Wer in den letzten Wochen den Blick zu sehr auf der politischen Situation Österreichs ruhen ließ, wird nur ein ziemlich verzerrtes Bild der Realität in Europa bekommen. Denn während in Österreich der Aufstieg der FPÖ das bestimmende Thema ist, steht in Frankreich, dem zweitgrößten Land der EU, der Klassenkampf wieder auf der Tagesordnung.
Auslöser für die größten Proteste seit 1995 ist eine Reform des Arbeitsrechtes, die die sozialistische Regierung unter Präsident Francois Hollande und Premierminister Manuel Valls unter allen Umständen durchsetzen möchte. Mit dieser Reform, nach der Arbeitsministerin „El Khomri- Gesetz“ genannt, soll ein Generalangriff auf die durch die französischen ArbeiterInnen erkämpften Rechte stattfinden. So soll, um nur einige Beispiele zu nennen, mit diesem Gesetz unter anderem der Kündigungsschutz aufgebrochen werden, die 35-Stunden-Arbeitswoche durch Flexibilisierungen de facto gekippt werden und Lohnreduktionen für Unternehmen einfacher durchzusetzen sein. Man kann dieses Gesetz in seinem Sinn mit den „Agenda 2010“-Reformen in Deutschland vergleichen, die einen riesigen Niedriglohn- und Leiharbeitssektor schufen. Damit sollte damals in Deutschland und heute in Frankreich die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Wirtschaft gestärkt werden – auf Kosten des Lebens von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern.
Doch nach Jahren der Krise sind die ArbeiterInnen und Jugendlichen nicht mehr bereit, ihr Leben noch weiter zerstören zu lassen. Wie überall in Europa steigt die Arbeitslosigkeit seit Jahren an. Vor allem für die Jugend sind die Entwicklungen dramatisch, eine ganze Generation wird perspektivlos zurückgelassen. So ist es auch kein Zufall, dass die ersten großen Mobilisierungen gegen die Konterreform von einer Jugendbewegung getragen wurden. Dabei wurden Schulen und Universitäten im ganzen Land bestreikt und besetzt und es versammelten sich in der „Nuit Debout“- Bewegung (wir berichteten in der letzten Ausgabe) Hunderttausende Nacht für Nacht auf zentralen Plätzen im ganzen Land. Auch eine Streikbewegung mit mehreren nationalen Aktionstagen, bei denen hunderttausende Menschen demonstrierten, entwickelte sich.
Die Regierung selbst ist durch die Wucht der Massenbewegung angezählt. Selbst in der eigenen sozialistischen Partei gab es einigen Unmut, einzelne Abgeordnete kündigten an, gegen das El-Khomri Gesetz stimmen zu wollen. Premierminister Valls musste sich so am 10. Mai des Notstandsparagraphen 49-3 der französischen Verfassung bedienen, um das Gesetz durch die Nationalversammlung zu peitschen. Damit gilt ein Gesetz ohne Abstimmung als angenommen, wenn nicht innerhalb von 24 Stunden ein Misstrauensvotum die Regierung stürzt.
Die Massenbewegung wurde dadurch aber nicht beendet, sondern wurde im Gegenteil umfassender und radikaler. Die Gewerkschaften, allen voran die linke CGT, verbreiterten ihren Widerstand. Zuerst hatten die Gewerkschaftsführungen sich wie erwähnt darauf beschränkt, mit einzelnen Aktionstagen „Druck auszuüben“ und in Wirklichkeit Dampf abzulassen. Doch auf Druck der wütenden Basis entwickelt sich eine massive Streikbewegung in den verschiedensten Branchen, an deren Spitze die CGT steht.
So streikten die TransportarbeiterInnen. Einige Ölraffinerien des Landes wurden bestreikt, alle anderen blockiert. Nach einer Welle der Polizeigewalt, mit der die Regierung versuchte die Straßen wieder freizubekommen, traten die ErdölarbeiterInnen in allen Raffinerien in den Streik, die Folge sind massive Engpässe in der Benzinversorgung. Es begannen Warnstreiks in einigen Atomkraftwerken, der zentralen Stütze der Stromversorgung in Frankreich. ZeitungsdruckerInnen traten in den Streik, nachdem die ZeitungseigentümerInnen sich geweigert hatten, eine Erklärung der CGT zu den Streiks abzudrucken. Zu Redaktionsschluss werden außerdem die Häfen in Dünkirchen und Le Havre bestreikt. Ein Bahnstreik hat begonnen, außerdem werden die Bediensteten der Pariser Busse und der Metro in den Streik treten. Gleichzeitig gibt es Massendemonstrationen und angekündigte Streiks in der Luftfahrtbranche. Industriegebiete werden von Kundgebungen tausender ArbeiterInnen blockiert. Kurz: Die gesamte Wirtschaft steht am Rande des Stillstandes.
