Frankreich. Um gegen die geplante Arbeitsmarktreform zu protestieren, gingen zuerst Hunderte, dann Tausende auf die Straßen. Und die Jugend erweist sich einmal mehr als treibende Kraft einer neuen Bewegung. Von Sarah Sattelberger.
Seit Jahren versucht die Regierung Hollande mittels einer immer härter werdenden Sparpolitik, die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen. Aber in den Fabriken und auf den Universitäten führt der ständige Spardruck zu immer größer werdendem Unmut. Die sogenannten „Reformen“ der letzten Jahre, die bereits unter der konservativen UMP-Regierung von Ex-Präsident Sarkozy begonnen und von der Regierung unter Präsident François Hollande weitergeführt werden, bedeuten eine massive Verschlechterung der Lebens und Arbeitsbedingungen der arbeitenden Menschen, der Jugendlichen und der Studierenden. Dennoch waren sie nicht in der Lage, die Krise abzumildern, ganz im Gegenteil. Die Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit ist mittlerweile bei 10 Prozent angelangt und unter Jugendlichen beträgt sie sogar 24 Prozent. Inzwischen ist es sogar so weit, dass der „Sozialist“ Hollande wagt, was nicht einmal Sarkozy sich zu tun getraute, nämlich einen Angriff auf die 35-Stunden-Woche, die im Jahr 2000 von der Sozialistischen Partei (PS) eingeführt worden ist. Mit dem neuen Arbeitsgesetz wird sowohl der Kündigungsschutz gelockert, die arbeitsmedizinische Versorgung verschlechtert, als auch die 35-Stunden-Woche flexibilisiert. Unternehmen können damit die tägliche Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden und die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 46 Stunden ausdehnen.
Von der Jugendbewegung…
Ausgehend von den Schulen und Universitäten entwickelte sich eine breite Protestbewegung gegen diese neuen Pläne der Regierung. Die Jugendlichen begreifen sich dabei selbst als zukünftige ArbeiterInnen und bereits im Vorfeld der Proteste wurden mittels der Petition „loi travail – non merci!“ („Arbeitsgesetze: Nein danke!“), die von einem Aktionsbündnis von Gewerkschaftern und Einzelpersonen ins Leben gerufen wurde, über eine Million Unterschriften gesammelt. Für den 9. März riefen Jugendorganisationen zu einem Aktionstag und landesweiten Protesten auf. Die Hauptforderung war dabei, die Arbeitsmarktreform zu stoppen. Eine halbe Million Menschen folgten diesem Aufruf und gingen auf die Straßen. Bemerkenswert ist dabei vor allem die von Anfang an bestehende Zusammenarbeit der Jugend und der Gewerkschaftsbasis. Die StudentInnen riefen zu wöchentlichen Demonstrationen auf, an denen auch viele ArbeiterInnen teilnahmen, die sich mit Reden an den Generalversammlungen der Studierenden beteiligten. Die Gewerkschaftsführung der CGT hielt sich in ihrer Unterstützung eher zurück und machte nur halbherzige Versuche den Protest zu organisieren, was auch mit ein Grund dafür war, dass an den nächsten Demonstrationen eine Woche später am 17. März nicht mehr ganz so viele ArbeiterInnen teilnahmen. Allerdings gab es eine größere Beteiligung von SchülerInnen und StudentInnen und es wurde eine Reihe von Schulen besetzt. Es zeigte sich also einmal mehr, dass die radikalisierte Stimmung unter den Jugendlichen lediglich einen Weg brauchte, um sich auszudrücken.
…zu Streik und Besetzungen
Die Stille und Passivität, welche die letzten Monate nach den Pariser Terroranschlägen im vergangenen November kennzeichnete, wurde durchbrochen. Die Demonstrationen entwickelten sich zu landesweiten Straßenprotesten unter dem Banner „nuit debout“ („die Nacht durchtauchen“), bei denen die Menschen nachts die Straßen und großen Plätze in den Städten besetzen. Es begann mit Besetzungen von Schulen und einzelnen Fakultäten, doch am 31. März weitete es sich zu einer Streikbewegung aus. Mehrere tausend ArbeitnehmerInnen, unter anderem vom Flughafen Orly, der nationalen Bahn, den städtischen Verkehrsbetrieben, sowie von Medienunternehmen und Krankenhäusern beteiligten sich an den Streiks. Auch Schulen und Universitäten wurden bestreikt. Gleichzeitig fanden in 250 Städten in ganz Frankreich Demonstrationen statt, an denen mehr als eine Million Menschen teilnahmen. Seither finden, beginnend mit dem Pariser „Place de la République“, jeden Abend Versammlungen auf größeren Plätzen im ganzen Land statt. Die Bewegung „nuit debout“ drückt eine grundlegende Ablehnung des bestehenden politischen Systems und der traditionellen Parteien aus.
