Die nationale Frage und der Balkan

Der vorliegende Text ist ein Ausschnitt aus Marxism and the National Question von Alan Woods und Ted Grant, in dem die Autoren die marxistische Position zur nationalen Frage auf dem Balkan darlegen.
Das entsetzlichste Beispiel für die Folgen einer falschen Position zur nationalen Frage ist das Schicksal des ehemaligen Jugoslawiens. Der blutige Morast aus Kriegen, chauvinistischem Wahnsinn und „ethnischen Säuberungen“ in einem ehemals fortschrittlichen und entwickelten europäischen Staat sollte denjenigen zu denken geben, die stets die Trommel für die sogenannte „Selbstbestimmung“ als universelles Allheilmittel rühren. Leider scheinen manche Menschen organisch unfähig zum Denken zu sein. In der Frage des Balkans hat die International Marxist Tendency (IMT) in den letzten zehn Jahren einen klaren Kopf bewahrt und eine feste leninistische Position in Bezug auf den Balkan eingenommen. Wir haben von Anfang an erklärt, dass der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens kein einziges Atom fortschrittlichen Inhalts enthielt. Im Gegensatz dazu unterstützte jede einzelne der Sekten entweder die Kroaten oder die Serben oder das arme kleine Bosnien, wie das arme kleine Belgien im Ersten Weltkrieg, oder lief mit Fahnen der UÇK [nationalistische, paramilitärische Gruppe im Kosovo, deren Ziel ein ethnisch reines Großalbanien ist] herum, jede einzelne von ihnen nahm eine reaktionäre Haltung ein.
Die westliche Propaganda – sei es in Bezug auf Afrika, Russland oder den Balkan – versucht, diese Kämpfe als Ursache des nationalen Charakters, der angeblichen Rückständigkeit, der Ethnien usw. darzustellen. Es wird behauptet, dass die Serben, Kroaten, Bosnier usw. nicht zusammenleben können, sich gegenseitig hassen und so weiter. Das ist eine Lüge. Während des Zweiten Weltkriegs gab es einen schrecklichen Konflikt zwischen Serben und Kroaten. Die Serben waren übrigens die Opfer, die von dem kroatischen faschistischen Ustascha-Regime, dessen Brutalität sogar die deutschen Nazis zum Protest veranlasste, brutal verfolgt wurden. Doch unter Tito wurde das nationale Problem in Jugoslawien weitgehend gelöst. Auf der Grundlage der verstaatlichten Planwirtschaft und der Entwicklung der Produktivkräfte sowie der durchaus geschickten Politik Titos, die jeder der Republiken Autonomie gewährte und so zu vermeiden versuchte, dass eine Nationalität mehr Macht als eine andere hatte, trat das Problem in den Hintergrund. Es kam zu einer Verschmelzung der Völker, die Spannungen zwischen Serben und Kroaten schwanden fast gänzlich. Voraussetzung dafür war ein jährliches Wirtschaftswachstum von 10 bis 11% und ein steigender Lebensstandard, denn wie Lenin erklärt, ist die nationale Frage im Wesentlichen eine Frage des Brotes.
Mit der Krise des Stalinismus, dem Aufkommen der Massenarbeitslosigkeit in Jugoslawien und der Inflation in den 1970er begannen die alten Gespenster wieder hervorzutreten. Wenn man sich nun die Geschichte der letzten 50 Jahre ansieht, muss man zu dem Schluss kommen, dass weder die Bourgeoisie noch die Stalinisten die nationale Frage lösen können. Tito hatte eine Zeit lang Erfolg, aber der Chauvinismus ist ein integraler Bestandteil des Stalinismus. Er ist die Achillesferse der stalinistischen Regime, wie in Äthiopien, wo das Regime von Mengistu gerade aufgrund der nationalen Frage zusammenbrach. Die Stalinisten können diese Frage nicht lösen.
