Seit kurzem hagelt es weltweit scharfe Kritik von den bürgerlichen Medien an der Bolivarischen Revolution und am venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Nach der Niederlage der Opposition bei den Wahlen im vergangenen Dezember wird nun versucht, Skepsis und Zweifel innerhalb des Chávez-Regimes zu verbreiten. Das Land steuere auf eine Diktatur zu. Eine marxistische Einschätzung von Patrick Larsen, Socialistisk Standpunkt.
Vor einigen Wochen nahm Chávez eine Regierungsumbildung vor, als er seinen Bruder Adán Chávez zum neuen Bildungsminister ernannte. Die bürgerliche Presse sah darin die Entwicklung „diktatorischer und korrupter“ Tendenzen.
Nachdem ihnen die Argumente ausgegangen sind, hat sie sich nun auf das Sondervollmachtsgesetz gestürzt. Das Gesetz ermöglicht Chávez in bestimmten Bereichen per Dekret zu regieren. Das wird von der bürgerlichen Presse als „Konsolidierung der Diktatur“ bezeichnet. So will man die ArbeiterInnen und Jugendlichen weltweit davon abhalten, sich mit der Venezolanischen Revolution zu solidarisieren.
Erstaunlicherweise haben jetzt sogar einige linke Gruppierungen die Argumente der Bürgerlichen übernommen. Weil dieses „undemokratisch“ sei, sollen sich alle gegen das Sondervollmachtsgesetz stellen. Die demagogischen Reden werden angereichert mit Vorschlägen zur „Demokratie von unten“. Damit unterstreichen sie den idealistischen Charakter ihrer Vorstellungen von Demokratie. Soll heißen: Die Demokratie-Idee wird aus jeglichem materiellen Kontext gerissen, völlig losgelöst von Zeit, Ort und politischer Entwicklung. Diese Herangehensweise von linken AktivistInnen führt – auch wenn sie ehrlich gemeint sein mag – dazu, dass sie eine Haltung einnehmen, die schlussendlich nur der Bourgeoisie von Nutzen sind.
Die Verlogenheit der internationalen Bourgeoisie
Das Sondervollmachtsgesetz ist entgegen aller verzweifelten Behauptungen weder neu, noch eine große Überraschung, die Chávez aus dem Nichts hervor zauberte. Sondervollmachtsgesetze sind in Venezuela eine gängige Maßnahme, die schon oft von vorangegangen Regierungen angewandt wurden. Die Chávez-Regierung hatte die gleiche Methode benutzt, um im Jahr 2001 insgesamt 49 Gesetze durchzubringen, was dazu führte, dass die Oligarchie wutentbrannt zu den Waffen griff und den – später gescheiterten – Staatsputsch im April 2002 vorbereitete.
Eine Frage vorweg: Warum hat die internationale Qualitätspresse die früheren Präsidenten Venezuelas nicht kritisiert, als sie ähnliche Vollmachten erhielten? Wo waren beispielsweise die KritikerInnen, als Jaime Lusinchi (Venezolanischer Präsident 1983-1988) ein ähnliches Sondervollmachtsgesetz 1984 im Parlament absegnen ließ? Oder wo waren die Proteste als die Regierung von Carlos Andrés Peréz während des Caracazo-Aufstands 1989 das Militär entsandte und dabei tausende unschuldige VenezolanerInnen ihr Leben ließen?
Es sei hier nochmals klar gestellt: Weder die Bourgeoisie, noch die Presse sind an Demokratie interessiert. Ihre eigene Version von Demokratie wird gerade im Irak verwirklicht, wo sie das gesamte Land in Not und Elend gestürzt haben und die Folter von Gefangenen Alltag ist. Ein wirklich eindrückliches Beispiel ihrer Verlogenheit. Sie haben nicht die geringste Berechtigung, sich in die Diskussion über Demokratie in Venezuela einzumischen. Ihre Interessen sind nur zu durchsichtig: Es geht ihnen ausschließlich darum, Skepsis und Feindseeligkeit gegen die fortschrittliche Natur der Bolivarischen Regierung zu schüren. Und die wichtigste Frage der ganzen Debatte – die Verstaatlichungen – scheuen sie wie der Teufel das Weihwasser.
Ein Klassenstandpunkt
Es ist notwendig, das Sondervollmachtsgesetz im gesamten Kontext und vom Klassenstandpunkt aus zu betrachten. Wie Chávez bereits erwähnte, ist das wichtigste Ziel des Gesetzes, mehr Enteignungen und Verstaatlichungen verschiedener Unternehmen durchzuführen – vor allem solcher Unternehmen, die von früheren Regierungen privatisiert wurden.
Wir müssen uns die Frage stellen, ob dies den ausgebeuteten Massen Venezuelas helfen würde. Wäre das ein Schritt vorwärts für die Revolution? Würde es die Revolution in Richtung Sozialismus beschleunigen? Für echte RevolutionärInnen kann die Antwort auf diese Fragen nur lauten: Wir stehen voll hinter den radikalen Maßnahmen gegen den Kapitalismus, wie sie von Chávez angekündigt wurden.
Eine Klassenanalyse der Bedeutung des Gesetzes muss auch die Diskussionen, die innerhalb der venezolanischen Massen geführt werden, berücksichtigen. Wie reagieren die ArbeiterInnen und Jugendlichen auf das neue Gesetz?
