Kickl ist dabei, zu schaffen, was alle politischen Akteure jenseits der FPÖ dezidiert ausschlossen: er wird mit Hilfe der ÖVP zum Bundeskanzler. Wie es zu dieser Zäsur kommen konnte, und was dies für die Arbeiterklasse bedeutet. Von Emanuel Tomaselli.
Auf dem Papier gibt es im Nationalrat eine breite Mehrheit gegen die FPÖ, die Partei hat 57 von 183 Abgeordneten. Die restlichen 116 Mandate kandidierten auf Listen, die ein Zusammengehen mit der FPÖ dezidiert ausschlossen. Dennoch will die ÖVP jetzt Kickl zum Kanzler machen. Auch in der Steiermark verzichtete die ÖVP auf den Landeshauptmann, und machte FPÖ-Kunasek zum Landeshauptmann. In beiden Fällen stand die SPÖ bereit als Juniorpartner der ÖVP (in der Steiermark auch der FPÖ) auf den Thron zu helfen, aber die ÖVP bevorzugt die zweite Geige einer Bürgerblockformation. Gleiches gilt es über die NEOS zu sagen. Sie legten es über Monate ganz darauf an, mit ÖVP und SPÖ eine Regierung zu bilden und waren dann die ersten, die am 3. Jänner dieses Jahres vom Tisch aufstanden. Auf den ersten Blick entbehrt das Verhalten von ÖVP und NEOS jeder Logik: Sie könnten die erste Geige in der Regierung spielen, aber sie bevorzugen es der FPÖ den Vortritt zu lassen.
Nur die SPÖ blieb sich ganz treu, sie blieb bis zuletzt am Tisch sitzen und streckt auch jetzt weiter vergeblich die Hand nach der ÖVP aus. Ihre einzige Bedingung ist ein symbolischer Beitrag der Kapitalisten zur Budgetsanierung. Im Verhandlungsteam der SPÖ gilt dabei ein Schlüssel von 1:5 als „fair“. Pro fünf Mrd. Einsparungen und Mehrbelastungen für Lohnabhängige sollen Reiche eine Mrd. zur Budgetsanierung beitragen. Die SPÖ betont, dass das alles andere als radikal sei, sondern dem Verhältnis der letzten Budgetsanierung entspräche, als es darum ging, die Zeche der 2008/09er Krise zu bezahlen. Damals wurde von einer SPÖ-ÖVP-Regierung dafür die Bankenabgabe eingeführt. Eine Beteiligung von Kapitalisten an der aktuellen Budgetsanierung wird heute von allen bürgerlichen Parteien dezidiert abgelehnt. Nur Arbeiter, Pensionisten und die Jugend sollen die Last der Krisenkosten tragen. Das Rad dreht sich weiter, die Bürgerlichen zeigen null Toleranz gegenüber den Arbeitenden.
Eigennutz und Gier
Der erste Anlass der Bildung einer Bürgerblockregierung ist also, dass die drei Parteien: FPÖ, ÖVP und NEOS sich darin einig sind, dass ausschließlich nur die Arbeiterklasse die Lasten der Budgetsanierung zu tragen hat. Dies ist ein fester bürgerlicher Standpunkt, geprägt von Gier jener, die das Maul nie voll genug bekommen können. Das Empörende dabei ist, dass diese Budgetsanierung ursächlich nicht notwendig ist, weil die Arbeiter, Arbeitslosen, Schüler, Pensionisten und Kranken bisher in Saus und Braus gelebt hätten, sondern weil die Vorgängerregierungen seit Sebastian Kurz besonders freigiebig für ihre Klientel der Superreichen waren. Die österreichischen Kapitalgesellschaften (AG und GmbH) haben in den letzten drei Jahren (2021-2023) staatlichen Förderungen im Ausmaß von 38 Mrd.(!) erhalten. Die 20 größten Konzerne (ATX) in Österreich haben gleichzeitig zusammen 36,8 Mrd. Gewinn gemacht, ein historischer Rekordwert. Noch schneller gewachsen als die Gewinne sind nur die Ausschüttungen (Dividenden) an Aktionäre: 16,3 Mrd. (44% der Gewinne) wanderten direkt in das Privatvermögen der Kapitalisten und Investoren. Hinzu kommen die üppigen Bonuszahlungen und Managergehälter (ein ATX-Vorstandsmitglied verdient durchschnittlich 2,4 Mio. im Jahr).
