Der Mythos des Verteidigungskrieges

Seit nunmehr fast 60 Jahren kontrolliert Israel durch ein System von Besatzung, Blockade, Siedlungen und Drohungen das Westjordanland und den Gazastreifen. Der Ausgangspunkt davon war der Sechstagekrieg 1967. Mohamed Sewilam beleuchtet dieses Ereignis.
Seit seiner Gründung im Jahr 1948 befindet sich der Staat Israel in einem Zustand permanenter Kriegsführung. Dies umfasst Kriege mit Ägypten, Jordanien und Syrien sowie die Invasion und Besatzung des Libanons. Hinzu kommen aber auch schon seit Jahrzehnten der systematische Krieg zur Unterdrückung der Palästinenser, was in den derzeitigen Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, die Angriffe auf das Westjordanland und die jüngsten Angriffe auf den Libanon mündeten.
Die israelische Regierung hat die Argumentation des „Krieges zur nationalen Verteidigung“ wiederholt genutzt, auch bei der Invasion und anschließenden Besetzung der Golanhöhen nach dem Zusammenbruch der Assad-Regierung am 8. Dezember letzten Jahres. Auch in diesem Fall wurde die Offensive als „präventive Verteidigungsmaßnahme“ deklariert.
Doch die israelische Argumentation der Selbstverteidigung für Offensivaktionen ist keineswegs ein neues Phänomen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass bereits der Sechstagekrieg von 1967 mit einer ähnlichen Begründung geführt wurde. Während Israel damals innerhalb von sechs Tagen die Kontrolle über den Gazastreifen, das Westjordanland, die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen übernahm (ein Gebiet, das insgesamt ungefähr 3x so groß ist wie das Staatsgebiet Israels!), wurde auch die Besatzung dieser Gebiete mit der Notwendigkeit der Selbstverteidigung gerechtfertigt. Obwohl Israel sich 1982 gemäß dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag aus der Sinai-Halbinsel zurückzog, hält es weiterhin eine strenge Kontrolle über die anderen besetzten Gebiete aufrecht. Diese Besatzung, die längste der modernen Geschichte, bleibt eine Quelle der Unterdrückung und des Leids für das palästinensische Volk, das unter Hauszerstörungen, militärischer Gewalt und der jahrelangen Blockade des Gazastreifens leidet, die zu einer humanitären Katastrophe geführt hat.
Die konventionelle Darstellung des Sechstagekriegs besagt, dass der Präventivschlag vom 6. Juni 1967 notwendig war, um eine drohende Vernichtung Israels durch Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser zu verhindern.
Der israelische Historiker Avi Shlaim schreibt in seinem Buch The Iron Wall, dass Israel den Krieg aus Verteidigung heraus führte und nicht in erster Linie, um neues Land zu erobern.
Dennoch stellt sich die Frage: Was, wenn diese Annahme nicht korrekt ist? Welche Konsequenzen hätte dies für das Verständnis des heutigen Konflikts? Um dieser Frage nachzugehen, ist eine sorgfältige Analyse der politischen und militärischen Entwicklungen vor dem Krieg unerlässlich.
Die Darstellung, Israel sei 1967 durch unaufhaltsame äußere Kräfte zum Krieg gezwungen worden, wird bereits durch die Entwicklungen im Vorfeld widerlegt. In den Monaten vor Ausbruch des Krieges verschärfte der israelische Staat gezielt die Spannungen in der Region und trug aktiv zur Eskalation bei – politisch wie militärisch.
Ein markantes Beispiel dafür war der israelische Angriff auf das Dorf Samu im November 1966. Die israelische Armee rechtfertigte die Operation mit einem angeblichen Vergeltungsschlag auf palästinensische Infiltrationen aus Jordanien (das zum damaligen Zeitpunkt das Westjordanland kontrollierte). Dabei bezog man sich auf einen Vorfall, bei dem eine Mine explodiert war und einen israelischen Soldaten tötete. Doch diese Darstellung wurde später von verschiedenen Seiten infrage gestellt. So betont Norman Finkelstein in seinem Werk Image and Reality of the Israel–Palestine Conflict, dass Jordanien zu dieser Zeit selbst mit größter Härte gegen palästinensische Kämpfer vorging. Laut Finkelstein töteten jordanische Truppen mehr palästinensische Fedajin (Freischärler) an der Grenze als das israelische Militär selbst.
