18 Millionen Arbeitslose gibt es zur Zeit in Europa – Tendenz steigend. Dabei handelt es sich um eine strukturelle Arbeitslosigkeit, deren Opfer oft keine Aussicht mehr auf Wiedereinstieg in diesen „Kreis der Privilegierten“ der Arbeitenden haben. In vielen Regionen ist dieser Kreis schon so bedrückend eng, dass die Arbeitslosenrate weit über die 25%-Marke steigt.
Als ob es all diese Tatsachen nicht gäbe, suchen die Regierungen der EU – seien sie nun sozialdemokratisch oder bürgerlich – ihr Glück in Konvergenzkriterien, die zwar einen ergebenen Gruß an die Wirtschaft richten, das Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit aber geradezu verdrängen und zugleich eine Sanierung der Budgets verordnen, die in letzter Konsequenz durch den Abbau des Sozialstaates die Arbeitslosen noch mehr an den Rand der Gesellschaft drangt. All jene, die immer noch Ansichten nach dem Muster „Arbeitslose machen Ferien und werden dafür von der Gemeinschaft bezahlt – die wollen ja gar nicht arbeiten“ etwas abgewinnen können, seien jetzt auf eine Zeitreise zurück in die 30er Jahre nach Marienthal eingeladen: Marienthal, das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Wien, ein Dorf, dessen Geschichte zugleich die Geschichte einer Fabrik ist. Im Jahr 1830 eröffnete ein gewisser H. Todesko dort eine Textilfabrik und gründetet somit Marienthal. In den nächsten 90 Jahren wurde die Fabrik immer größer, Arbeiter aus allen Teilen der damaligen Donaumonarchie kamen in das Dorf, und je größer der Betrieb wurde, desto schärfer wurden die Klassengegensätze, desto organisierter wurden die Arbeiter. Oft beteiligten sie sich an lokalen und nationalen Streiks Ende der 20er Jahre – die Sozialdemokratie hatte im Dorf schon längst eine satte Mehrheit von 80 % – konnte Marienthal ein Stelldichein von Vorfeldorganisationen der Arbeiterbewegung aufweisen: Neben Partei, Gewerkschaft und Konsumverein gab es ein Arbeitertheater, die „Kinderfreunde“, die „Freidenker“, die „Flamme“ (Bestattungsverein), Radfahrverein, Arbeiterradioverein, Ringerverein, Sozialistische Jugend, Republikanischer Schutzbund, die Arbeiterbibliothek und zu guter letzt noch den Hasenzüchterverein! Ende 1929 kam jedoch der Einschnitt:
Die Fabrik – Pulsader des gesamten Dorfes – wurde geschlossen. Was danach kam, die Folgen und Auswirkungen der totalen Arbeitslosigkeit, das wollte eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern unter der Leitung von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld zum ersten Mal untersuchen. Sie kamen zu Ergebnissen, die auch heute noch viel über den Charakter der Arbeitslosigkeit aussagen. (Natürlich muß hinzugefügt werden, dass Marienthal nicht ganz Europa und 1930 nicht 1996 ist, dass aber die Ursache – die Entwicklungen des Kapitalismus – und die grundsätzlichen Auswirkungen damals wie heute die selben sind.)