Tito errichtete verschiedene Republiken, jede mit ihrer eigenen nationalen Bürokratie, die die nationale Frage als Mittel zur Stärkung ihrer eigenen Macht und Privilegien instrumentalisierte. Dies hat eine unvermeidbare Logik, die sich direkt aus der Theorie des Sozialismus in einem Land ergibt. Diese durch und durch antimarxistische und nationalistische Theorie hat beim Zerfall Jugoslawiens eine fatale Rolle gespielt. Die nationalistischen Strömungen der serbischen, kroatischen, slowenischen und anderen rivalisierenden Bürokratien machten sich diese „Theorie“ mit Begeisterung zu eigen – jeweils für ihre eigenen Republiken. Sie spielten bewusst mit den nationalen Unterschieden: Wenn es einen russischen „Sozialismus“, einen chinesischen „Sozialismus“ usw. geben kann, warum sollte es dann nicht auch in Slowenien, Kroatien und Mazedonien einen eigenen „Sozialismus“ geben? Mit der Wirtschaftskrise des bürokratischen Regimes in Jugoslawien wuchsen die Spannungen zwischen den Republiken. Jede regionale Clique strebte danach, die Position „ihrer“ Republik auf Kosten der anderen zu verbessern. Damit wurde der Keim für den Zerfall Jugoslawiens gelegt.
Besonders perfide war die Rolle der reaktionären und privilegierten Bürokratien in Kroatien und Slowenien. Obwohl ihre Industrie durch die Arbeit und die kollektiven Ressourcen von ganz Jugoslawien aufgebaut wurde, wollten sie alles für sich behalten. Aber das war nur ein Element in der Gleichung. Die Geschichte Jugoslawiens und des Balkans im Allgemeinen zeigt, dass alle nationalen Kämpfe um die so genannte Selbstbestimmung, die im 20. Jahrhundert stattfanden, die eine oder andere Großmacht involvierten. Der russische Zarismus, der deutsche Imperialismus, der britische und der französische Imperialismus – sie alle nutzten die Kämpfe der kleinen Nationen als Kleingeld für ihre Intrigen.
Welche Position vertraten die Marxisten zur Zeit der Balkankriege von 1912-1914? Obwohl der Kampf der Slawen auf dem Balkan für die nationale Befreiung vom Osmanischen Reich zumindest anfangs einen teilweise fortschrittlichen Inhalt hatte, sucht man in den Schriften von Lenin und Trotzki vergeblich nach einer Parteinahme für eines dieser Völker. Trotzki, der als Kriegsberichterstatter auf dem Balkan war, schrieb viele Artikel über die Balkankriege, in denen er das barbarische Verhalten aller kriegsführender Mächte anprangerte. Aber es gibt keinen Hinweis auf eine Unterstützung für eine dieser rivalisierenden nationalistischen Banden. Es handelte sich um reaktionäre Kriege, die auf allen Seiten räuberisch geführt wurden. Und wenn das schon damals der Fall war, was hätte Lenin dann zur heutigen Lage in Jugoslawien gesagt?
Die sektiererischen Gruppen, die sich als marxistisch bezeichnen, scheinen an einer Art nervösem Tick zu leiden. Sobald ein Krieg ausbricht, fangen sie sofort an zu schreien: „Wen unterstützt ihr?“ Als ob die Marxisten eine absolute Verpflichtung hätten, in Konflikten zwischen kriegführenden Cliquen die eine oder andere Seite zu unterstützen! Die Position des Marxismus zum Krieg wurde bereits von Lenin klar dargelegt. Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ob wir in einem Krieg die eine oder andere Seite unterstützen, hängt davon ab, ob der Krieg einen fortschrittlichen oder reaktionären Inhalt hat. Ein solches Urteil wird nicht durch allgemeine Proklamationen des „Selbstbestimmungsrechts“ bestimmt, sondern ausschließlich durch die allgemeinen Interessen des Proletariats und der Weltrevolution.