Der Angriff war in seinem Ausmaß beispiellos für die damalige Phase: Eine israelische Panzerbrigade mit rund 4.000 Soldaten marschierte in das Dorf ein, unterstützt durch Luftwaffe und schwere Artillerie. Die Truppen zerstörten 125 Häuser und töteten 15 jordanische Soldaten und 3 Zivilisten. Die Reaktion in der arabischen Welt war heftig. Besonders in Jordanien führte der Angriff zu einer innenpolitischen Krise: König Hussein geriet massiv unter Druck, da seine Regierung unfähig gewesen war, das Land zu verteidigen. Noch schwerwiegender war die diplomatische Krise, die daraus resultierte: Die jordanische Regierung warf Ägypten vor, Jordanien im Stich gelassen zu haben. Diese Spannungen konnten jedoch beigelegt werden und führten im Mai 1967 zur Unterzeichnung eines gemeinsamen Verteidigungspaktes zwischen Jordanien und Ägypten.
Parallel dazu spitzte sich die Lage auch im Norden zu. Im Jahr 1966 hatte in Syrien die Baath-Partei die Macht übernommen. Der politische Kurs des neuen Regimes war geprägt von einem militanten panarabischen Nationalismus. Die syrische Führung betrachtete Israel nicht als bloßen geopolitischen Gegner, sondern als kolonialen Brückenkopf westlicher Interessen in der arabischen Welt. Dies bedeutete nicht nur eine stärkere politische Konfrontation mit Israel, sondern auch eine verstärkte Förderung des palästinensischen Widerstands.
Syrien begann, palästinensische Guerillagruppen in seinem Staatsgebiet zu unterstützen, insbesondere durch logistische Hilfe, Ausbildung und militärische Rückendeckung. Diese Gruppen führten zwar gelegentlich Angriffe gegen israelische Infrastruktur und Grenzposten durch, doch selbst israelische Sicherheitskreise betrachteten diese Angriffe als geringfügig. Der frühere Chef des israelischen Militärgeheimdienstes, Yehoshafat Harkabi, beschrieb die syrisch unterstützten Angriffe rückblickend als „militärisch unbedeutend“.
Trotzdem steigerte Israel seine Rhetorik gegenüber Syrien drastisch und erwog sogar offen die Option, das Baath-Regime militärisch zu stürzen. Armeeführer wie Yitzhak Rabin äußerten sich öffentlich mit kriegerischer Rhetorik; die israelische Öffentlichkeit wurde gezielt auf eine Konfrontation mit Syrien vorbereitet. Wie später bekannt wurde, waren viele der Gefechte an der syrischen Grenze von Israel absichtlich provoziert worden. Stabschef Yitzhak Rabin löste eine Kontroverse aus, als er in einer israelischen Radiosendung sagte: „Der Moment kommt, in dem wir auf Damaskus marschieren werden, um die syrische Regierung zu stürzen“ (zitiert in David Hirst, The Gun and the Olive Branch: The Roots of Violence in the Middle East (1977)).
Wie später bekannt wurde, waren viele der Gefechte an der syrischen Grenze von Israel absichtlich provoziert worden. Verteidigungsminister Moshe Dayan gab Jahre nach dem Krieg unumwunden zu, dass es sich dabei um eine bewusste Eskalationsstrategie gehandelt hatte:
„Ich weiß, dass mindestens 80 Prozent der Zusammenstöße mit den Syrern von unserer Seite ausgingen. Wir schickten Traktoren in entmilitarisierte Zonen, wissend, dass die Syrer schießen würden. Wenn sie nicht schossen, schickten wir den Traktor weiter bis sie es taten.“
(Haaretz, Interview mit Rami Tal, 11. Mai 1997)
Diese gezielte Strategie der Provokation zeigt deutlich, dass Israel nicht als passiver Akteur von äußeren Umständen in den Krieg getrieben wurde, sondern selbst als treibende Kraft in der Eskalation agierte. Der israelische Staat verfolgte damit eine klare Linie: eine politische und militärische Dynamik zu erzeugen, die eine umfassende militärische Offensive legitimieren konnte.
