Auf Kuba nehmen die Auseinandersetzungen über die Zukunft der Revolution zu. Emanuel Tomaselli berichtet über die Absetzung des Chefredakteurs des traditionsreichen Magazins Alma Mater und den Widerstand dagegen.
„Durch Beschluss des Nationalen Büros des Kommunistischen Jugendverbandes wurde Armando Franco Senén von seinen Aufgaben als Chefredakteur des Magazins enthoben.“ Mit dieser Bekanntmachung informierte die Redaktion am 26. April die eigene Leserschaft über den erfolgten bürokratischen Durchgriff auf das Blatt. Der politische Charakter dieser Maßnahme, die später von der Nomenklatura als „natürliche Erneuerung“ und sogar als „Karrieresprung“ (wir fügen hinzu: ins Nichts) für den abgesetzten Armando uminterpretiert wurde, ist evident.
Kubas Wirtschaft befindet sich in der schwersten Krise seit drei Jahrzehnten, neben der Krise der Weltmärkte leidet die Insel unter der brutalen Wirtschaftsblockade durch die USA. Der ideologische Kitt der Gesellschaft bröckelt. Vor diesem Hintergrund hatte sich das Magazin in der jüngeren Vergangenheit zur Diskussionsplattform für jenen Sektor der Gesellschaft gemausert, der die Festigung und Erneuerung des Sozialismus durch relevante und auch freche Debatten vorantreiben will. Alma Mater vertritt mehrheitlich Positionen, die sowohl die schleichende Restauration des Kapitalismus à la China und Vietnam ablehnen (was aber der mehrheitlichen Orientierung der führenden Kommunistischen Partei entspricht) als auch offen gegen eine Rückkehr zur politischen Unterdrückung wie in der „grauen Periode“ des mechanischen ML-Stalinismus (in Kuba die erste Hälfte der 1970er) stehen. Letztere Option wird von einer Minderheit im Apparat als politische Begleitmaßnahme befürwortet. Stattdessen schreibt die Zeitung gegen Auswüchse des kapitalistischen Sektors in der Wirtschaft, Bürokratismus und politische Repression und argumentiert für die Arbeiterkontrolle über die staatliche Ökonomie.
Alma Mater schreibt:
„Diese neue Ära in Kuba bedeutet, die in sich geschlossenen und dogmatischen Versionen des Sozialismus, die noch immer wichtige Machtpositionen innehaben, zu überwinden. Eine bürokratisierte, ineffiziente und konformistische Struktur, nur daran gewöhnt Monologe zu führen, kann die Schlacht, die wir heute führen müssen, nicht anleiten. Die Angst, unseren Sozialismus zu reformieren, stärkt die äußere Aggression (des Imperialismus, Anm. d. Ü.), schafft Bedingungen für das Voranschreiten des Kapitalismus und den Verrat am Volk. Ganz speziell ist es dringend notwendig, mit der Trägheit der Massenmedien zu brechen.“
Der Widerstand gegen den bürokratischen Übergriff auf das traditionsreiche Magazin (erstmals herausgegeben 1922 vom KP-Gründer J.A. Mella, der 1926 im Zuge der Stalinisierung selbst aus der Partei ausgeschlossen wurde) war so stark, dass sich führende Repräsentanten von Massenorganisationen, wie der Journalistenvereinigung, der populäre Koordinator der „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ und anti-imperialistische Held Gerardo und selbst die Ehefrau des Präsidenten Diaz-Canel mehr oder weniger deutlich hinter Armando stellten.
Dies ist ein neuer Ausdruck dafür, dass sich die kubanische Revolution in historischen Krisensituationen immer wieder auf die Massen und ihren bewussten politischen Ausdruck stützen muss – auch wenn dies den Stalinisten nicht zupass kommt. Der Konflikt um den Chefredakteur von Alma Mater endete vorerst mit einem Patt. Armando wurde nicht wiedereingesetzt, aber das von der Bürokratie bevorzugte Nachfolgerduo konnte auch nicht durchgesetzt werden.
Die politische Triebfeder, die hinter Alma Mater steht, sind die „Panuelos Rojos“, ein Netzwerk von AktivistInnen, die erstmals im November 2021 als Gegenpol gegen die anti-revolutionären Proteste auftraten und seither politisch sehr aktiv arbeiten. „Der Funke“ steht in politischer Solidarität mit diesen GenossInnen, die verstehen, dass „Cuba Libre“ bedeutet, sich vom Kapitalismus und vom Bürokratismus – der diesem ökonomisch und politisch Vorschub leistet – zu befreien.
(Funke Nr. 206/30.8.2022)