Seriöse bürgerliche Kommentatoren sehen ihr System in Trümmern. Die politische Orientierung der Arbeiterbewegung muss weg von der Stabilisierung hin zur Überwindung des Kapitalismus verlagert werden.
Während in den Massenmedien weiter munter rassistisch gehetzt und die Alternativlosigkeit zur Zurichtung der arbeitenden Menschen, der Alten, Kranken und der Jugend und deren Unterordnung an die Profitbedürfnisse der Superreichen getrommelt wird, dominieren zu Jahresbeginn in den seriösen bürgerlichen Blättern nüchterne bis dunkle Selbsteinschätzungen gegenüber der Lebenskraft ihres eigenen Systems:
„Es stimmt nicht, dass die Menschheit nicht aus der Geschichte lernen kann. Sie kann es, und der Westen hat die Lektionen aus der dunklen Periode zwischen 1914 und 1945 gezogen. Aber es scheint, dass wir die Lektionen verlernt haben. (…) Die Hoffnungen auf eine mutige neue Welt des Fortschritts, der Harmonie und Demokratie, die durch die Liberalisierung der Märkte der 1980er Jahre und den Fall des sowjetischen Kommunismus zwischen 1989 und 1991 beflügelt wurden, sind heute zu Asche verglüht.“ (Martin Wolf, Financial Times 5.1.)
„Die Welt tritt in die gefährlichste Situation seit Jahrzehnten ein. Die scharfe Zunahme an Kriegen in den letzten Jahren überfordert unsere Möglichkeiten mit deren Auswirkungen klarzukommen. Von der globalen Flüchtlingskrise bis hin zur Ausbreitung des Terrors, unser kollektives Versagen Konflikte zu lösen, ermöglicht neue Bedrohungen und Notlagen. Sogar in friedlichen Gesellschaften führt die Politik der Angst zu gefährlichen Polarisierungen und Demagogie.“ (J-M. Guéhenno, Foreign Policy, 5.1.2017)
„Einige Revolutionen hätten vermieden werden können, wenn die alte Garde von Provokationen Abstand genommen hätte. Es gibt keinen Beweis für den ‚Dann sollen sie eben Kuchen essen‘-Vorfall. Aber etwas Derartiges könnte Marie Antoinette gesagt haben. Es klingt glaubhaft. Die Bourbonen waren schwer darin zu schlagen, was deren Entfremdung von der Gesellschaft anlangt. Sie haben Konkurrenz bekommen. (…) die Türhüter der globalen liberalen Ordnung gehen weiter volles Risiko.“ (W. Münchau, Financial Times, 27.11.2016)
Der Vergleich mit der Französischen Revolution macht einiges deutlich. Tatsächlich hat die herrschende Klasse samt ihrer „ExpertInnen“ den Blick für die reale Lage der Gesellschaft verloren. Sie ging von der Annahme aus, dass ihre Ordnung, die aus dem Boom der Nachkriegsökonomie entstand, für immer weiterbestehen würde. Die globale Marktwirtschaft und die bürgerliche „Demokratie“ waren die unbestrittenen Erfolgsmodelle einer heute verglühenden Epoche.
Die Schamlosigkeit der ExponentInnen dieses verrotteten Systems kennt dabei keine Grenzen. In diesen Tagen kursiert in den Social Media ein Foto einer Zechrechnung bei einem Tiroler Luxuswirten in der Höhe von 124.992 € (sic!). Die aktuelle IWF-Direktorin Christine Lagarde, also Chefin einer Institution, die sich der globalen Finanzstabilität verschrieben hat, wurde eben vor einem Gericht verurteilt, als französische Finanzministerin fahrlässig zugunsten eines befreundeten Unternehmers interveniert zu haben. Angesichts ihrer „Position“ verzichtet das Gericht jedoch auf eine Strafe.
Und gerade wird ruchbar, dass der niederösterreichische LH Pröll Nutznießer einer Privatstiftung ist, die jährlich mit 150.000 € aus Steuermitteln gespeist wird, zuletzt vor wenigen Tagen. Innenminister Sobotka und seine Vorgängerin Mikl-Leitner haben ihrem Parteifreund in den letzten neun Jahren 1,35 Mio. € bereitgestellt. Die Demagogie der korrupten Eliten kennt keine Grenzen. Die Grundlage ihrer Schamlosigkeit ist die scheinbare Alternativlosigkeit zu ihrem krisenhaften, verfaulten und zunehmend menschenfeindlichen System.