Die eskalierende Lage im Norden blieb auch in Kairo nicht unbeachtet. Israels aggressives Vorgehen zwang Ägypten, sich neu zu positionieren – nicht zuletzt, um seine Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt zu wahren.
Die Dynamik nahm im Mai 1967 deutlich an Tempo auf. Nachdem Israel wochenlang an der syrischen Grenze militärische Provokationen gesetzt hatte und zunehmend mit Kriegsrhetorik an die Öffentlichkeit ging, sah sich Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser gezwungen, auf die neue Lage zu reagieren – weniger aus militärischer Bereitschaft, als vielmehr, um seinen Führungsanspruch in der arabischen Welt zu behaupten.
Am 13. Mai meldete die Sowjetunion angebliche israelische Truppenbewegungen in Richtung der syrischen Grenze. Auch wenn sich diese Berichte später als falsch herausstellten, lösten sie in Kairo Alarm aus. Unter wachsendem politischen Druck ordnete Nasser am 14. Mai die Verlegung ägyptischer Truppen in den Sinai an. Dort war seit dem Ende der Suezkrise 1956 die United Nations Emergency Force (UNEF) stationiert, die als Puffer zwischen Ägypten und Israel fungierte. Die Präsenz dieser Truppen beruhte auf der Zustimmung Ägyptens —sie hatten kein Mandat zur Stationierung auf israelischem Gebiet. Als Nasser am 19. Mai den UN-Generalsekretär U Thant aufforderte, die UNEF abzuziehen, folgte dieser der Bitte umgehend.
Israel behauptete später, dieser Schritt stelle eine ernsthafte Bedrohung dar, obwohl es weder zu Grenzverletzungen noch zu direkten Kampfhandlungen gekommen war.
Am 22. Mai verkündete Nasser die Sperrung der Straße von Tiran für israelische Schiffe. Diese enge Meerespassage zwischen der Sinai-Halbinsel und Saudi-Arabien war für Israel wirtschaftlich bedeutend, da sie den Zugang zum Hafen von Eilat am Roten Meer ermöglichte.
Um Unterstützung zu gewinnen und gleichzeitig die Legitimation für einen möglichen Präventivschlag zu sichern, entsandte Israel seinen Außenminister Abba Eban in die Vereinigten Staaten. Am 26. Mai traf er mit Präsident Lyndon B. Johnson und Verteidigungsminister Robert McNamara zusammen. Ziel des Treffens war es, die USA davon zu überzeugen, dass ein Krieg unvermeidlich sei und Israel präventiv handeln müsse.
Doch die Reaktion der US-Regierung war eindeutig. Präsident Johnson hielt in seinen Memoiren fest:
„Drei unabhängige Geheimdienstanalysen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis: Ein Angriff Ägyptens auf Israel ist nicht zu erwarten.“
(Lyndon B. Johnson, The Vantage Point: Perspectives of the Presidency, 1963–1969, S. 293)
Auch McNamara bekräftigte in der Sitzung, dass aus Sicht amerikanischer Nachrichtendienste keine Hinweise auf eine unmittelbar bevorstehende ägyptische Offensive vorlägen. Die US-Regierung drängte Israel vielmehr, Zurückhaltung zu üben und eine diplomatische Lösung zu suchen, zum Beispiel durch eine internationale Initiative zur Wiedereröffnung der Wasserstraße.
Israel entschied sich jedoch gegen eine Deeskalation. Premierminister Levi Eschkol und Verteidigungsminister Moshe Dayan drängten stattdessen auf einen schnellen Angriff, bevor internationale Vermittlungsversuche Wirkung zeigen konnten. Die militärische Führung war sich bewusst, dass ein Überraschungsschlag, insbesondere gegen die ägyptische Luftwaffe, entscheidende Vorteile verschaffen würde.
Auch innerhalb Israels widersprachen führende Sicherheitsbeamte der offiziellen Bedrohungserzählung. Der damalige Chef des Mossad, des israelischen Auslandsgehemindienst Meir Amit erklärte rückblickend:
„Nasser wollte keinen Krieg. Er hoffte, mit minimaler Eskalation politischen Druck auszuüben, ohne eine militärische Konfrontation zu provozieren.“
(Michael B. Oren, Six Days of War: June 1967 and the Making of the Modern Middle East, Oxford University Press, 2002, S. 111)
Die internationale wie auch die interne Lage bot keine Belege für einen unmittelbar drohenden Angriff der arabischen Staaten. Vielmehr nutzte Israel das politische Klima, um eine geplante Offensive unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung zu legitimieren.
