Sollen zwei Genossen der SJ Steiermark wegen einem antikapitalistischen Gedicht ein Funktionsverbot erhalten? Ein Update zu diesem richtungsweisenden Politstreit von Emanuel Tomaselli.
Wie so oft ist es ein Zufall, der eine länger angelegte Notwendigkeit an die Oberfläche spült. Diesmal ein Gedicht. So sehr bemühen sich KünstlerInnen um Aufmerksamkeit, doch in Zeiten, in denen das Leben die tollsten, unglaublichsten und brutalsten Geschichten selbst zeichnet und in allen möglichen medialen Formaten in jedes Wohnzimmer transportiert, fällt ihnen dies nicht leicht.
Umso erstaunlicher, wenn es einem jungen Stahlarbeiter der Böhlerwerke gelingt, mit einem Gedicht eine derartige öffentliche Aufmerksamkeit und Polarisierung zu erzielen. Für den österreichischen marxistischen Kulturtheoretiker Ernst Fischer qualifiziert sich Kunst durch ihre Transzendenz, also durch ihren Gehalt, der über das materielle Kunstwerk hinausgeht und bei Menschen andockt; durch die Fähigkeit bei den LeserInnen/BetrachterInnen etwas auszulösen. Ausgelöst wurde in diesen Zeilen allerdings einiges, allein die Motivationslage einiger Kritiker wirft Fragen auf.
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit
Natürlich tobten die Jungfreiheitlichen aus Bruck/Mur, als sich ein klassenbewusster SJ-ler die Freiheit herausnimmt, die Verantwortlichen der Krise zu benennen. Denn wenn es nach diesen Jungrecken geht, hat die Obersteiermark folgende rotierende Problemkombinationen: Diebstahl, Entführung, Kindesmissbrauch, Randale, die wechselweise von Kroaten, Tschetschenen und Romas verübt werden.
Unseres Erachtens liegt das Problem der Obersteiermark anders: Jedes Jahr nimmt die Bevölkerung durch Abwanderung (2010 gab es 2090 weniger ObersteirerInnen als 2009), Überalterung, hohe Arbeitslosigkeit (im Bezirk Bruck 8,9 Prozent im Jahr 2009, 8,1 Prozent im Jahr 2010). Lehrstellenmangel, mageres Freizeitangebot,… In der Krise von 2008 wurden viele Öfen heruntergefahren, und auch als die Produktion wieder hochgefahren wurde, blieb der erhöhte Arbeitsdruck bestehen. In den obersteirischen Betrieben produzieren die Beschäftigten nicht nur Stahl reinster Güte und Werkteile, die auf der ganzen Welt benötigt werden, sondern sind dabei auch permanentem Druck ausgesetzt mit weniger Kollegen mehr und noch hochwertiger zu produzieren.
Danach gefragt, sagt uns ein Genosse, der in einem Stahlwerk der Region arbeitet, dass die Kollegen Zorn, Frust und Angst in sich tragen. Einen Zorn, weil sie immer härter arbeiten müssen und die kommende Lohnrunde wieder mager ausfallen dürfte, Frust weil der „Betrugsrat“ in entscheidenden Fragen auf der Seite des erpresserischen Managements steht, Angst weil man bemerkt, dass die Produktionsmargen wieder fallen, und die Krise samt Entlassungen und Kurzarbeit schon wieder in den Betrieb kriecht.
Die Stahlkrise, die man längst verschmerzt glaubte, ist wieder da, und gekommen um zu bleiben. Nicht als das scheinbare Naturereignis, das „eine veraltete, ineffiziente, staatliche Industrie“ eben im Strukturwandel zerstörte, sondern als neue permanente kapitalistische Realität.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund schrieb der besagte Genosse sein antikapitalistisches Gedichtes, dessen Strahlkraft darin besteht, dass es keine hohlen Worte produziert, sondern einem Gefühl Ausdruck gibt, einem in Österreich oft unausgesprochenen Gefühl, das jedoch viele teilen. Wir haben bereits in einer ersten Stellungsnahme festgehalten, dass wir eine Passage politisch für falsch halten, aber es handelt sich hier schlichtweg um kein politisches Aktionsprogramm, sondern um ein Gedicht, um einen HipHop-Text eines klassenbewussten Arbeiters und Genossen. Und darin gehört er bestärkt, unterstützt und animiert.