Die globale Krise des Kapitalismus hat Bedingungen geschaffen, die völlig anders sind als die Bedingungen, die bisher (zumindest für eine Handvoll privilegierter Staaten) nach dem Zweiten Weltkrieg existierten. In diesem Zeitraum erlebten wir den größten Aufschwung des Kapitalismus seit der Industriellen Revolution. Das war der Boden, auf dem die viel gepriesenen „liberalen Werte“ gedeihen konnten. Der Wirtschaftsboom bescherte den Kapitalisten ausreichende Profite, um der Arbeiterklasse Zugeständnisse zu machen und ihr System zu stabilisieren.
Mit der Krise von 1973/74 brach das Konzept des gegenseitigen Vorteils für Kapital und Arbeit zusammen. Seither vermehrt das Kapital seinen Reichtum nur noch auf Kosten der Einschränkung der Lebensgrundlagen der Arbeiterklasse. Die Wirtschaftskrise von 2008 hat dieses Auseinanderdriften beschleunigt und verdichtet sich zu einer zunehmenden globalen sozialen und politischen Krise.
Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen. Sie klammern sich hartnäckig an alte Vorstellungen und Vorurteile, das bekannte Übel ist noch immer vertrauter und behaglicher als das unbekannte Neue. Politischer Ausdruck dieser konservativen Grundhaltung ist der Reformismus, der die Arbeiterbewegung dominiert. Christian Kern hält am 11.1. eine Rede, die voller sprachlicher Illusionen bezüglich der Stabilisierung der Ökonomie und einer harmonischen Entwicklung der Gesellschaft sein wird. Gar nichts soll sich verändern, nicht mal die Regierung mit der ÖVP, wie im Vorfeld in den Medien kolportiert wurde, trotzdem soll alles besser werden.
Dies ist ein Taschenspielertrick, der die Gemüter verzweifelter AktivistInnen der Arbeiterbewegung für einige Wochen beruhigen soll, ein Programm für eine soziale Schubumkehr ist es nicht. Im Gegenteil, es wickelt die Arbeiterbewegung noch mehr in falsche Illusionen, sofern diese Rede abseits der politischen Interessierten überhaupt Beachtung findet.
Wir MarxistInnen hingegen haben ein klares Bild: Nicht die Stabilisierung des Kapitalismus, sondern sein Sturz ist das passende und realistische Programm, das die Arbeiterbewegung braucht. Zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution, jenes epochemachenden Ereignisses, das bewiesen hat, dass die Arbeiterklasse fähig ist, mit dem System zu brechen und eine soziale und politische Alternative zu formulieren, werden wir weiter geduldig für diese Idee und Perspektive argumentieren. Jede und jeder ist willkommen mitzumachen. Das Scheitern des ersten Entwurfes eines Arbeiterstaates ist kein Argument dafür, die aktuelle Alternativlosigkeit fortzuschreiben. Die historischen Bedingungen sind heute objektiv besser als jemals zuvor, nicht nur den Kapitalismus abzuschaffen, sondern zeitnah das Paradies auf Erden zu errichten.
Wien, 11. Jänner 2017
Weitere Themen der neuen Ausgabe:
- Österreich
- Junge SPlerInnen skizzieren „New Deal“
- Populismus: Im Namen des Volkes
- Graz: Vorgezogene Neuwahl
- Betrieb & Gewerkschaft
- Metall: Eigentum verpflichtet nicht
- FIOM in Italien: Ein Damm ist gebrochen
- DeutschlehrerInnen: Der Tragödie letzter Akt?
- Russland 1917: Ein zerissenes Land
- Schwerpunkt: Antifaschismus und Antirassismus
- Was macht der FPÖ Dampf…?
- Leo Trotzki über Faschismus
- Auf die Straße gegen Rechts!
- Wir über uns
- Zur 150. Ausgabe
- Unsere revolutionäre Tradition: Wera Iwanowna Sassulitsch
- Geschichte
- Mord in Schattendorf
- International
- Chinas Imperialismus in Südostasien
- Syrien: Das Elend der Berichterstattung
- Türkei: Terroranschlag auf Feiernde
- USA: Die „Alternative Rechte“ fürchten oder bekämpfen?
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