Die Position der Marxisten in den Balkankriegen von 1912-13 bestand nicht darin, sich auf die Seite der einen oder anderen Gruppe zu stellen, sondern für eine demokratische Balkanföderation zu kämpfen. Das war die Position von Lenin, Trotzki und dem großen Balkanmarxisten und Internationalisten Christian Rakovsky, der zu einem führenden Trotzkisten wurde und 1941 auf Stalins Befehl hin „gesäubert“ und erschossen wurde. Rakovsky hatte eine lange Geschichte als führende Persönlichkeit der sozialistischen Bewegung auf dem Balkan. Im Jahr 1903, demselben Jahr, in dem sich die russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Bolschewiki und Menschewiki spaltete, kam es in der bulgarischen Partei zu einer ähnlichen Spaltung zwischen der Strömung der „Engsozialisten“ und den „Weitsozialisten“. Der linke Flügel („tesnyaki“) wurde von dem altgedienten Marxisten Blagoew zusammen mit dem herausragenden Balkanmarxisten Christian Rakovsky angeführt. Nach der Oktoberrevolution setzte sich die Kommunistische Internationale für eine Sozialistische Balkanföderation ein. Diese Idee wurde von Christian Rakovsky schon vor 1917 entwickelt. Die Marxisten kämpften stets gegen die Zersplitterung des Balkans in eine Vielzahl von Kleinstaaten, die unweigerlich zum Spielball der einen oder anderen imperialistischen Macht wurden. Das heißt, sie kämpften gegen die Balkanisierung und für die Föderation. Vor dem Ersten Weltkrieg, als Trotzki als Korrespondent auf dem Balkan unterwegs war und die Situation aus nächster Nähe verfolgte, schrieb er:
„Nicht nationale Vielfalt, sondern staatliche Aufspaltung lastet wie ein Fluch auf ihr [der Balkanhalbinsel]. Zolllinien schneiden sie künstlich in Stücke. Die Umtriebe der kapitalistischen Mächte sind mit den blutigen Intrigen der Balkandynastien verflochten. Wenn diese Bedingungen erhalten bleiben, wird die Balkanhalbinsel weiterhin eine Büchse der Pandora sein.“ (Trotzki, Die neue Türkei, 1909)
Als Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina besetzte und Serbien vom Kriegsfieber und Rachedurst gepackt wurde, bewahrte die serbische Sozialdemokratie einen kühlen Kopf und stellte sich entschieden gegen die chauvinistische Hysterie. Auch die bulgarischen Sozialdemokraten stellten sich gegen ihre eigene Regierungsclique und die russische Einmischung auf dem Balkan. Im Januar 1910 fand in Belgrad ein Kongress der sozialistischen Parteien des Balkans statt, an dem Vertreter der sozialdemokratischen Parteien Serbiens, Rumäniens, Bulgariens, der Türkei und der jugoslawischen sozialdemokratischen Parteien Österreich-Ungarns sowie eine kleine Gruppe von Sozialdemokraten aus Montenegro teilnahmen. In seinem Programm legt der Kongress als Ziele der Balkan-Sozialdemokratie fest:
„Sich von Partikularismus und Beschränktheit befreien; Grenzen zerstören, welche Völker teilen, die zum Teil nach Sprache und Kultur übereinstimmen, zum Teil untereinander ökonomisch verbunden sind; schließlich die direkten und mittelbaren Formen der ausländischen Herrschaft stürzen, die dem Volk das Recht entziehen, selbst über sein Schicksal zu bestimmen.“ (Trotzki, Die bulgarische und serbische Sozialdemokratie, 1910)
Und weiter:
„Die Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung prallen auf der Halbinsel minütlich auf den engen Rahmen des Partikularismus, und eine Föderation wird eine Idee selbst regierender Kreise auf dem Balkan. Mehr noch: Die Zarenregierung, die keine Kraft hat, auf dem Balkan eine eigenständige Rolle zu spielen, versucht in der Rolle des Initiators und Patrons eines bulgarisch-serbisch-türkischen Bundes aufzutreten, dessen Spitze gegen Österreich-Ungarn gerichtet ist. Aber das sind nur verschwommene Pläne eines zeitweiligen Bundes von Balkandynastien und politischen Parteien, die nach ihrem Wesen selbst unfähig sind, Freiheit und Frieden auf dem Balkan zu garantieren. Mit dieser Idee hat das Programm des Proletariats nichts gemein. Es ist gegen die Balkandynastien und politischen Cliquen, gegen den Militarismus der Balkanstaaten ebenso wie gegen den europäischen Imperialismus gerichtet; gegen das offizielle Russland ebenso wie gegen das Habsburger Österreich-Ungarn. Dessen Methoden sind nicht diplomatische Kombinationen, sondern Klassenkampf, nicht Balkankrieg, sondern Balkanrevolution.“
Wie modern diese Worte sind! Und wie relevant für die gegenwärtige Krise auf dem Balkan!
