Ein Jahr lang erklärten sämtliche Parteien, dass es die FPÖ um jeden Preis zu stoppen gilt. Viel ist davon nicht übrig geblieben. Von Yola Kipcak.
Die Kickl-FPÖ ist […] nicht nur eine Gefahr für die Demokratie, sondern eine ebenso große Gefahr für die Sicherheit Österreichs”, so der Neo-ÖVP-Chef Christian Stocker noch vor der Wahl. „Nach Orbáns Vorbild will die FPÖ die liberale Demokratie abschaffen“, drohten die NEOS. Ein Jahr lang erklärten sämtliche Parteien und Medien, dass bei der Frage eines Kanzlers Kickl nicht mehr oder weniger als unser demokratisches System auf dem Spiel stünde. Die NEOS stilisierten sich als der einzige Garant dagegen: „Wer NEOS wählt, weiß, dass es eine Reform-Koalition gibt”, schwor NEOS-Chefin Meinl-Reisinger (Krone, 9.9.24). Im Namen der Demokratie wurden alle demokratischen Machtinstrumente, von der Justiz bis zu den bürgerlichen Medien, in Bewegung gesetzt, um die FPÖ in den Wahlen kleinzuhalten – womit die Empörung der FPÖ-Wählerschaft lediglich befeuert wurde. Die „Brandmauer gegen Rechts“ entpuppte sich als Knallfrosch, dessen Effekt, einmal für die Wahlen entzündet, schnell verpuffte. Nun offenbart sich, wie viel den Vertretern der Bourgeoisie die „Demokratie“ tatsächlich wert ist.
„Als Regierungszweck alleine die FPÖ zu verhindern, ist definitiv zu wenig“ – mit diesen Worten brach Meinl-Reisinger ihr Wahlkampfgelübde. Worum es ihnen wirklich geht: Die Krisenlasten und Einsparungskosten, die die kommende Regierung beschließt, sollen zu nicht weniger als 100% von den Massen getragen werden – selbst ein symbolischer Beitrag von 5% der Einsparungen durch Zahlungen von Vermögenden und Kapitalisten, wie es die SPÖ in den Verhandlungen mit maximaler Kompromissbereitschaft anklingen ließ, ist diesen lupenreinen Demokraten zu teuer. Die ÖVP dazu in einem selten ehrlichen Moment: „Geändert hat sich nur, dass ich jetzt etwas anderes mache, als ich vorher gesagt habe.“ (Christian Stocker, Kleine Zeitung, 10.1.).
Die Demokratie ist den Bürgerlichen nur so viel wert wie die Verteidigung ihrer Klasseninteressen erlaubt. NEOS-Großspender Haselsteiner legt die Psychologie der Großkapitalisten dar: „Ein Großteil der Industriellen [ist] für Schwarz-Blau, und die anderen [verhalten] sich neutral. (…) Die sagen sich: Egal, welche Politik gemacht wird – Hauptsache, die Existenz meiner Firma ist gesichert.“ Aktivisten der Palästina-Bewegung, die mit zahlreichen Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit konfrontiert sind, oder etwa die Arbeiter von ZKW Wieselburg, gegen deren Streik die Unternehmer 2023 rechtlich vorgingen, kennen die bürgerlich-selektive Verteidigung demokratischer Rechte bereits.
Wenn eine Blau-Schwarze Regierung in der nächsten Periode unternimmt, Versammlungs-, Streikrecht und die freie Meinungsäußerung anzugreifen, wird es nur die Arbeiterklasse sein, die ein vollumfängliches Interesse an der Verteidigung der demokratischen Rechte hat – und Macht ihrer Klasse auch die Mittel, dieses durchzusetzen.