In den letzten Stunden [der Artikel ist vom 8.12.2022, Anm.] hat sich die politische Krise in Peru verschärft. Präsident Castillo ordnete die Schließung des Kongresses an, wurde jedoch umgehend von der Polizei verhaftet. Der Kongress stimmte für ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn und ernannte seine Vizepräsidentin zur neuen Präsidentin. Von Jorge Martin.
Was bedeutet das für uns?
Um zu verstehen, was geschehen ist, müssen wir den Verfassungsrechtliche Spitzfindigkeiten beiseitelassen und den Vorgängen auf den Grund gehen: Der Arbeitgeberverband CONFIEP, die Armee, die Polizei, die kapitalistischen Medien, die US-Botschaft und die multinationalen Bergbaukonzerne haben durch ihre Agenten im Kongress Präsident Castillo aus dem Amt entfernt, in das er vom Volk demokratisch gewählt wurde. Es handelt sich also um einen reaktionären Staatsstreich.
Castillo, ein Anführer aus der Lehrergewerkschaft mit starken Wurzeln in den ländlichen Gebieten, wurde im Juli 2021 gegen alle Widerstände gewählt. Das war ein Ausdruck der Wut der ausgebeuteten Massen in Peru, der armen Bauern, der Arbeiter, der Indigenen. Alle am meisten unterdrückten Schichten der Gesellschaft strebten nach einer grundlegenden Veränderung der Machtverhältnisse, die in der Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung zum Ausdruck kam. Sie schlossen sich dem Slogan Castillos an, dass es „in einem reichen Land keine armen Menschen geben sollte“. Die kapitalistischen Eigentümer des Landes konnten dies nicht akzeptieren.
Castillo und die Partei, für die er kandidierte, Peru Libre, hatten zwei ernsthafte Einschränkungen:
Erstens, ihr politisches Programm – soziale Reformen, aber ohne Bruch mit dem Kapitalismus. Dies war utopisch, und der Versuch, es umzusetzen, konnte nur zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wurden Reformen durchgeführt, die zu einem Bruch mit dem Kapitalismus führten, oder der Kapitalismus würde beibehalten und die Reformen würden nicht umgesetzt.
Zweitens war die parlamentarische Arithmetik ungünstig, und daher konnte der demokratische Wille der Massen nur durch den Druck der Massen auf der Straße durchgesetzt werden, aber es gab nie einen ernsthaften Aufruf seitens Castillo oder Perú Libre, einen solchen Druck zu mobilisieren oder zu organisieren.
Nachdem Castillo sich damit abgefunden hatte, in den engen Rahmen der bürgerlichen Institutionen eingezwängt zu sein, machte er immer größere Zugeständnisse an die etablierten kapitalistischen Machthaber. Er setzte Minister ab, die den multinationalen Bergbaukonzernen nicht gefielen. Er setzte den Kanzler ab, gegen den die Militärs protestiert hatten. Er wechselte diejenigen aus, die der Unternehmerverband CONFIEP nicht wollte. Das war ein fataler Fehler, denn die Oligarchie gab sich nicht zufrieden und verlangte weitere Zugeständnisse, während jedes Zugeständnis Castillos Rückhalt in seiner eigenen sozialen Basis untergrub, die seine einzige Hoffnung auf Rettung war.
Gab es eine Alternative? Ja. Die Alternative bestand darin, die Massen auf die Straße zu rufen, den Kongress aufzulösen und eine Nationale Revolutionäre Versammlung einzuberufen und dies mit Schlägen gegen die politische und wirtschaftliche Macht der kapitalistischen Oligarchie zu verbinden (Verstaatlichung des Erdgases, Rücknahme der Bergbaukonzessionen usw.). Eine riskante Strategie, die auch hätte scheitern können? Natürlich. Im Klassenkampf gibt es keine Garantie für einen Sieg. Aber der Weg der Versöhnung garantiert eines: Er führt in die Katastrophe.
Auch Perú Libre (welche mit Castillo gebrochen hatte) und sein Anführer Cerrón haben Fehler gemacht. Gelegentlich liebäugelten sie im Kongress mit dem Fujimorismo [der rechten politischen Strömung des ehemaligen Präsidenten und Diktators Fujimori], aus reiner Häme gegen Castillo. Stattdessen hätte die PL daran arbeiten sollen, eine solide Basis unter den Massen aufzubauen, diese zu organisieren, um Castillo von links unter Druck zu setzen, und sich darauf vorbereiteten, ihn zu übergehen, falls er nicht folgen würde.
Vor etwa einem Monat, als Castillo bereits praktisch sein gesamtes politisches Kapital verloren hatte, mit Sympathie unter den am meisten unterdrückten Sektoren, aber ohne Organisation und Mobilisierung, nachdem er seine parlamentarische Fraktion zerbrochen hatte, wandte er sich … an die OAS! Das war genau derselbe Fehler, den Evo in Bolivien gemacht hat, mit demselben Ergebnis [ihrem Sturz]. Es hat den Anschein, als ob die Lektionen nicht gelernt worden sind.
Und schließlich, in einer letzten Verzweiflungstat, um die Abstimmung über die Amtsenthebung zu vermeiden, hat er heute die Auflösung des Kongresses beantragt, aber anstatt sich auf die Mobilisierung der Massen zu verlassen, um das Dekret durchzusetzen, schien er auf die Unterstützung der Armee zu warten…!
Die herrschende Klasse bewegte sich wie die gut geölte Maschine, die sie ist, mit einem im Voraus ausgearbeiteten Plan. Castillo ist verhaftet worden. Es gibt eine politische Einigung zwischen dem Fujimorismo, der traditionellen Rechten und der so genannten „Kaviar“-Linken. Der Kongress hat ein Amtsenthebungsverfahren beschlossen (mit der Unterstützung der Mehrheit der PL-Bänke und des so genannten „Lehrerblocks“, zu dem Castillo gehörte). Castillos Vizepräsidentin wurde mit breiter Unterstützung des Kongresses zur Präsidentin ernannt und rief zu einer Regierung der „nationalen Einheit“ auf (d.h. zur Einheit aller Parteien gegen die Bestrebungen der arbeitenden Bevölkerung). Die OAS und die USA haben diese neue Regierung, die nicht an der Wahlurne gewählt wurde, rasch anerkannt. Der Staatsstreich ist vollzogen.
Es bleibt nur noch abzuwarten, wie die Massen in den nächsten Stunden reagieren werden. Es ist zu erwarten, dass sie vor allem außerhalb Limas, im rebellischen Süden und in den ländlichen Provinzen auf die Straße gehen werden. Wie stark und mit welchem Grad an Entschlossenheit, ist nicht klar. Castillo hat seine eigene soziale Basis untergraben, aber der Hass auf die Oligarchie sitzt tief.
Es bleibt an uns, von außen die internationale Ablehnung des Putsches zu organisieren und dazu beizutragen, dass die notwendigen Konsequenzen für Peru und Lateinamerika gezogen werden. Denn selbst wenn sich das neue Regime konsolidiert, was keineswegs garantiert ist, ist dies nur eine Schlacht. Der Krieg geht weiter.