Es gäbe hier also mehr als genug Fett, um diesen Teil der Gesellschaft in die Budgetsanierung einzubinden (symbolisch, denn mehr wurde nicht gefordert). Warum versperren sich die Bürgerlichen völlig diesem Ansatz, der vor 10 Jahren noch konsensfähig war? Weil die Krise die mit der Bankenkrise 2008 begonnen hat, heute noch viel tiefer ist. Wirtschaftlich und politisch. Die Bürgerlichen (FPÖ, ÖVP und NEOS) sind sich einig, dass die Arbeiterklasse die Krisen zahlen muss. Uneinig sind sie sich aber entlang der internationalen Spaltungen der Bourgeoisie, den sogenannten „Zukunftsfragen“: Mit oder gegen Moskau? Soll die EU gestärkt oder geschwächt werden? Soll Österreich militärisch neutral bleiben, in die NATO, oder eine EU-Armee anschieben? In welche Technologien soll die Industrie investieren: die alten Verbrenner, oder doch auf neue Antriebe? Ist es die Zelensky-Regierung wirklich wert unsere eigene Industrie zu ruinieren? Diese Fragen haben heute eine immense Bedeutung, weil der Weltmarkt in Blöcke zerfällt und das Machtgefüge zwischen den einzelnen Bourgeoisien auf Weltebene neu gemischt werden. In diesen Fragen sind die Bürgerlichen gespalten. Die FPÖ verdankt ihre Popularität nicht zuletzt dem Umstand, dass sie als einzige Partei einen offenen Standpunkt gegen den politischen Mainstream bezogen hat. Völlig und auf ganzer Linie versagt hat hier der Reformismus, sowohl die Sozialdemokratie, als auch die KPÖ. Beide Parteien stehen im Lager des westlichen Imperialismus, unterstützen die Sanktionen und damit den Haupttreiber der Teuerung und der Krise. Ihre Wahlprogramme waren daher ganz unglaubwürdig.
Nationalismus vs. Liberale
Beate Meinl-Reisinger begründete den Ausstieg ihrer Partei am 3. Jänner so: „Es herrschen herausfordernde Zeiten, in denen man das „Was tun?“ klar benennen muss. Österreich steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, im dritten Jahr in Folge. Die Unternehmen sind gezwungen, Beschäftigte zu entlassen. Die herrschende Teuerung wurde durch Niedrigzinspolitik vorbereitet, letztlich durch Putins Angriff auf die Ukraine und die Verknappung der Energie ausgelöst. Die Lage ist mehr als instabil: Ukraine, Syrien, Russland, die Präsidentschaft Trump. Die Lage ist alles andere als gewöhnlich, und es gibt kein weiter wie bisher.“
Dies ist immerhin eine ehrliche Ansage: Ja, der Kapitalismus ist in der Krise, es herrscht Krieg, also lasst die Arbeiter dafür zahlen! Die NEOS wollen nicht nur im Inland die Wirtschaft durch die Zerschlagung von sozialen Sicherungssystemen dynamisieren, sondern außenpolitisch auch ganz im Einklang mit westlichen Militärbündnissen marschieren. Dies ist innerhalb der österreichischen Industriebosse und Bankiers aber nicht die Mehrheitsmeinung.
Die Schockstarre, die die Neos auslösten, ließ sich daher auch vom Bundespräsidenten van der Bellen nicht mehr lockern. Van der Bellen ist seit Jahr und Tag Architekt und ausführender Ingenieur der gescheiterten Dreierkoalition. Sein Motto lautete: alles außer eine FPÖ-geführte Regierung. Er versicherte sich im Laufe des 3. Jänners bei ÖVP und SPÖ, dass sie auch weiterhin zu zweit eine Regierung bilden würden und informierte die Bevölkerung am Abend des 3. Jänner darüber. Die ÖVP stellte sich am selben Tag auch noch fest hinter ihren Obmann Kanzler Nehammer. Als ÖVP und SPÖ am 4. Jänner erneut zusammentraten, war dies aber nur noch eine Formsache. Am Abend verließ Nehammer die Verhandlungen mit der SPÖ und verlautbarte den Rücktritt aus allen Ämtern. Fragen stellte er sich seither keinen, aber er teilte in Richtung SPÖ aus, um die Kehrtwende der Parteispitze hin zur Kanzlerschaft Kickls einzuleiten. Die Tageszeitung Die Presse deutet an, dass sein hartes Nein zur Bankenabgabe nun mit einem Job im Raiffeisensektor belohnt wird.