Der Balkan wurde in Zwergstaaten aufgeteilt und von der Last des Militarismus erdrückt. In seinem Artikel Balkanfrage und Sozialdemokratie schrieb Trotzki:
„Der einzige Ausweg aus dem national-staatlichen Chaos und dem blutigen Wirrwarr des Balkanlebens ist die Vereinigung aller Völker der Halbinsel in einem wirtschaftlich-staatlichen Ganzen auf der Basis nationaler Autonomie der Bestandteile. Nur im Rahmen eines Balkaneinheitsstaat werden sich die Serben Makedoniens, des Sandschaks, des eigentlichen Serbiens und Montenegros in einer national-kulturellen Gemeinschaft verbinden können und zur gleichen Zeit alle Vorteile eines Gesamt-Balkanmarkts genießen können. Nur die vereinten Balkanvölker werden den unverschämten Ansprüchen des Zarismus und europäischen Imperialismus eine tatsächliche Abfuhr erteilen können.“
Und Trotzki fügt eine prophetische Warnung hinzu:
„Die staatliche Vereinigung der Balkanhalbinsel kann auf zweifache Weise vonstatten gehen: entweder von oben, vermittels der Ausdehnung eines kräftigeren Balkanstaats auf Rechnung der schwächsten – das ist der Weg von Vernichtungskriegen, der Bedrückung schwacher Nationen, der Weg der Festigung des Monarchismus und Militarismus; oder von unten, vermittels der Vereinigung der Völker selbst – das ist der Weg der Revolution, der Weg des Sturzes der Balkandynastien unter dem Banner einer föderativen Balkanrepublik.“
Dies war immer die Position der Marxisten zur Balkanfrage. Nicht die Position der Unterstützung der einen oder anderen nationalen Clique auf der Grundlage der angeblichen „Selbstbestimmung“, sondern das revolutionäre Programm einer Balkanföderation. Jede der nationalen Gruppen auf dem Balkan stellt sich immer gerne in der Rolle des Opfers und des Geschädigten dar, der für vermeintliche „nationale Rechte“ und „Souveränität“ gegen Ungerechtigkeit kämpft. Tatsächlich aber verbergen sich hinter dem Schlagwort der „nationalen Rechte“ die Eigeninteressen der herrschenden Clique, die nur daran interessiert ist, sich die Territorien anderer Staaten anzueignen und andere, schwächere Nationen zu unterdrücken. Was also für die einen „nationale Rechte“ sind, entpuppt sich für die anderen stets als nationale Unterdrückung. Außerdem steht hinter jeder herrschenden nationalen Clique immer ein „großer Bruder“. So entpuppt sich der angebliche Kampf um „nationale Souveränität“ immer als Unterordnung der Nation unter eine der großen ausländischen Mächte:
„Die Politik aller dieser eine halbe Spanne großen Balkanmonarchien, ihrer Kabinette und regierenden Parteien hat als ihr zur Schau gestelltes Ziel die Vereinigung größerer Teile der Balkanhalbinsel unter einer Krone. ‚Großbulgarien‘, ‚Großserbien‘, ‚Großgriechenland‘ sind Losungen dieser Politik. Aber im Wesen nimmt niemand solche Losungen ernst. Dies ist eine halboffizielle Lüge, um Popularität im Volke zu erlangen. Die von der europäischen Diplomatie künstlich gepflanzten Balkandynastien entbehren jeglichen historischen Wurzeln, sind zu nichtig, zu unbeständig auf ihren Thronen, um sich an eine ‚breite‘ Politik nach dem Vorbild Bismarcks zu wagen, der Deutschland mit Eisen und Blut vereinigte. Die erste ernsthafte Erschütterung kann die Karađorđević, Coburg und sonstigen gekrönten Balkanliliputaner spurlos wegfegen. Die Balkanbourgeoisie ist, wie auch in allen spät auf den Weg der kapitalistischen Entwicklung eingetretenen Ländern, politisch unfruchtbar, feige, unbegabt und bis Mark der Knochen vom Chauvinismus zerfressen. Die Vereinigung des Balkans auf sich zu nehmen, geht vollkommen über ihre Kräfte. Die bäuerlichen Massen sind zu zersplittert, unaufgeklärt und politisch indifferent, als dass man von ihnen politische Initiative hätte erwarten können. Auf diese Weise legt sich die Aufgabe der Schaffung normaler Bedingungen nationaler und staatlicher Existenz auf dem Balkan mit ihrer ganzen historischen Schwere auf das Balkanproletariat.“ (Ebd.)
