
Wieder eine Regierung gestürzt. Nach Sri Lanka (2022) und Bangladesch (2024) erreichte nun in Nepal eine massenhafte Jugendbewegung innerhalb von weniger als 24 Stunden den Fall der Regierung. Von Willy Hämmerle
Ausgangspunkt war eine Demonstration am 8. September, die sich gegen die Korruption der Herrschenden und die Sperre von zahlreichen Social-Media Plattformen richtete. Zehntausende gingen auf die Straßen und zogen zum Parlament. Als der Zug sich dem Parlamentsgebäude näherte, reagierten die Behörden mit Tränengas, Wasserwerfern und eröffneten das Feuer mit scharfer Munition. Am Ende des Tages wurden 19 Menschen getötet und hunderte verletzt. Die Repression heizte die Bewegung weiter an, die Demonstration weitete sich aus und verwandelte sich in einen nationalen Aufstand.
Der nächste Tag war die Abrechnung der Jugend mit einem Regime, das ihr nichts zu bieten hatte. Sie marschierte zum Parlament und steckte es in Brand, danach die Büros der Regierungsparteien und die Anwesen der verhasstesten Politiker. Gefängnisse und Polizeistationen wurden gestürmt und die Gefangenen freigelassen. Noch am selben Tag trat Premierminister Oli zurück. Der Flughafen wurde von der Armee besetzt, um den Demonstrierenden zuvorzukommen, die verhindern wollten, dass er das Land verlässt. Die Bewegung organisierte sich spontan und chaotisch über Discord und Instagram – eine andere Macht gab es an diesem Tag nicht. Die Macht lag auf der Straße. Das ist die Kraft der Massen, wenn sie sich erst einmal in Bewegung setzen.
Von den jüngsten dieser „Gen Z Revolutionen“ liefert Nepal nicht nur die besten Videos, sondern wird auch am heißesten im Internet diskutiert. Auf YouTube, Twitch und in den Kommentaren wird jetzt darüber gestritten, ob es sich um eine genuine revolutionäre Bewegung oder um eine vom Westen losgetretene „Farbrevolution“ handelt. Immerhin richtet sich der Wutausbruch gegen ein Regime, das eine Annäherung an China sucht und in dem gleich mehrere „Kommunistische“ Parteien seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielen. Gerade die Unfähigkeit dieser Parteien, die Probleme der Massen zu lösen, ist es aber, was die Jugend auf den Weg der Revolution führt.
Die Rolle der Stalinisten
In Nepal gibt es zwei große Kommunistische Parteien: Die CPN-UML („Vereinigte Marxisten-Leninisten“) und die CPN-MC („Maoistisches Zentrum“). Beide stammen aus der Tradition des Stalinismus bzw. Maoismus und waren an der Massenbewegung in den Jahren 2006-2008 beteiligt, die die bis dahin herrschende Monarchie zu Fall gebracht hat. Seitdem gab es 14 Regierungen. In zehn davon stellte eine der beiden Parteien den Premierminister und in jeder einzelnen davon war eine (oder beide) der Kommunistischen Parteien Teil der Regierungskoalition.
2008 und 2017 erreichten sie dabei sogar gemeinsam die absolute Mehrheit bei den Wahlen: Die Massen legten nach dem Sturz der Monarchie ihr Vertrauen in die Hände der Stalinisten und erhofften sich weitreichende Verbesserungen. Zur Einordnung: Nepal ist das ärmste Land in Südasien. Die Mehrheit seiner Bevölkerung lebt und arbeitet auf dem Land unter erbärmlichen Bedingungen. Seine Wirtschaft ist schwach und rückständig, dominiert vom Imperialismus und völlig abhängig von der Regionalmacht Indien. Als einzige Oppositionskraft zur Monarchie konnten die Maoisten Massenunterstützung gewinnen.
Anstatt auf Basis dieser Mehrheiten mit dem Kapitalismus zu brechen und sozialistische Politik zu machen, suchten die Stalinisten das Bündnis mit den bürgerlichen Kräften der Kongresspartei und verwalten seitdem den maroden Kapitalismus in Nepal. Abwechselnd koalierten CPN-UML, CPN-MC und die Kongresspartei miteinander, setzten sich im Staatsapparat fest, förderten ihr Klientel und bildeten das korrupte politische Establishment heraus, das heute so verhasst ist. Politische Prinzipien spielen dabei schon lange keine Rolle mehr. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die CPN-MC sich zuletzt in einer Koalition mit monarchistischen und hindu-nationalistischen Kräften befand.