Am 5. Jänner übernimmt ÖVP-Generalsekretär Stocker in einer kurzfristig und kurzen Sitzung die Obmannschaft in der ÖVP. Die Kanzlerschaft wurde mittlerweile (wieder) an Außenminister Schallenberg übergeben. Die Entscheidung für Stocker und gegen Sebastian Kurz, der sich von seinem Netzwerk pushen ließ, war mit der Frage „Neuwahlen oder Juniorpartner unter Kickl“ verknüpft. Eine Minderheit in der ÖVP plädierte noch für eine Fortsetzung der Verhandlungen mit den Neos unter Duldung der SPÖ und Grünen. Die ÖVP-Granden, Wendehälse erster Güte, entschieden sich aber klar, eindeutig und schnell für einen harten Bürgerblock unter Führung der FPÖ. Situationselastik aus Verantwortung für die Republik, natürlich.
Weltweit: Nationalismus sticht Liberalismus
Der Weltmarkt ist auseinandergebrochen und damit wurde eine neue politische Grundlage gelegt. Es vollzieht sich weltweit ein politischer-ideologischer Wechsel hin zu Nationalismus, sowohl innerhalb der zunehmend gespaltenen herrschenden Klassen als auch in der Wählergunst. Globale Klimapolitik, Multilateralismus und die von Joe Biden (und der EU-Kommission) ausgerufene „Verteidigung der liberalen Demokratie“ zerschellen an der kapitalistischen Realität. Die Widersprüche in einem von Überproduktion geschlagenen Weltmarkt erzwingen unter kapitalistischen Bedingungen Wirtschaftsnationalismus.
In Österreich kündigt sich eine Wende an, die seit dem Wahlsieg Trumps in den USA zum Leitmotiv aller Bourgeois wird. Der Wahlsieg von „America first“, das für Handelszölle, das Ende von Klimapolitik, militärische Kraftmeierei (Trump verlautbart Kanada, Grönland und Panama den USA anschließen zu wollen) und die Europäisierung des Ukrainekrieges steht, zwingt die Kapitalisten aller Nationen ihrerseits ganz auf Nationalismus und die Wahrung der eigenen Interessen zu setzen. Die sogenannte „Regelbasierte Weltordnung“ liegt in Trümmern, das Recht des Stärkeren ist die Maxime in allen internationalen Beziehungen. Die EU wird hier zerrieben und ist zunehmend unfähig, eine gemeinsame „europäische“ Antwort zu formulieren – zu unterschiedlich sind die Interessen der einzelnen Nationalstaaten in Europa. Das Scheitern der Großen Koalition + NEOS ist kein Einzelfall. Nach der Wahl von Trump am 5. November vollzogen sich schon viele Regierungskrisen: das Ende der Ampel in Deutschland (6. November), Sturz der Regierung Barnier in Frankreich (4. Dezember), Annullierung der Präsidentschaftswahlen in Rumänien nachdem ein Nationalist gewonnen hat (6. Dezember), Ende der 3er Koalitionsverhandlungen in Österreich (3. Jänner), Rücktritt von Kanadas Premier Trudeau nach mehrmonatiger Regierungskrise (6. Jänner).
„Österreich zuerst“
Auch in Österreich ist die Zeit in den Augen der Bankiers und Industriellen reif dafür, die Interessen der heimischen Profite, Banken und Produktionsbedingungen in den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Während die letzten Silvesterfeiernden sich ins Bett legten, wurden in Baumgarten/NÖ die letzten russischen Gasmoleküle über die österreichische Grenze gepumpt. Seither liegt die wichtigste Energieversorgungslinie Österreichs (22% des österreichischen Energiegesamtbedarfs) brach. Die Raiffeisenbank International, das führende Finanzinstitut der Republik, ist durch den Krieg gegen Russland in einer ausweglosen Situation. 50 % der Profite macht die Bank in Russland, was sie zum Ziel harter US-Drohungen macht, während sie gleichzeitig auch in Russland durch Enteignung bedroht ist, falls sie dem westlichen Sanktionsdruck nachgibt. Und der europäische Green Deal konnte die Herzen der österreichischen Industriellen nie erwärmen. Die österreichische Industrie ist ganz auf die Verbrennertechnologie ausgelegt, das machte bereits Sebastian Kurz klar, und Nehammer erneuerte die Initiative zum Ausstieg aus dem Verbrenner-Ausstieg. Auch die Dokumentationspflicht im Zuge des EU-Lieferkettengesetzes und die steigende finanzielle Belastung durch die CO2-Besteuerung wird von den Industriellen abgelehnt.