Am frühen Morgen des 5. Juni 1967 begann Israel mit einer Militäraktion, die die Geschichte des Nahen Ostens für Jahrzehnte prägen sollte. Die Offensive begann mit einem massiven Luftangriff auf Ägyptens Luftwaffenstützpunkte, bei dem nahezu die gesamte ägyptische Luftflotte, etwa 90 Prozent, am Boden zerstört wurde, noch bevor die Maschinen starten konnten. Innerhalb weniger Stunden war die Luftwaffe des wichtigsten arabischen Militärs ausgeschaltet, wodurch Israel die vollständige Luftherrschaft gewann.
Noch am selben Tag weitete Israel den Krieg auf weitere Fronten aus. Jordanien, das sich nach seinem Verteidigungspakt mit Ägypten verpflichtet sah zu handeln, wurde rasch durch israelische Streitkräfte zurückgedrängt. Ostjerusalem wurde nach heftigen Kämpfen besetzt und vollständig unter israelische Kontrolle gebracht. Im Süden stießen israelische Truppen tief auf die Sinai-Halbinsel vor, bis zum Suezkanal. Im Norden folgte am vierten Kriegstag die Offensive auf die syrischen Golanhöhen obwohl Syrien sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Rückzug befand und keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellte.
Der israelische Vorstoß war nicht nur militärisch präzise vorbereitet, sondern offensichtlich auch politisch gewollt und verfolgte klare strategische Ziele. Obwohl Ägypten und Jordanien bereit waren, den Kampf zu beenden, setzte Israel seine Angriffe fort. Besonders auffällig war die Eroberung der Golanhöhen. Verteidigungsminister Moshe Dayan räumte später offen ein, dass die syrischen Streitkräfte keine Bedrohung mehr darstellten:
„Man greift den Feind nicht an, weil er ein Bastard ist, sondern weil er eine Bedrohung darstellt. Und die Syrer stellten am vierten Tag des Krieges keine Bedrohung für uns dar.“
(Haaretz, Interview mit Rami Tal, 11. Mai 1997)
Es kam auch Kritik aus den Reihen des Militärs, das das offizielle Narrativ eines präventiven Verteidigungskrieges als beleidigend empfand. Bereits wenige Tage nach Kriegsende wurde das von hochrangigen Militärs offen ausgesprochen. Einer der ersten war Generalmajor Mattityahu Peled, der bei einem Vortrag im Zatva-Club in Tel Aviv erklärte:
„Die Behauptung, Israel sei von Vernichtung bedroht gewesen und habe um sein physisches Überleben gekämpft, ist ein nachträglich konstruierter Bluff.“
(Tom Segev, 1967: Israel, the War, and the Year That Transformed the Middle East, Metropolitan Books, 2007, S. 315)
Peled begründete seine Offenheit damit, dass es eine Beleidigung der Intelligenz und vor allem des israelischen Militärs sei, so zu tun, als hätte man sich in einer existenziellen Notlage befunden. Diese Einschätzung teilten auch andere führende Militärs. Ezer Weizman, Kommandeur der israelischen Luftwaffe während des Krieges und später Präsident Israels, sagte offen:
„Wir waren nicht von einem Völkermord bedroht, und wir haben nie ernsthaft daran geglaubt.“
(zitiert in: Haaretz, 1977)
Yitzhak Rabin, der damalige Generalstabschef der Armee, erklärte in einem Interview mit Le Monde:
„Ich glaube nicht, dass Nasser Krieg wollte. Die zwei Divisionen, die er in den Sinai verlegte, hätten keine Offensive beginnen können. Er wusste, dass Ägypten militärisch nicht bereit war.“
(Le Monde, 28. Februar 1968)
Sogar der spätere Premierminister Menachem Begin räumte 1982 in einer Rede in der Knesset ein:
„Die Konzentration der ägyptischen Armee im Sinai beweist nicht, dass Nasser uns angreifen wollte. Wir müssen ehrlich mit uns selbst sein: Wir haben beschlossen, ihn anzugreifen.“
(Knesset-Rede, 8. August 1982)
Diese Aussagen belegen unmissverständlich, dass die israelische Führung den Krieg nicht aus einem Gefühl der Bedrohung führte, sondern auf Grundlage einer militärischen Überlegenheit und eines strategischen Kalküls. Die Offensive von 1967 war keine verzweifelte Verteidigungstat, sie war eine bewusste Entscheidung zur Expansion der herrschenden Klasse in Israel, die eine Chance erkannte, den eigenen Einfluss (und ihre Profite) auszudehnen. Die Rechtfertigung als „präventive Verteidigung“ wurde konstruiert, um die Mobilisierung der jüdisch-israelischen Arbeiter für den Krieg sicherzustellen (wer will schon in einem Eroberungskrieg sterben?) und die internationale Öffentlichkeit möglichst ruhig zu halten.
