im Staatshaushalt stopfen sollen: So wird unter anderem die KFZ-Steuer um 40% erhöht, die Lohnsteuer steigt von 27% auf 30%.
Der Widerstand von unten
So ist es kein Wunder, dass es in der Arbeiterklasse immer mehr Unmut gibt. Erdogan ist sich dieser Gefahr bewusst und muss sich so offener als das zeigen, was er tatsächlich ist: Ein Bluthund des Kapitals. Er sicherte auf einer Versammlung AKP-naher UnternehmerInnen im Juni zu: „Der Ausnahmezustand dient euch, indem wir alle Streiks verbieten, könnt ihr ruhig weiter produzieren“. Bisher gibt es vor allem kleine und kleinere Streiks, die aber fast täglich in verschiedenen Regionen des Landes und Wirtschaftsbereichen ausbrechen. Ein größerer geplanter Metallerstreik, der an die erfolgreiche Bewegung von vor 2 Jahren anknüpfen sollte (als vor allem im Automobilsektor gestreikt wurde), scheiterte im Frühjahr nicht zuletzt am Einsatz der Polizei.
Aber Ruhe kehrt in der Arbeiterklasse der Türkei nicht mehr ein, die damit beginnt, ihre Muskeln aufzuwärmen. Und auch der politische Kampf ist trotz aller Unterdrückung nicht zu Ende. Es gibt immer wieder Widerstand, etwa in Solidarität mit zwei wegen politischen Gründen entlassenen AkademikerInnen, die in den Hungerstreik getreten sind und deswegen (!) verhaftet wurden.
Eines ist klar: Die Situation in der Türkei entspannt sich nicht, sondern spitzt sich im Gegenteil immer mehr zu. Erdogan präsentiert der Arbeiterklasse und Jugend in der Türkei eine einfache Alternative, um an der Macht zu bleiben: Entweder ich bleibe, oder ich stürze das Land ins Chaos. Für den Moment ist die erste Alternative noch das „kleinere Übel“. Doch eine revolutionäre Massenbewegung der ArbeiterInnen und Jugend kann und wird diese falsche Alternative früher oder später durchbrechen: Ein gutes und sicheres Leben kann es auch in der Türkei nur auf Basis einer sozialistischen Umwälzung geben. Der Kapitalismus bietet nur Diktatur, Leid und Elend.