Die Mitarbeiter der Marienthal – Studie hielten sich für ihre Untersuchungen insgesamt 120 Tage im Dorf auf. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 77 % der 478 Familien völlig abhängig von der Arbeitslosenunterstützung (diese betrug damals durchschnittlich nur ein Viertel des Gehaltes, wurde maximal 30 Wochen ausbezahlt und bei Bekanntwerden der geringsten einmaligen Gelegenheitsarbeit ersatzlos gestrichen – für „Sozialschmarotzer“ also damals „keine Chance“!) Was das ökonomische bedeutete, läßt sich heute leicht ersehen: Die bei 41 Familien erstellten „Essensverzeichnisse“ zeigen, dass bei 45 % der Abendessen nur „Kaffee und Brot“ auf dem Tisch stand; nochmals 40 % der Abendessen waren Aufgewärmtes vom Mittag. Von den 49 Schilling (die Unterstützung wurde alle 14 Tage ausbezahlt), die eine Familie in dieser Zeit ausgab, waren nur 2 Schilling nicht für Lebensmittel oder Kohle! Auch die Buchhaltung des Konsumvereins gab Aufschluß: Der Mehlkonsum stieg mit der Arbeitslosigkeit drastisch (Mehl als billige Hauptzutat für viele „Armenspeisen“), die Leute stiegen von Zucker auf Saccharin, von Butter auf Margarine um, und der Schokoladenkonsum ging naturgemäß um 57 % zurück. Besonders bezeichnend ist, dass seit Eintreten der Arbeitslosigkeit viele Katzen und Hunde verschwanden – sie wurden gegessen! Klar erkennbar bei alldem ist, dass viele Arbeitslose bei groschengenauer Kalkulation und vor allem bei Verzicht auf ihre primitivsten sozialen und kulturellen Bedürfnisse versuchten, Ernährung und Haushalt halbwegs aufrechtzuerhalten.
Gleichgültigkeit
Dieses Phänomen nannten die Autoren „Schrumpfung des psychologischen Lebensraums“: Marienthal war vor der Arbeitslosigkeit ein lebhaftes, politisch aktives Dorf – doch der Mittelpunkt dieses sehr vitalen sozialen Lebens war die Fabrik. Einige Beispiele: Die Marienthaler Arbeiter hatten sich einen großen, gut gepflegten Park angelegt. Mit der Arbeitslosigkeit verwilderte er aber völlig, niemand kümmerte sich darum, obwohl alle viel Zeit für seine Pflege gehabt hätten. Dasselbe in der Bibliothek: Die Entlehnungen (obwohl gratis!) sanken um 49 %! Auch die Arbeiterzeitung mußte einen Schwund der Abonnenten um 60 % hinnehmen. Ein vorher sehr aktiver Funktionär der SPÖ meinte: „Früher habe ich die Arbeiterzeitung auswendig können, jetzt schau ich sie nur ein biss’l an und werf sie dann weg, trotzdem ich viel mehr Zeit hab.“ All das kann man auch bei den Vereinen und politischen Parteien beobachten. Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach sozialer Gemeinschaft, Kommunikation und kultureller Betätigung – eine Binsenweisheit wäre es allerdings zu sagen, Arbeitslose hätten das Vergnügen diesen Bedürfnissen den ganzen Tag nachkommen zu können. Das Gegenteil ist der Fall: Ihre Ansprüche reduzieren sich, sie ziehen sich von der Gemeinschaft zurück, da diese sich um die tägliche Arbeit in der Fabrik herum gebildet hatte. Sie können gerade noch die Energie für die Aufrechterhaltung des Haushalts aufbringen, mehr ist nicht drin – „Jetzt hab ich gar keine Lust mehr auszugehen.“, meinte eine Arbeitslose.
Resignation
Die Studie versuchte auch die „Haltung“ der Marienthaler zu beschreiben. Dafür wurden 100 Familien genau interviewt. 69% dieser Arbeitslosenfamilien konnte man als „resigniert“ bezeichnen; das heißt, dass zwar Haushalt und Kinder sehr gepflegt erschienen, alle anderen Bedürfnisse aber auf Null reduziert waren und v. a. keine Pläne, keine Beziehung mehr zur Zukunft bestanden, dass das Leben gleichmütig dahinfloss. Es war auch ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosenunterstützung und der Haltung ersichtlich: Zwischen der Kategorie „ungebrochen“ (optimistisch, Pläne für die Zukunft) und „apathisch“ (verwahrlost, teilnahmslos) lagen damals gerade mal 15 Schilling !!
