Leserbrief: Pflege zwischen Ideal und Kapitalismus
Ich studiere seit September Gesundheits- und Krankenpflege an der HCW. Natürlich wusste ich davor schon, dass die Pflege unter massivem Druck steht. Trotzdem bin ich verblüfft, wie offen sich die Brutalität des Kapitalismus hier darstellt. Von Sandro Tsipuras, RKP-Studierender.
Wenn uns erklärt wird, wie etwas in der Pflege gemacht werden soll, wird uns oft im gleichen Atemzug erklärt, dass es nicht so gemacht werden kann. Zum Beispiel lesen wir auf einem Slide, dass Blumen auf dem Tisch das Wohlbefinden der Patienten beim Essen erhöhen. Aber: „Für Blumen gibt es kein Budget.“ Blumen sind abwegig.
Dass Patienten im Pflegeheim ihr Frühstück parallel zu ihrem morgendlichen Stuhlgang erledigen müssen, scheint hingegen durchaus üblich zu sein. „Bitte tun Sie das nicht!“ Niemand will so etwas tun. Die Klasse ist schockiert. Wie wir vermeiden können, dass es durch Überlastung dazu kommt, erfahren wir aber nicht.
Man hat uns beigebracht, dass „Gesundheit“ nichts mit Wohlbefinden zu tun hat. Sie sei vielmehr „dasjenige Maß an Krankheit, das es einem noch erlaubt, seinen gewöhnlichen Beschäftigungen“ – also der Lohnarbeit – nachzugehen. Dass die WHO Gesundheit als völliges Wohlbefinden definiert und dann noch zu einem Recht aller Menschen erklärt, sei naiv und utopisch, weil unbezahlbar.
Dass es den Menschen gut geht, ist einfach zuviel verlangt. Auch im Krankenhaus, haben wir gelernt, sollen sie zwar gesund, aber nicht glücklich werden. Besser sei es deshalb, wenn das Essen nicht allzu gut ist. Dann wollen sie schneller wieder gehen.
Immer wieder wird uns klar gemacht, dass wir als Pfleger immer überlastet sein werden. Es gibt zu wenig Personal, zu wenig Platz, zu wenige Betten, enorme Verantwortung, Druck zu Tätigkeiten, für die man nicht qualifiziert ist.
Wir haben im Unterricht ein ethisches Dilemma diskutiert: Darf man Medikamente stehlen, um Leben zu retten? Soll man dafür bestraft werden?
Die Hälfte der Klasse war wie ich der Meinung: Ein Ehemann hat das moralische Recht, vielleicht auch die Pflicht, ein unverschämt teures Medikament für seine Frau zu stehlen, wenn es um ihr Leben geht. Ein Richter, der sich ans Gesetz hält und ihn dafür bestraft, handelt unmoralisch.
Was lernen wir daraus? Die Welt ist eben nicht so, wie wir sie gern hätten, und die Pflege schon gar nicht. Damit ist die Stunde vorbei.
In früheren Jobs oder Ausbildungen fand ich es oft schwierig, meinen Kollegen zu erklären, warum ich Kommunist bin. In der Pflege habe ich dieses Problem nicht.