Vertreibungen und Besatzung
Der israelische Blitzkrieg brachte nicht nur einen militärischen Sieg, sondern auch schwerwiegende humanitäre Konsequenzen mit sich. Innerhalb weniger Tage wurden laut israelischen Schätzungen etwa 250.000 Palästinenser aus dem Westjordanland, dem Gazastreifen und Ostjerusalem vertrieben. Für viele bedeutete dies die zweite Flucht binnen zwei Jahrzehnten – die Erinnerung an die Nakba von 1948, als über 750.000 Palästinenser durch systematische ethnische Säuberung entwurzelt wurden, war noch lebendig.
Zahlreiche Dörfer wurden gewaltsam geräumt und anschließend zerstört. Die Städte und Straßen waren überfüllt mit Familien, die versuchten, über notdürftige Übergänge und zerstörte Brücken nach Jordanien zu fliehen. Die gezielte Zerstörung palästinensischer Infrastruktur war keine spontane Kriegsfolge, sondern Teil einer bewusst eingesetzten Strategie der psychologischen Kriegsführung. So wurden in mehreren Gebieten Lautsprecherfahrzeuge eingesetzt, die über arabischsprachige Durchsagen die Palästinenser aufforderten, ihre Häuser zu verlassen.
Besonders drastisch war das Vorgehen in den Dörfern Imwas, Yalu und Beit Nuba. Diese Gemeinden im Latrun-Korridor (der die Hauptstraße zwischen Tel Aviv und Israel kontrollierte) wurden unmittelbar nach dem Krieg von israelischen Truppen vollständig geräumt und anschließend systematisch zerstört. Der Befehl war klar: Die Häuser sollten evakuiert und dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Palästinenser erhielten kein Rückkehrrecht, und ihre Dörfer existieren heute nicht mehr.
Verteidigungsminister Moshe Dayan zeigte sich in internen Kabinettssitzungen unverblümt erfreut über die Massenflucht. In einem Protokoll wird er mit den Worten zitiert:
„Ich hoffe, dass sie alle gehen. Wenn wir 300.000 Menschen ohne Gewalt vertreiben könnten, wäre das ein Segen.“
(Protokoll israelischer Kabinettssitzung, zitiert in: Tom Segev, 1967, S. 396)
Diese Haltung unterstreicht, dass es sich nicht um unbeabsichtigte „Kollateralschäden“ eines Krieges handelte, sondern um kalkulierte Maßnahmen, um demografische Realitäten zu verändern und Kontrolle über strategische Gebiete zu sichern. Genau wie 1948 wurden die Vertriebenen nach ihrer Flucht am Grenzübertritt gehindert. Rückkehr war ausgeschlossen, Besitzansprüche wurden ignoriert.
Nach dem Ende der Kämpfe richtete Israel in den eroberten Gebieten ein umfassendes Besatzungsregime ein. Ostjerusalem wurde faktisch annektiert, während im Westjordanland, dem Gazastreifen und auf den Golanhöhen Militärverwaltungen eingerichtet wurden. Die palästinensische Bevölkerung wurde fortan unter Kriegsrecht verwaltet, während israelische Behörden systematisch damit begannen, Land zu enteignen, Ressourcen zu kontrollieren und Siedlungsprojekte vorzubereiten.