Das Scheitern der Etappentheorie
Grundlage dieser verräterischen Politik ist die stalinistische „Etappentheorie“. Diese besagt, dass ein Land zuerst eine „demokratische“ Etappe der kapitalistischen Entwicklung durchmachen muss, bevor überhaupt an sozialistische Aufgaben gedacht werden kann. Aus dieser Theorie fließt, dass der Arbeiterklasse keine unabhängige Rolle zufällt, sondern ein Bündnis mit dem „progressiven“ Flügel der Bourgeoisie eingehen sollte. „Bitte beachten Sie“, erklärte der Chefideologe der CPN-MC und spätere Premierminister Baburam Bhattarai in einem Interview 2001, „dass wir nicht für eine ‚kommunistische Republik‘, sondern für eine bürgerlich-demokratische Republik kämpfen.“
Das Problem ist, dass es einen solchen „progressiven“ Flügel der Bourgeoisie nicht gibt, erst recht nicht in den Ländern, die vom Imperialismus dominiert werden. Die Kapitalisten dieser Länder sind völlig vom Imperialismus und ausländischen Kapital abhängig und können nur eine völlig parasitäre Rolle spielen.
Dieses selbstauferlegte Bündnis mit den „progressiven Bürgerlichen“ sorgte dafür, dass die Maoisten den Klassenkampf zugunsten immer absurderer parlamentarischer Manöver beiseitelegten und das in sie gesetzte Vertrauen verloren. Mehr noch: Selbst die zum Ziel „für die nächste Etappe“ erklärten bürgerlich-demokratischen Aufgaben wurden nicht gelöst. Am Land hat noch immer der Großgrundbesitz das Sagen. Die Reste der Leibeigenschaft wurden 2008 formell aufgehoben – aber die Bauern sind noch immer durch Wucherkredite und Schuldknechtschaft an ihre alten Herren gebunden. Das Kastensystem und die Einschränkung der nationalen Minderheitenrechte wurden in der Verfassung von 2015 formell beendet – aber die Bürgerlichen stützen sich weiterhin auf nationale und religiöse Unterdrückung, um die Bevölkerung zu spalten. Weiterhin wird das Land von den Knebelverträgen der indischen Konzerne eingezwängt.
Vor allem aber wurde die Situation der Massen, insbesondere der Jugend, nicht besser, sondern schlechter. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei ca. 1200 Euro. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute bei über 20 %. Sie wäre noch viel höher, wenn nicht Jahr für Jahr Hunderttausende ins Ausland gehen würden, um zu arbeiten, vor allem nach Indien und in die Golfmonarchien. Allein im letzten Jahr wurden über 800.000 Ausreiseanträge gestellt. Das Geld, das diese Arbeiter zurück nach Hause schicken, macht mittlerweile über ein Drittel des gesamten BIP aus – mehr als die lokale Industrie erwirtschaftet.
Die ganze Erfahrung der letzten 17 Jahre zeigt, dass die Etappentheorie eine reine Sackgasse ist. Kein einziges Problem der Massen konnte durch die „Volksfront“, die Unterordnung unter die Kapitalisten, gelöst werden. Kein Wunder also, dass sich die Wut der Massen auch gegen die sogenannten Kommunisten richtet.
Die verhasste Korruption endlich beenden, die imperialistische Beherrschung abschütteln und die feudalen Reste beseitigen: Die nepalesische Bourgeoisie ist unfähig, das zu leisten. Die verrotteten Kapitalisten sind Schoßhündchen des Imperialismus und jeder einzelne korrupt bis in die Knochen. Die einzige gesellschaftliche Kraft, die diese historischen Aufgaben erfüllen kann, ist die internationale Arbeiterklasse. Aber sie wird dabei nicht stehenbleiben, sondern durch ihren Kampf um soziale Verbesserungen, um höhere Löhne, Gesundheitsversorgung und Bildung, gezwungen sein, weiterzugehen und sozialistische Maßnahmen, wie die Enteignung der Banken und Konzerne und die Planung der Produktion, zu ergreifen. Der zweite Aspekt ist der Internationalismus. Eine erfolgreiche Revolution, noch viel mehr in einem rückständigen Land, kann bei Strafe des eigenen Untergangs nicht isoliert bleiben. Sie appelliert bewusst an die internationale Solidarität und die Ausweitung der Revolution auf entwickeltere Länder – und würde in der ganzen Region ein Echo finden. Nichts anderes besagt die Theorie der permanenten Revolution und die russische Revolution 1917 ist ihr lebendiger Beweis.