Einige notwendige Klarstellungen
Die beiden Genossen, die hier von den bürgerlichen Hetzern vorgeführt wurden, sind nicht aus ihren Funktionen in der SJ zurückgetreten. Sie wollen auch nicht zurücktreten. Sie sind sich keiner Schuld bewusst und brauchen auch nicht diese Form des „Schutzes“, der ihnen durch ihre Entfernung aus ihren Funktionen angedeiht werden soll. Sie wollen weiter im Rahmen der Sozialistischen Jugend aktiv sein und werden von vielen GenossInnen in der Steiermark und bundesweit in dieser Haltung bestärkt. Sie werden am Landesvorstand am kommenden Montag für ihre demokratischen Rechte und ihre politische Meinung argumentieren.
Die Humorlosigkeit des Vorsitzenden
Die im „Kurier“ dokumentierte(Link) Humorlosigkeit von Max Lercher, dem Vorsitzenden der SJ Steiermark, überrascht auf den ersten Blick. Sie ist jedoch kein Missgeschick, sondern lebendiger Ausdruck seines aktuellen Status. Seine Autorität, die er sich mit dem Aufbau der SJ Steiermark erarbeitet hat, ist dem blanken Autoritarismus eines geknickten Polit-Fossils gewichen.
Es war von vorneherein klar, dass in Zeiten der verallgemeinerten gesellschaftlichen Krise sein Sitz im Landtag kein sanftes Ruhesofa sein würde. Um die gesamte Organisation auf diese Herausforderungen, vorzubereiten haben die Genossen der SJ Vorarlberg und Römerberg auf dem Verbandstag 2010 einen Initiativantrag „Nein zu Sparpaketen in den Bundesländern“ eingebracht, der nach kurzer Diskussion damals auch angenommen wurde. Darin ist ausdrücklich festgehalten, dass die Landesorganisationen aktive Kampagnen gegen jedes Sparpaket führen müssen, auch wenn dies zu Konflikten mit der Mutterpartei führt und gar zum Bruch von Koalitionen.
Max Lercher hat für sich jedoch einen anderen Weg gewählt, nämlich jenen des „kleineren Übels“. Bei einem Kahlschlag von 25 % der Sozialausgaben aber kann man schon nicht mehr von einem „kleineren Übel“ sprechen. Und was in Nachtragsbudgets etc. noch abgeschliffen wurde, ist nicht seinem „Verhandlungsgeschick“ zuzuschreiben, sondern der größten sozialen Bewegung seit dem 2. Weltkrieg und der Beinahespaltung der SPÖ Steiermark.
Die „Alternativlosigkeit“ der Politik
Die tiefe Krise, in die die Parteiführung die Arbeiterbewegung gestürzt hat, hat man am 1.Mai in jeder steirischen Stadt sehen können. Der Grazer Stadtparteivorsitzende sprach sogar von einem „Erfolg“, dass die Kundgebung überhaut abgehalten werden könne. Er verglich die Situation der Sozialdemokratie mit den Heldentaten der Pioniere der Arbeiterbewegung, die der Verfolgung ausgesetzt waren und trotzdem der Bewegung nicht abschworen. Ja genau, die Arbeiterbewegung hat auch in Österreich einen nicht unerheblichen Blutzoll gezahlt. Unvergessen ist der Heldenmut von Koloman Wallischs KämpferInnen. Wie schändlich erweist sich im Vergleich dazu die Politik der neoliberalen Mehrheit in der heutigen Parteiführung, die den sozialen Kahlschlag – Margret Thatcher gleich – als „alternativlos“ bezeichnete und gegen alle Widerstände durchsetzte.
Max Lercher hätte mit seiner Gegenstimme das Sparpaket wahrscheinlich nicht verhindert, aber er hätte die Gegenbewegung moralisch und politisch gestärkt, er hätte den hunderten frustrierten Parteigängern eine antikapitalistische Alternative aufgezeigt. Stattdessen hat er seine Organisation, der er seine politische Karriere schuldet, in eine tiefe Krise gestürzt.