Die nationale Frage auf dem Balkan kann nur durch das Proletariat gelöst werden, das fest auf dem Programm der Klassenunabhängigkeit, der sozialistischen Revolution und des Internationalismus steht. Trotzki formulierte es folgendermaßen:
„Die historische Garantie der Unabhängigkeit des Balkans und der Freiheit Russlands liegt in der revolutionären Zusammenarbeit der Arbeiter Petersburg und Warschaus mit den Arbeitern Belgrads und Sofias.“ (Balkanfrage und Sozialdemokratie)
Und:
„Wie in Russland die Hauptlast des Kampfes mit dem patriarchal-bürokratischen Regime auf die Schultern des Proletariat fällt, so stellt sich auch auf dem Balkan nur das Proletariat in ganzem Umfang die Aufgabe der Schaffung von normalen Bedingungen für das Zusammenleben und die Zusammenarbeit zahlreicher Völker und Stämme der Halbinsel.“ (Die bulgarische und serbische Sozialdemokratie)
Die Erfahrungen Jugoslawiens bestätigen die oben skizzierte marxistische Position voll und ganz. Man braucht nur die Frage konkret zu stellen, um die richtige Antwort zu erhalten. Wie sieht acht Jahre nach dem Beginn der Kriegshandlungen die tatsächliche Bilanz der Zerstückelung Jugoslawiens aus? Hat sie zu einer Stärkung der Arbeiterklasse und der revolutionären Bewegung geführt? Hat sie die Völker einander nähergebracht? Hat sie irgendeines der Probleme gelöst? Hat sie die Produktionsmittel entwickelt? Die Fragen beantworten sich von selbst. Der Zerfall Jugoslawiens ist vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus betrachtet eine absolute Katastrophe und ein Desaster. Und dieses Verbrechen gegen die Arbeiterklasse kann niemals mit dem Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht einer Nation gerechtfertigt werden. Jetzt haben wir den neuen ungeheuerlichen Krieg im Kosovo. Natürlich unterstützen wir das Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren. Sie haben ein Recht auf ihr eigenes Territorium, sie haben ein Recht darauf, nicht unterdrückt und abgeschlachtet zu werden. Aber so einfach ist die Sache nicht. Man muss immer die Wahrheit sagen. Und die Wahrheit ist, dass wieder einmal das Schicksal eines kleinen Volkes vom Imperialismus zynisch manipuliert und für seine Zwecke ausgenutzt wurde. Wie wir von Anfang an vorausgesagt haben, wird die NATO, nachdem sie die Kosovaren benutzt hat, sie im Stich lassen und verraten. So war es und so wird es immer sein.