Für die bürgerlichen ExpertInnen und Medien kam diese Bewegung vollkommen überraschend. Nach den letzten Wahlen wurde die massive Wahlenthaltung der Jugendlichen noch als politische Apathie oder als Zeichen für ihren Individualismus interpretiert. Viele, die an den Versammlungen teilnehmen, waren noch nie Mitglieder in einer politischen Organisation, aber haben sich bereits in Gruppen oder Bewegungen, die gegen Ungerechtigkeiten auftreten, engagiert. Was als Bewegung gegen die Arbeitsmarktgesetze begann, hat sich mittlerweile zu einer Bewegung gegen das System als Ganzes ausgeweitet. Es erinnert an die Bewegung der Indignados in Spanien, Occupy Wall Street in den USA und an die Besetzung des Syntagma-Platzes in Griechenland. Das revolutionäre Potential von „nuit debout“ ist offensichtlich und die Mobilisierung und Radikalisierung der Jugend ist ein klares Zeichen dafür, dass sich größere soziale und politische Ereignisse in Frankreich vorbereiten.
Wie weiter?
Auch wenn „La nuit debout“ vielleicht auf den ersten Blick wie eine spontane Bewegung wirkt, so wurde sie doch von AktivistInnen seit Wochen vorbereitet. Zwei Ideen stehen dabei im Vordergrund: 1) Das Problem ist nicht nur das Arbeitsgesetz, sondern die ökonomischen und sozialen Bedingungen, die eine solche Konterreform erfordern. 2) Der Kampf gegen das Gesetz ist essentiell, aber die Regierung wird nicht nachgeben, wenn sie nur mit einer Reihe von Aktionstagen ohne klaren Plan konfrontiert ist.
Ein Generalstreik bzw. ein unbefristeter Streik, bei dem täglich in Massenversammlungen über die Fortführung des Streiks abgestimmt wird und in den immer größere Teile der Wirtschaft inkludiert werden, oder zumindest die Vorbereitung eines solchen, ist die einzige Möglichkeit, die Regierung in die Knie zu zwingen.
Daher versucht die Regierung auch mittels massiver Repression und Polizeieinsätzen, die Jugend unter Kontrolle zu halten. Sie fürchten, das aufrührerische Potential der Bewegung könnte die von den Gewerkschaftsapparaten blockierte Arbeiterbewegung immer weiter mobilisieren. Die Gewerkschaftsführung trägt ihr übriges zur Unterstützung der Regierung bei. Sie hat kein Interesse an einem unbefristeten Streik, da sie kein Wirtschaftsprogramm hat, das sie der Regierung gegenüberstellen könnte. In einem Massenkampf würde sie allein die Kontrolle über die Klasse verlieren. Sie bietet dem Unmut daher keinerlei Perspektive, lediglich einen weiteren Aktionstag. Aber sie hat keine Antwort auf die Frage was danach kommen soll – noch ein weiterer Aktionstag? Und dann noch einer?
„La nuit debout“ kann kein Ersatz für die Organisierung eines unbefristeten Generalstreiks zur Abwehr der sozialen Angriffe sein, aber sie kann diese Entwicklung forcieren, indem sie tausende Menschen aktiviert. Für die tausenden, die sich an dieser Bewegung beteiligen, zeigt „Nuit debout“ einen Weg heraus aus der permanent proklamierten Alternativlosigkeit von Sparen, Arbeitslosigkeit, Militarisierung, Klimawandel, Rassismus und sexueller Unterdrückung, Notstandsgesetzen, etc. Die Notwendigkeit, mit dem System zu brechen, steht im Mittelpunkt der nächtlichen Debatten: Wir müssen die Welt der Arbeitsgesetze beenden und durch eine neue Welt ersetzen, in der die ArbeiterInnen und KonsumentInnen die Wirtschaft und den Staat demokratisch kontrollieren und im Interesse der Massen und nicht der Milliardäre nutzen – also eine Überwindung des Kapitalismus.