Das Demokratiedefizit der SJ-Führung
Teil dieser politischen Krise ist, dass der Landesvorstand der SJ Steiermark, der Mitte April gewählt worden ist, äußerst selten zusammentritt. Der Vorsitzende scheint sich jeder Diskussion entziehen zu wollten, auch in seiner eigenen Organisation. Es deutet viel darauf hin, dass der kommende Landesvorstand einberufen wurde um seine Kritiker los zu werden: Ein Funktionsverbot wurde ausgesprochen, ohne jegliche statutarische Grundlage. Gegenüber den Medien wird behauptet, sie seien freiwillig zurückgetreten, was eine glatte Fehlaussage ist.
Der Eindruck drängt sich auf, dass die freiheitliche Hetzte gerade recht war, um Genossen, die, bevor sie zu öffentlichen Figuren wurden, bereits auf seiner schwarzen Liste standen, los zu werden.
Eine Vermutung: Jetzt, wo die Genossen in Bruck gezwungen sind, sich zu verteidigen, ihre Mitgliedschaft in Frage steht, und da sie begonnen haben politisch die Zähne zu zeigen, werden sie rasch des „Trotzkismus“ und anderer Verbrechen beschuldigt werden. Zur „Vorbereitung“ des Landesvorstandes der Sozialistischen Jugend Steiermark am kommenden Montag werden nun Telefonate geführt werden, Berichte eingeholt werden, mit allen möglichen (und unmöglichen) Argumenten die persönliche und politische Autorität der Genossen in den Dreck gezogen werden. Auch Angebote, die bei wohlfälligem Verhalten einen Karrieresprung in Aussicht stellen, werden dieser Tage ausgesprochen. Man wird „Skandale“ fabrizieren, um jeder inhaltlichen Diskussion auszuweichen, und man wird schlussendlich auch versuchen den Genossen die Nutzung der Infrastruktur der SJ Bruck/Mur zu verunmöglichen.
Dies sind hoffnungslose Methoden einer hoffnungslosen bürgerlichen Politik. Es sind solche Methoden, die insbesondere junge Menschen abschreckt, und sie davon überzeugt, dass Politik immer ein dreckiges Geschäft sei. Das Fehlen der Demokratie ist kein Zufall, sondern die in der Sozialdemokratie seit langem gängige Form den Widerspruch zwischen der „Realpolitik“ und den „Idealen“ zu unterdrücken.
Für eine starke Sozialistische Jugend
Die SJ Steiermark, kann sich aus dieser Falle herausbewegen, indem sie eine offene und demokratische Diskussion in ihren Reihen zulässt. Die Fehler, die hier erkannt werden, müssen gemeinsam korrigiert werden. In einer solchen Diskussion würde es MarxistInnen nicht darum gehen ein Scherbengericht über einzelne GenossInnen zu veranstalten. Wir würden insbesondere argumentieren, dass die grundlegende Fehlannahme darin lag, dass man sozialistische Politik heute konfliktfrei mit der real existierenden Sozialdemokratie in Einklang bringen kann. Wir würden argumentieren, dass die SJ konsequent die sozialen, politischen und kulturellen Interessen der jugendlichen ArbeiterInnen und SchülerInnen vertritt, und auch keine Konflikte mit der Mutterpartei scheut, um diese durchzusetzen.
Eine notwendige Richtungsentscheidung
Entscheiden müssen dies nun in die Genossinnen und Genossen der Sozialistischen Jugend Steiermark am kommenden Montag.
Sie müssen beurteilen, ob man wegen eines Gedichtes aus der Sozialistischen Jugend entfernt werden darf, oder ob es OK ist eine eigene Meinung zu haben. Sie muss entscheiden, ob die Politik ihrer Organisation nur von einem einzigen Genossen gemacht wird, oder ob man eine solidarische Gemeinschaft ist, die gemeinsam kämpft. Die Gerüchte, die jetzt gestreut werden, haben nur den Sinn, die tatsächliche Fragestellung zu verdunkeln: Darf man eine antikapitalistische Meinung haben – Ja oder Nein?