Wenn der Kosovo seine Unabhängigkeit bekommen würde, würde er unweigerlich dazu tendieren, mit dem albanischen Staat zu fusionieren, wodurch das Ungetüm Großalbanien entstehen würde – nach dem Vorbild von Großkroatien, Großserbien, Großbulgarien und Großgriechenland. Der kleine mazedonische Staat ist sehr zerbrechlich und hat eine große albanische Minderheit. Und wenn Mazedonien zerfällt, was unter diesen Umständen unvermeidlich wäre, dann würde das Krieg bedeuten. Und es wäre eine andere Art von Krieg als jene, die wir bisher auf dem Balkan erlebt haben. Der Krieg in Jugoslawien war in erster Linie ein Krieg zwischen Milizen. Wenn Mazedonien zerbricht, wäre Serbien, Albanien, Bulgarien, Griechenland und schließlich die Türkei alle daran beteiligt. Ein Krieg zwischen Griechenland und der Türkei – beides sind NATO-Mitglieder – wäre eine Katastrophe für alle Völker und ein Albtraum für die USA. Das könnte Washington nicht hinnehmen. Sie versuchten, Milosevic unter Druck zu setzen, damit er Zugeständnisse macht. Als dies nicht gelang, stürzten sie sich ohne Plan und Perspektive in einen Krieg. Clinton wurde von der CIA informiert, dass eine Bombardierung Milosevic in wenigen Tagen in die Knie zwingen würde. Dieser Plan scheiterte, und die Position der USA wurde erst gerettet, als Russland Druck auf Milosevic ausübte, um einen Kompromiss zu schließen. Aber mit welchem Ergebnis?
Die Kosovaren haben das Recht auf Selbstbestimmung, genauso wie die Serben, die Bosnier, die Kurden, die Mazedonier oder die Palästinenser. Es gibt nur ein kleines Problem. Wie soll dieses Selbstbestimmungsrecht verwirklicht werden? Wie soll dieses Recht in die Praxis umgesetzt werden? Die Serben werden nicht freiwillig auf die Kontrolle über den Kosovo verzichten, sie betrachten ihn als unveräußerlichen Teil des serbischen Territoriums. Das Problem ist, dass die Kosovaren – oder zumindest die UCK – auf die Hilfe des amerikanischen Imperialismus gesetzt haben. Was hat das militärische Abenteuer der NATO im Kosovo gelöst? Nichts. Es hat die Situation tausendmal verschlimmert und die Saat für neue Kriege und Albträume gelegt. Nationalismus und Chauvinismus spielen auf dem Balkan wie immer eine verhängnisvolle Rolle und führen in eine blutige Sackgasse. Die reaktionären Führer der UCK, die vom US-Imperialismus in Machtpositionen gebracht wurden, spielen jetzt eine höchst abscheuliche Rolle. Während sie die serbischen Arbeiter und Bauern ermorden und unterdrücken, streben sie danach, alle Schlüsselpositionen zu besetzen, während sie sich durch Plünderungen, Erpressung, Drogenhandel und verschiedene Arten von Kriminalität die Taschen füllen. Doch die Möglichkeiten der UCK sind begrenzt. Die Albaner im Kosovo werden es noch bitter bereuen, blindlings ihr Vertrauen in die Gutgläubigkeit der Imperialisten gesetzt zu haben.
Obwohl Washington verzweifelt versucht, aus dem Kosovo herauszukommen, sitzen sie dort fest und werden es auch noch eine Weile bleiben. Und dann ist da noch der andere „große Bruder“, der im Hintergrund lauert: Russland, das ein Interesse an diesem Gebiet hat. Die Widersprüche zwischen Russland und den USA werden immer größer. Folglich ermutigt Moskau Milosevic jetzt, die Frage der serbischen Kontrolle über den Kosovo wieder aufzugreifen. Nach dem zwischen Belgrad und der NATO erzielten Kompromiss zur Beendigung der Feindseligkeiten bleibt der Kosovo nämlich völkerrechtlich gesehen formell Teil des jugoslawischen Staatsgebiets. Die NATO (d.h. der US-Imperialismus) will ihrerseits kein unabhängiges albanisches Kosovo, weil sie (nicht zu Unrecht) befürchtet, dass dies zur Bildung eines Großalbaniens führen würde, das Mazedonien und Montenegro sofort destabilisieren und neue, noch zerstörerischere Kriege auslösen würde. Dieser Widerspruch wird unweigerlich dazu führen, dass die albanischen Kosovaren irgendwann in einen Konflikt mit den NATO-Truppen geraten werden. Wir haben dies vorausgesagt, und es beginnt bereits, wie die Zusammenstöße in Mitrovica zeigen. Die ganze Angelegenheit hat also absolut nichts gelöst und ist für alle Beteiligten zu einem Albtraum geworden. Wieder einmal hat der Versuch, das nationale Problem auf kapitalistischer Grundlage zu lösen, in einer Katastrophe geendet.