Kein Zeitgefühl
Ganz besonders augenscheinlich wird die Beziehungslosigkeit zu Gegenwart und Zukunft bei der Zeit. Den Arbeitslosen von Marienthal ging die Zeit verloren! Aus ihrem Rhythmus gerissen, hatten sie keine Verwendung mehr für die Zeit. So wurde z. B. die Gehgeschwindigkeit der Passanten gemessen: Über die Hälfte der Männer bewegte sich nur mit 3 km / h (die normale Gehgeschwindigkeit liegt bei über 5 km / h). Nur 12 von 100 Männern trugen eine Uhr bei sich. Man ließ die Arbeitslosen auch „Zeitverwendungsbogen“ ausfüllen. Typischen Eintragungen gehören: „17- 18: Vom Park nach Hause gegangen“ – „16 – 17: Um die Milch gegangen“
Vom Park, der 300 m vom Haus entfernt war, brauchte der Arbeitslose eine geschlagene Stunde!! Auch das Milchholen war für ihn früher eine Sache von 5 Minuten. So leiden die Arbeitslosen unter dem Nichtstun, unter dem völligen Mangel einer sinnvollen Zeitausfüllung und verlieren vollkommen jegliche Zeitstruktur. Das gilt aber nicht für die Frauen. Sie wurden zwar verdienst- aber nicht arbeitslos: Ihr Tagesablauf stand noch in einem festen Zusammenhang mit dem Haushalt und war voll von Arbeit. Oft beklagten sie in den Interviews deshalb die mangelnde Mithilfe ihrer Ehemänner. Obwohl sie früher die Doppelbelastung Haushalt – Fabrik zu tragen hatten, wünschten sich dennoch die meisten wieder zurück in den Betrieb: „Wenn ich wieder in die Fabrik zurück könnte, wäre das mein schönster Tag.“ Arbeitslosigkeit stellt nicht nur ein rein mathematisches Problem für die Volkswirtschaft dar (weniger Kaufkraft und höhere Belastung des Staatshaushaltes), sondern hat auch verheerende psychologische Auswirkungen auf den einzelnen und läßt gewachsene soziale Beziehungen verkümmern, da keinerlei Anteil mehr an den Dingen genommen wird, die über das Notwendigste hinausgehen.
Arbeit scheint also eine zentrale Achse im Leben des Menschen zu sein, um die herum sich alle anderen Aktivitäten gesellen. Fällt diese Achse aus, dreht sich auch keines der „Räder“ mehr. So läßt sich das von Sozialisten immer geforderte Recht auf Arbeit verstehen: Es hat nichts mit Arbeitszwang zu tun, sondern mit dem Anrecht auf eine ebensolche stabile Achse. Auch Engels versuchte in seinem Werk „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ herauszustreichen, welche dynamische Kraft der Faktor Arbeit bei der geistigen, kulturellen und sozialen Entwicklung des Menschen einnahm. Auf der anderen Seite stellte Marx klar, dass es keinen Kapitalismus ohne Arbeitslose geben kann. Im Kapitalismus wird auch die Arbeit zu Ware, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird. Ein Teil dieses Marktes wird immer von einer „industriellen Reservearmee“ abgedeckt, ein stehendes Heer von Arbeitslosen, über die kurzfristig für anfallende „Verwertungsbedürfnisse“ frei verfügt werden kann. Dabei wird diese Reservearmee mit der Weiterentwicklung der Wirtschaft immer größer – das heißt, dass es trotz Wirtschaftswachstum zu keiner Verringerung der Arbeitslosigkeit kommt. Man kann das ganz deutlich auch in Europa beobachten: Während in den letzten 10 Jahren die Wirtschaft um eine zweistellige Zahl wuchs, blieb das Beschäftigungswachstum mit wenigen Prozentpunkten weit abgeschlagen. Die Marienthal-Studie zeigt, dass Arbeitslosigkeit einen so hohen gesellschaftlichen Schaden anrichtet, dass man kaum umhin kann, Perspektiven eines sozialistischen Systems offensiv zu vertreten, das die Arbeit so verteilt, dass niemand mehr zum Nichtstun verurteilt wird. Das gilt vor allem für die Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren in einem defensiven Rückzugsgefecht gegen den Arbeitsplatzabbau sahen. Mit einem offensiven politischen Programm, getragen von der Basis, und mit der Forderung nach konsequenter Durchsetzung der 35-Stunden-Woche als ersten Schritt zur 30-Stunden-Woche müssen die Gewerkschaften ihre „Konvergenzkriterien“ auf die politische Tagesordnung setzen.