Die Regierung hofft, sich mit einer Mischung aus kleinen Zugeständnissen und brutalen Polizeieinsätzen gegen Streikende und Demonstrationen, bis zur Fußball-EM retten zu können, um dann die soziale Bewegung im Fußballfieber aussitzen zu können. Doch im Moment stehen auch hier die Karten nicht gut für sie: Laut einer Umfrage sieht eine deutliche Mehrheit der Französinnen und Franzosen die Verantwortung bei der Regierung, sollte es zu Behinderungen der EM kommen.
Der Klassenkampf ist also mit aller Macht zurück auf der Tagesordnung. Ein Sieg gegen die Arbeitsmarktreform ist in greifbarer Nähe – trotz zögerlicher Taktik der Gewerkschaftsführungen, die nicht auf vollen Konfrontationskurs mit der Regierung gehen wollen. Das zeigt sich auch in den panischen Reaktionen der bürgerlichen Presse, der Unternehmerverbände und der Regierungsspitze. Premierminister Manuel Valls etwa hat die CGT als „soziale Terroristen“ bezeichnet. Der bürgerliche Oppositionspolitiker Francois Fillon sprach davon, dass sich die CGT „außerhalb des Rahmens der Demokratie und der Republik“ stelle.
Diese Sprache drückt die Angst der Herrschenden nicht nur vor einem Scheitern der Arbeitsmarktreform aus, sondern auch vor den revolutionären Traditionen der französischen ArbeiterInnen. Die Herrschenden haben 1789, 1830 und 1848 und 1871 nicht vergessen. Die Ältesten von ihnen können sich noch an den Generalstreik 1936 erinnern, viele an den Generalstreik 1968, bei dem 10 Millionen ArbeiterInnen das Land wochenlang lahmlegten und kurz davor waren, die Macht des Kapitals ein für alle Mal zu brechen.
Auch in Österreich werden ähnliche Entwicklungen in der Zukunft unvermeidlich sein. „Doch ist das nicht unmöglich?“, werden sich viele fragen., „Hat nicht die Mehrheit der ArbeiterInnen bei den Bundespräsidentschaftswahlen die FPÖ gewählt? Ist nicht die Flüchtlingsfrage das bestimmende Element?“
Vergessen wir nicht, dass noch im Winter die Situation in Frankreich durchaus ähnlich war. Nach den Terroranschlägen von Paris war die rechte Front Nationale von Marine Le Pen mit ihrem Rassismus und der Hetze gegen Muslime und Flüchtlinge in aller Munde und konnte spektakuläre Umfrageergebnisse vorweisen. Jetzt kräht kein Hahn nach ihrer Meinung – die ArbeiterInnen beginnen den Würgegriff der „nationalen Einheit“ und der „Sozialpartnerschaft“ zu durchbrechen und stoßen damit gleichzeitig die rechten DemagogInnen zur Seite. Das wird auch in Österreich früher oder später passieren. Kämpfen wir also gegen Rassismus und den Rechtsruck mit den Methoden und dem Programm der Arbeiterklasse: Dem Klassenkampf und der Überwindung des Kapitalismus!
Wien, 1. Juni 2016
Weitere Themen der neuen Ausgabe:
- Österreich
- Bundespräsidentenwahlen: VdB ist Präsident, der Zorn bleibt
- TTIP und CETA: Vom Freihandel und seinen GegnerInnen
- Nenzing: Mehr als eine „unfassbare Tragödie“
- Arbeitsmarkt: Lohnarbeit lohnt sich immer weniger
- Betrieb & Gewerkschaft
- Metaller: Der Kampf um einen Betriebsrat
- Druck: Die Konfliktfähigkeit steigern
- Geschichte
- Neuerscheinung: Kritik des Austromarxismus
- Schwerpunkt: EU
- „In“ oder „Out?“- Die EU und der Brexit
- Spanien: Ein weiterer Nagel im Sarg der Stabilität
- Griechenland: Reformismus heute
- Wir über uns
- Aufruf: 8.000€ für den Marxismus!
- Das war das marxistische Seminar!
- Großbritannien: Gegen die Hexenjagd in Labour!
- Theorie
- „Das Kapital verstehen“ Teil 2: Verwandlung von Geld in Kapital
- Geschichte
- Oktoberrevolution: Die Revolution und LGBT-Rechte
- Als Hugo Chávez Wien rockte
- International
- Südafrika: Ökonomische FreiheitskämpferInnen
- Erdoğans neuster Streich
- Gesundheit für alle: Gegen das Sparregime, Streikfähigkeit erringen!
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