Vor langer Zeit erklärte Engels, dass die Vorbedingung für die Lösung der nationalen Frage auf dem Balkan die Beseitigung der Einmischung ausländischer Mächte ist. Damals dachte er vor allem an das zaristische Russland. Später spielten Deutschland und Italien die gleich schändliche Rolle. Jetzt sind es die USA und Deutschland. Nur durch den Sturz des Kapitalismus ist es möglich, den Würgegriff des Imperialismus auf dem Balkan zu brechen und eine wirklich demokratische Alternative zu der Ungeheuerlichkeit zu ermöglichen, die der Geschichte unter dem Namen „Balkanisierung“ bekannt ist. Nur so können wir den Zustand erreichen, indem, wie Engels schrieb:
„Magyaren, Rumänen, Serben, Bulgaren, Arnauten [türkischer Name für Albanier], Griechen und Türken werden dann endlich in die Lage kommen, ohne Einmischung fremder Gewalt ihre gegenseitigen Streitpunkte zu erledigen, ihre einzelnen nationalen Gebiete untereinander abzugrenzen, ihre inneren Angelegenheiten nach eigenem Ermessen zu ordnen.“ (Friedrich Engels, Die auswärtigen Politik des russischen Zarentums, 1890)
Es gibt nur einen Weg nach vorn, nämlich die Rückkehr zur Position Lenins. Er scheute sich nicht, den Polen 1916 zu sagen, dass die Unabhängigkeit keine Lösung, dass sie utopisch ist und dass der einzige Weg zu echter Unabhängigkeit eine Revolution in Russland und eine Revolution in Deutschland bedeutet. Dieselbe Wahrheit muss den Kosovaren heute gesagt werden. Der Versuch, ihre Probleme auf einer engen nationalistischen Basis zu lösen, hat zu nichts geführt. Der einzige Ausweg besteht in der Errichtung der Arbeitermacht in Serbien und im gesamten ehemaligen Jugoslawien. Dies kann nur durch die kämpferische Einheit der Arbeiterklasse und Bauernschaft Jugoslawiens erreicht werden.
Die Arbeiterklasse und die Bauernschaft Serbiens, Kroatiens, Mazedoniens – und sogar des Kosovo – müssen nun mit Sehnsucht auf die Zeit Titos zurückblicken, die ihnen im Vergleich zu dem gegenwärtigen blutigen Chaos wie ein Traum erscheinen muss. Die Wiederherstellung einer Föderation aller Völker auf der Grundlage einer verstaatlichten Planwirtschaft ist eine absolute Notwendigkeit. Aber eine solche Föderation muss demokratisch von den Werktätigen selbst kontrolliert und verwaltet werden und nicht von Cliquen privilegierter Bürokraten, die ein Interesse daran haben, nationale Unterschiede für ihre eigenen egoistischen Interessen auszunutzen – das heißt eine sozialistische Balkanföderation. Nur das arbeitende Volk hat kein Interesse an der Unterdrückung anderer Nationalitäten. Deshalb kann, wie Lenin so oft wiederholt hat, die Lösung der nationalen Frage nur dadurch erreicht werden, dass das Proletariat die Macht selbst in die Hand nimmt. Jede andere Lösung führt bestenfalls zu einem teilweisen und unsicheren Fortschritt, schlimmstenfalls zu einer vollständigen Katastrophe.