Mit dem militärischen Sieg Israels war die territoriale Realität des Nahen Ostens grundlegend verändert. Während sich Israel 1982 unter dem Druck des Friedensvertrags mit Ägypten vollständig aus der Sinai-Halbinsel zurückzog einschließlich der Räumung eigener Siedlungen, blieb die Besetzung des Gazastreifens, des Westjordanlandes, Ostjerusalems und der Golanhöhen bestehen. In diesen Gebieten etablierte Israel ein dauerhaftes Kontrollsystem, das weit über bloße militärische Präsenz hinausging.
Die fortgesetzte Besetzung wurde nach außen hin stets mit Sicherheitsargumenten gerechtfertigt, doch sie diente in Wahrheit dazu, die während des Sechstagekriegs errungenen territorialen Gewinne in einen dauerhaften Herrschaftsanspruch zu überführen. Die Selbstverteidigungsrhetorik, die den Angriff von 1967 legitimieren sollte, wurde zur ideologischen Grundlage für ein langfristiges Projekt der territorialen Ausdehnung, abgesichert durch die mächtigsten imperialistischen Mächte, insbesondere die USA, aber auch Europa, die Israels Expansion nicht nur duldeten, sondern aktiv stützte – durch militärische Kooperation, wirtschaftliche Hilfe und diplomatischen Schutz vor internationalen Sanktionen.
Bereits kurz nach dem Krieg begann die gezielte Ansiedlung jüdischer Israelis in den besetzten Gebieten. Diese Siedlungen wurden oft unter dem Vorwand, „Sicherheitsvorsprünge“ zu schaffen, errichtet, erfüllten in Wahrheit jedoch einen klaren Zweck. Infrastrukturprojekte wie separate Straßen, Checkpoints und Sperranlagen festigten etwa im Westjordanland die territoriale Trennung und machten die besetzten Gebiete zu einem de facto Apartheidsystem. So versucht Israel sicherzustellen, dass die Palästinenser zersplittert und unterdrückt bleiben und annektiert, in Krieg wie in „Frieden“, de facto immer größere Teile der palästinensischen Gebiete.
Keine Lösung im Kapitalismus
Die imperialistische Unterdrückung der Palästinenser durch Israel, die seit Jahrzehnten in einem Zustand der totalen Verwehrung ihrer nationalen, sozialen und politischen Rechte gehalten werden, ist durch den Völkermord im Gazastreifen wieder in den Mittelpunkt der internationalen Politik gerückt. Aber dieser Zustand ist kein isoliertes Phänomen. Es ist Ausdruck einer globalen Ordnung, die auf kapitalistischer Ausbeutung, imperialistischer Machtprojektion und rassistischer Spaltung und Unterdrückung basiert. Um diese Realität zu verändern, reicht es nicht, einzelne Akteure zu verurteilen – es braucht eine fundamentale Umwälzung der Verhältnisse.
Die sogenannte „arabische Bedrohung“ wurde in Wirklichkeit maßlos übersteigert, um von Israel und seinen westlichen kapitalistischen Unterstützern als Vorwand für expansionistische Ziele genutzt zu werden. Selbst die vermeintlichen Konzessionen, die Israel im Namen des Friedens gemacht hat (etwa den Rückzug von der Sinai-Halbinsel und den „Friedensprozess“ nach der ersten Intifada), sind nichts anderes als Versuche, die zentralen israelischen Eroberungen abzusichern und die Unterdrückung der Palästinenser zu verewigen. Mit der Ideologie des Zionismus wird ein Regime von Raub, Ausbeutung und Unterdrückung gerechtfertigt, mit dem israelische und westliche Kapitalisten massive Profite gemacht haben und weiterhin machen.
Die Befreiung der Palästinenser kann daher nur durch den Sturz des Kapitalismus erkämpft werden – im Nahen Osten, beginnend bei den arabischen Ländern, ebenso wie in Israel selbst und insbesondere in den Staaten, die den israelischen Staatsapparat systematisch stützen – den USA und Europa. Es ist nicht nur das palästinensische Volk, das gegen Unterdrückung kämpft und kämpfen muss – es ist der globale Kampf der Ausgebeuteten gegen den Kapitalismus selbst. Erst wenn sich die internationale Arbeiterklasse vereint, um dieses System zu überwinden, kann die jahrhundertelange Ausbeutung ein für alle Mal beendet und eine gerechtere, sozialistische Welt errichtet werden.