Ganz im Gegenteil zur hysterischen Kritik in der internationalen bürgerlichen Presse, heißen die venezolanischen Massen das neue Gesetz enthusiastisch willkommen. Für sie dreht sich die entscheidende Frage darum, wie ihre miserablen Lebensbedingungen verändert und sie selbst Herr über ihr Schicksal und die Gesellschaft werden können. Das Gesetz empfinden sie als eine Beschleunigung des revolutionären Prozesses und eine Schwächung der Bürokratie im alten Staatsapparat.
Michael A. Lebowitz hat das vor kurzem in einem Artikel im Monthly Review Press sehr treffend beschrieben:
„Gestern habe ich mit zwei Freunden zu Abend gegessen. Sie hatten sich den ganzen Tag mit Leuten unterhalten, die in Kommunalräten in zwei Vierteln (eines davon sehr arm) von Caracas aktiv sind. Und sie haben mir erzählt, wie frustriert und verärgert viele Aktivisten über die lokalen und Ministerialbeamten sind, die sich gegen die Veränderungen stellen. Die Aktivisten verstehen die Ungeduld Chávez’, dem sie vertrauen, sehr gut. Wir diskutierten dann das Sondervollmachtsgesetz. Sie sagten, die Leute wären darüber überhaupt nicht besorgt – sie erkennen die Notwendigkeit, den Prozess zu beschleunigen. Ich fragte, ob die Leute auf eine rasche Lösung drängten. Sie stimmten zu meiner Überraschung zu und einer meinte, sie seien weniger interessiert an einer Demokratie als ein Prozess, sondern viel mehr an Demokratie in der Praxis.“
Revolutionäre Demokratie
Chávez gewann die Präsidentschaftswahlen im Dezember mit 63 Prozent der Stimmen. Vor der Wahl sprach er ganz offen darüber, dass wenn er gewinne, er seine nächste Amtszeit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Venezuela widmen würde. Genau dieses Versprechen löst er nun ein und dafür ist es notwendig das Tempo zu erhöhen, was nur mit der notwendigen Entscheidungsbefugnis möglich ist. Dies müsste eigentlich genügen, um das Sondervollmachtsgesetz zu rechtfertigen bzw. macht es Sinn zu argumentieren, dass das venezolanische Volk sich absolut bewusst war, wofür es am 3. Dezember abgestimmt hat.
Für einige linke Gruppierungen reicht dies dennoch nicht aus. Sie pochen auf ihre „demokratischen“ Einstellungen und wollen so als ehrbare und anständige DemokratInnen gelten. In Wirklichkeit reihen sie sich ein in den Chor der SkeptikerInnen und GegnerInnen der Bolivarischen Revolution. Sie greifen das Sondervollmachtsgesetz als einen „Schritt Richtung undemokratischer Herrschaft“ an. Einige Gruppierungen fordern mittlerweile sogar ein „souveränes Parlament“ und stellen dies als fortschrittliche Forderung oder gar als „sozialistische“ Forderung in der gegenwärtigen Situation dar.
Das ist die völlig falsche Losung. Erstens, es würde nichts Fundamentales ändern, weil die chavistischen Parteien über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügen, da die Opposition die Parlamentswahlen im Dezember 2005 boykottiert hatten. Es würde den Prozess nur verlangsamen. Zweitens, diese Parole lenkt die Aufmerksamkeit weg von der revolutionären Bewegung hin zum Parlament. Die Frage muss also lauten: Wer sollte die entscheidende Kraft in der Transformation der venezolanischen Gesellschaft sein? Wer die Losung eines „souveränen Parlaments“ erhebt, fordert, dass die Macht in die Hände der 167 Abgeordneten – denen die Massen größtenteils großes Misstrauen entgegen bringen – gelegt werden soll und die somit den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft übernehmen sollen.
Revolutionäre MarxistInnen beantworten diese Fragen folgendermaßen: Wir fordern nicht ein „souveränes Parlament“. Wir stehen eine souveräne revolutionäre Bewegung. Das heißt: Wir kämpfen für die Stärkung der revolutionären Demokratie von unten – getragen von den kommunalen Räten in den armen Wohnvierteln, den misiones (Sozialprogramm-Gruppen), den Massenorganisationen der revolutionären Studierenden und – am allerwichtigsten – der Bewegung der besetzen Betriebe. Wir stehen außerdem für eine Stärkung der ArbeiterInnenkontrolle in Staatsbetrieben und eine Stärkung der revolutionären Gewerkschaft UNT. Alle diese Organe sind Embryos echter revolutionärer Demokratie, die koordiniert und von unten kontrolliert werden müssen. Das Recht auf ständige Abwahl aller VertreterInnen muss bestehen, ArbeiterführerInnen sollen nicht mehr als einen Facharbeiterlohn erhalten, etc. Das gleiche gilt für die neue Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV). Sie soll als Mittel zur Herrschaft des Volkes aufgebaut werden. Nur auf diesem Weg kann eine echte revolutionäre Demokratie geschaffen werden. Die verlogenen Rufe der Bourgeoisie nach „Demokratie“ müssen von allen RevolutionärInnen zurück gewiesen werden. Unsere Vorstellung von Demokratie war immer eine andere und wird immer eine andere bleiben. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Attacken gegen Chávez zu unterstützen, sondern die venezolanische Revolution zu unterstützen und gleichzeitig unsere eigene Perspektive und unsere eigenen Losungen für die Bewegung vorzubringen.