Perspektive der Bewegung
Die massenhafte Wut ist der Grund, warum es sich in Nepal nicht um eine „von außen“ gesteuerte Farbrevolution handelt. Die Verantwortung für die unklare politische Perspektive der Bewegung liegt vollständig bei den sogenannten kommunistischen Parteien, die lieber gemeinsam mit den Bürgerlichen die Parlamentssessel wärmen, als den Kapitalismus zu bekämpfen. Das eröffnet erst den Raum dafür, dass reaktionäre Kräfte versuchen können, die Bewegung für sich zu nutzen. Schon jetzt werben die Monarchisten für eine Rückkehr der „guten alten Zeit“. In Bangladesch haben wir gesehen, was passieren kann, wenn die Bewegung auf halbem Weg stehen bleibt. Dort wurde die Führung der Studenten eingekauft, schloss ein Abkommen mit den Generälen und akzeptierte eine Übergangsregierung unter der Führung eines Bankers, in der sie einige symbolische Posten erhält.
In Nepal wurde auf Discord eine Übergangspräsidentin „gewählt“, die jetzt das Land bis zu Neuwahlen im kommenden März führen soll. In der Bewegung ist zeitweise Ruhe eingekehrt, und es wird diskutiert wie es weiter gehen soll. Eine Perspektive ist, dass der populäre Bürgermeister von Kathmandu, ein Rapper und Unternehmer, das Ruder übernehmen soll. Er wurde 2022 gewählt, weil er sich als unabhängig von allen bestehenden Parteien präsentierte.
Wir dürfen aber nicht nur die Gefahren sehen, sondern vor allem das große Potenzial. Revolutionen sind keine Einakter, und das ist nicht das Ende der Geschichte. In Sri Lanka, Nepal und Bangladesch wurden die alten Regimes gestürzt. Die Massen errangen erste Siege, die überwältigend waren. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass der Sieg eher scheinbar als substanziell war. Der Kopf ist ab, aber der alte Staat, die alte herrschende Klasse, ist noch immer an der Macht. Kein Problem ist gelöst, und weitere Aufstände stehen an der Tagesordnung, bis der bürgerliche Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der Arbeiterklasse ersetzt wurde. Der erste Schritt dazu ist der Aufbau von demokratischen Komitees in allen Städten und Orten, um die Revolution zu verbreitern und zu vertiefen.
In einem Land nach dem anderen lernen die Massen, dass niemand sie aufhalten kann, wenn sie gemeinsam kämpfen. Sie müssen aber auch lernen, dass sie nur ihrer eigenen Kraft vertrauen können. Ohne bewusste Perspektive der Überwindung des Kapitalismus ist die Gefahr der Niederlage und des „weiter so wie bisher“ groß. „Das revolutionäre Potenzial ist immens. Doch in Abwesenheit eines subjektiven Faktors ist auch das Potenzial der Niederlage immens“, schrieb Ted Grant 1998 über die indonesische Revolution.
Dieser subjektive Faktor ist die revolutionäre Partei. Sie kann die enorme Energie der Massen nutzbar machen, um tatsächlich die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Sie kann den langwierigen und blutigen Lernprozess abkürzen und der Arbeiterklasse helfen, die Macht zu übernehmen.
Wir wissen nicht, wo und wann die nächste revolutionäre Explosion stattfinden wird. Aber dieselben Bedingungen wie in Nepal finden wir weltweit. Revolutionen sind nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidbar. Ob sie erfolgreich sein werden, hängt davon ab, ob rechtzeitig revolutionäre Parteien aufgebaut werden, die sie zum Sieg führen können. Der internationale Charakter der Revolution ist ganz und gar angelegt: eine erfolgreiche Revolution in einem einzigen Land Südostasiens würde ein Regime nach dem anderen zu Fall bringen.