Buchengasse 100 ist der Titel der Erinnerungen über drei Generationen der Favoritner Arbeiterfamilie Sokopp im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Faschismus und Krieg. Von Helene Steiner und Sarah Sattelberger.
Unter dem Titel „Buchengasse 100 – Geschichte einer Arbeiterfamilie“ wurden die hinterlassenen Manuskripte von Oswalda „Ossy“ Tonka (1923-1999) von ihrer Tochter Gitta als Buch herausgegeben. Spannend und detailgetreu erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte im Verlauf dreier Generationen. Die Sokopp-Tonkas waren über 100 Jahre lang an den wichtigsten Brennpunkten der österreichischen Geschichte zugegen. Das Leben der Arbeiterfamilie war von Armut und Unterdrückung gezeichnet, aber auch von ihrem radikalen Kampf um soziale Verbesserungen und dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Dabei entwirft Oswalda Tonka ein ausgezeichnetes Bild des oft mühevollen Alltags und der schwierigen Lebensumstände des Wiener Proletariats und bezieht den jeweiligen historischen Rahmen gekonnt mit ein.
Beschrieben wird zunächst das Leben des Großvaters Jakob Sokopp, der um die Jahrhundertwende in der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaft aktiv war, sowie der Großmutter Marianne Dollinger. Beide kamen in den 1870er Jahren aus Mähren nach Wien, um dort zu arbeiten. Es folgt der Kampf des Vaters und dessen Geschwister gegen Krieg und später um das Rote Wien in den 20er und 30er Jahren. Hier ist der Februaraufstand ein besonders prägendes Erlebnis für Teile der Familie. Dadurch werden auch die Differenzen zur Führung der Sozialdemokratischen Partei aufgezeigt, welche den Streik zurückhält und lähmt. Danach geht es um Ossys eigenes Leben und ihren Kampf gegen Faschismus und Krieg.
Durch den frühen Tod der Eltern lebten Ossy und ihre Schwester einige Zeit in einem Waisenhaus und später bei ihren Tanten. Dadurch kann sie sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Erstarken des Nationalsozialismus zeigen. Im Waisenhaus müssen die Kinder schon frühzeitig faschistische Lieder lernen und später den Aufmärschen der Nationalsozialisten zujubeln. Auf der anderen Seite erklären ihr die kommunistischen Tanten die Möglichkeit einer Welt ohne Unterdrückung und geben ihr die Kraft zum Widerstand. Die Buchengasse 100 wird dadurch der Ort, an dem sie politisch aufwächst.
Sie selbst beteiligte sich aktiv am Widerstand, nahm an Sabotageaktionen in Wehrmacht-Betrieben teil und schloss sich später den jugoslawischen PartisanInnen an, um in deren Reihen gegen die Nazis zu kämpfen, wofür sie 1986 auch von der jugoslawischen Regierung ausgezeichnet wurde. Nach dem Krieg war sie aktives Mitglied der KPÖ Favoriten und engagierte sich vor allem auch kulturpolitisch, so z.B. in der Scala und im Kommunistischen Kulturkreis. Ein besonderes Anliegen war es ihr die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand wach zu halten.
„Buchengasse 100“ zeigt uns die Geschichte des 10. Wiener Gemeindebezirks aus Sicht eines Arbeiterkindes. Ossy erlebte den Aufstieg des roten Wiens mit prunkvollen Gemeindebauten sowie die Zerstörungen durch die Austrofaschisten 1934 und später die Vertreibung und Vernichtung von jüdischen MitbürgerInnen. All das hat den Bezirk nachhaltig geprägt und wir können viele Brennpunkte der Geschichte noch heute im Stadtbild sehen.
Das Buch ist ein würdiges literarisches Denkmal, sowohl für die beschriebenen drei Generationen „Sokopp“, als auch für deren Umfeld und die Autorin selbst. Ein besonderes Detail des Buches ist dabei die getreue Wiedergabe der Dialekte der beteiligten Personen. Gleichzeitig vermittelt es einen gut lesbaren und nachvollziehbaren Eindruck vom Alltag der (Favoritner) ArbeiterInnen und auch der Arbeiterbewegung insgesamt. Es zeigt die in relativ kurzer Zeit realisierten Errungenschaften des „Roten Wiens“, ebenso wie deren politische Bekämpfung und Auslöschung durch den Austrofaschismus unter Dollfuß und dem darauf folgenden Nationalsozialismus. Gleichzeitig schafft es die Autorin, den LeserInnen die Notwendigkeit des Kampfes gegen Unterdrückung und den Mut dafür zu vermitteln.