Wir analysierten vor der Nationalratswahl: „Österreichs Schizophrenie zwischen politischer Einbindung im Westen und starken Profitinteressen des rot-weiß-roten Finanzkapitals im Osten macht Österreich zu einem geopolitischen „Kippkandidaten“. Eine FPÖ-ÖVP-Regierung würde eine politische Verschiebung in diese Richtung bedeuten.“ (Der Funke No. 226, 30.8.2024)
Eine Deindustrialisierung und De-Kapitalisierung Österreichs für die Interessen Washingtons und deren Stellvertreter in Brüssel kann nicht das Programm von Raiffeisenbank und Voestalpine sein. Ein Bundeskanzler Kickl wird mit Orban in Ungarn und Fico in der Slowakei die Interessen der Kapitalisten dieser Region in Brüssel gemeinsam vertreten. Natürlich ist dies auch ganz im Interesse der österreichischen Kapitalisten! Weil die FPÖ hier die Interessen der Kapitalisten außenpolitisch akzentuierter artikuliert als die gespaltene ÖVP und die Brüssel-hörigen Neos, vollzog sich die Abwendung der NEOS und die Wende der ÖVP zu Kickl letztlich so schnell und geräuschlos. Die Kapitalisten und Bankiers stehen ganz klar hinter Kickls Politik. In der ÖVP finden sich daher nur Polit-Pensionisten, die offensiv einen Gegenposition vertreten.
Ein Zurück zur „guten alten Zeit“, als die Kapitalisten hierzulande gute Geschäfte mit allen machten, wird es aber so und so nicht geben. Die USA werden im Kern auf die Sanktionen gegen Russland, gerade im Bereich der fossilen Energie, bestehen – das kann Kickl nicht rückgängig machen. Aber um die Profitbedingungen der Kapitalisten in Österreich nicht noch weiter zu untergraben, gilt in den Vorstandsetagen eine akzentuiertere nationalistische Politik als Gebot der Stunde. Dies bedeutet, dass die ÖVP, trotz aller Widersprüche, Kickl zum Kanzler machen wird.
Gegen die FPÖ: nur mit Klassenkampf!
Einige Kommentatoren wünschen eine härtere Haltung von Van der Bellen gegen einen Kanzler Kickl. Dies ist eine reaktionäre Utopie. Die Fortsetzung staatspolitischer Manöver zur Verhinderung von Kickl würde eine Staatskrise auslösen und gleichzeitig die Unterstützung für die FPÖ in der Bevölkerung massiv nach oben treiben. Wir lehnten solche Manöver immer und auch jetzt ab, sie nutzen nur den Kapitalisten. Schon jetzt liegt die FPÖ in Umfragen bei 35 %, deutlich mehr als bei den Wahlen. Wir sagen es hier nicht zum ersten Mal: Die Bürgerlichen (egal ob rechts oder liberal) kann man nur durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse auf den Straßen und in den Betrieben besiegen. Ohne die Propagierung und Organisierung des Klassenkampfes kann man das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft nicht zugunsten der Arbeiterklasse verschieben. Diese Lehre muss man beherzigen – und in den Mittelpunkt jeder politischen Überlegung stellen. Dem Bürgerblock – egal ob an der Macht oder im Wahlkampf – muss man die Faust der organisierten und mobilisierten Arbeiterklasse entgegenhalten!
Philosophie
Es gibt dafür eine intellektuelle Voraussetzung, die die Reformisten nicht leisten können und wollen: einen gänzlich unabhängigen philosophischen und politischen Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten einzunehmen. Philosophie gilt der „pragmatischen Linken“ als unnützes Überbleibsel der Vergangenheit, erinnern wir uns an Bablers Marxismus-Weglegung. Kickl hält es anders, er hat seinen Hegel studiert und verseht es die Widersprüche in der Gesellschaft zu nutzen und dort zuzuspitzen wo es gut für die Industriellen und Bankiers ist.
Ohne festes ideologisches Fundament schwimmen SPÖ und KPÖ wie tote Fische in der stinkenden Brühe des modernen Kapitalismus. Sie versprechen, dass ihre Politik den Massen eine Erleichterung brächten. Mehr streben sie nicht an, und selbst das müssen sie schuldig bleiben. Sie reagieren nur auf Stimmungen in den Massen, wenn es nicht mehr anders geht. Dies nutzen sie um (mit schwindendem Erfolg) nochmals gewählt zu werden, oder um die „Sozialpartnerschaft“ wiederherzustellen. Ihr „pragmatischer Maßnahmenmix“ (Ex-Kanzler Vranitzky) ist dabei weder bei den Ausbeutern, noch bei den Unterdrückten populär und glaubwürdig. Sie fördern damit nur Frustration, Spaltung und Entpolitisierung, die mit schunkelndem Bierdunst im rot-weiß-roten Fahnenmeer gefüllt wird.
Marxisten wissen, das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeiterklasse verschoben werden kann, wenn man dies als bewusste Aufgabe stellt. Die RKP tut dies. Stärke diesen Ansatz in der Arbeiterbewegung, bereite mit uns das nächste Kapitel im Klassenkampf vor. Für Sozialismus zu unseren Lebzeiten!