Eine spannende Diskussion mit Karl-Heinz Dellwo über die Wege und Irrwege der Linken erlebten rund 90 Besucherinnen und Besucher einer von der AKS und der Funke-Strömung gemeinsam ausgerichteten Veranstaltung auf der Uni Wien.
Karl-Heinz Dellwo ist Chef des Hamburger Laika-Verlages, der mit der „Bibliothek des Widerstands“ den Versuch unternimmt, dem sozialen Protest seit 1965 ein literarisches und filmisches Denkmal zu setzen. Besonders anziehend fürs Publikum war jedoch Dellwos Engagement in der zweiten Generation der Roten Armee Fraktion (RAF). Dellwo ist einer der wenigen ehemaligen Aktivisten der RAF, die heute öffentlich zu diesem Abschnitt ihrer politischen Laufbahn sprechen. Obwohl nunmehr seit 15 Jahren Geschichte, ist das Thema RAF weiter ein mythenumranktes Feld, das politisch Interessierte auch heute noch in ihren Bann zieht.
Wer sich vom gestrigen Abend jedoch intime Details und Revolvergeschichten erwartet hatte, wurde enttäuscht. Der Historiker David Mayer, Spezialist für Globalgeschichte und Herausgeber zu einem Werk zu 1968, der durch die Diskussion führte, befragte Dellwo mit dem Ziel die Hintergründe seines Engagements in der „Stadtguerilla“ in Beziehung zu den anderen gegeben Optionen der 68er-Bewegung zu setzen. Mayer ging es darum, die für die Linke immer schon zentrale Frage „Was Tun?“ in Bezug auf „Akteure, Orte, Protestformen“ damals und heute zu beantworten. Themen waren hier insbesondere der unterschätzte proletarische Mai 1968 mit dem bis dahin größten Generalstreik der Geschichte und dem italienischen „heißen Herbst“ 1969, die portugiesische Revolution 1974, die Revolution in Pakistan 1968 und eine generelle Zunahme von ArbeiterInnenklassemilitanz sowie das exponentielle Wachstum und die scharfen Linksentwicklungen in den traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenklasse, wie etwa den deutschen Jusos der 1970er Jahre.
Dellwo befasste sich jedoch wenig mit derartigen Überlegungen. Er hat klar mit dem individuellen Terror gebrochen, nicht jedoch mit den Prämissen, die damals dazu führten, den bewaffneten Kampf in den imperialistischen Metropolen aufzunehmen. Als wichtigster Reibungspunkt zwischen Dellwo und MarxistInnen ist dabei sicher die Konzeption von der Integration der ArbeiterInnenklasse ins kapitalistische System und ihrem angeblich daraus folgenden Ausscheiden als revolutionäre Triebkraft zu nennen. Laut Dellwo habe sich dieses Problem seit den 1970er Jahren noch verschärft: „Es gibt heute keine privilegierten Orte mehr, weder die Fabrik, noch die Uni, wo man Einblick in die Unterdrückungsmechanismen bekommt.“ Dem halten wir entgegen, dass die kollektive Arbeit im kapitalistischen Betrieb auch kollektive Erfahrungen und kollektiven Widerstand ermöglicht. Es ist eben nicht so, dass die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins das Ergebnis eines abstrakten Erkenntnisprozesses ist, wie er etwa auf Universitäten stattfindet. Ein revolutionäres Bewusstsein entsteht durch praktische Teilnahme am real existierenden Klassenkampf, wie er vor unseren Augen abläuft. Jede Arbeitsniederlegung ist ein Bruch mit der gesellschaftlichen Zuschreibung von Kapital und Arbeit und damit eine revolutionäre Handlung im Kleinen. Marx beschreibt den Stellenwert ökonomischer Auseinandersetzungen so: „Um den Wert von Streiks und Koalitionen richtig zu würdigen, dürfen wir uns nicht durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit ihrer ökonomischen Resultate täuschen lassen, sondern müssen vor allen Dingen ihre moralischen und politischen Auswirkungen im Auge behalten. Ohne die längeren aufeinander folgenden Phasen von Abspannung, Prosperität, Aufschwung, Krise und Elend, welche die moderne Industrie in periodisch wiederkehrenden Zyklen durchläuft, mit dem daraus resultierenden Auf und Ab der Löhne sowie dem ständigen Kampf zwischen Fabrikanten und Arbeitern, der in genauer Übereinstimmung mit jenen Schwankungen in den Löhnen und Profiten verläuft, würde die Arbeiterklasse Großbritanniens und ganz Europas eine niedergedrückte, charakterschwache, verbrauchte, unterwürfige Masse sein, deren Emanzipation aus eigener Kraft sich als ebenso unmöglich erweisen würde wie die der Sklaven des antiken Griechenlands und Roms. Wir dürfen nicht vergessen, dass Streiks und Koalitionen unter den Leibeigenen die Brutstätten der mittelalterlichen Gemeinwesen waren und diese Gemeinwesen wiederum die Quelle des Lebens der neuen herrschenden Bourgeoisie.“ (Karl Marx, MEW 9, S. 170f.)
An diesem Punkt setzten auch mehrere Debattenbeiträge der zeitweise hart, aber nie untergriffig geführten Diskussion an. „Welchen Sozialismus, welche nachrevolutionäre Gesellschaft wollte man als bewaffneten Sekte, vorbei an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herbeibomben?“ lautete etwa eine Frage. Dellwo verteidigte aus damaliger Sicht die „moralisch-politische“ Richtigkeit des bewaffneten Kampfes. Man sei nicht isoliert gewesen, habe Anfang der 1970er Jahre noch auf eine breite gesellschaftliche Unterstützung zählen können. Erst später hätten sich Fehler eingeschlichen und die Vision verengt, wie der Kampf um die Befreiung der inhaftierten GenossInnen. Zudem sei das Ziel der RAF nie gewesen, eine Revolution bis zum Ende zu führen, sondern Massenbewegungen anzustoßen und sich dadurch selbst überflüssig zu machen. Der Frage nach dem Ziel der Revolution habe man sich bewusst nicht gestellt.
Der Idee, dass ein asymmetrischer Stellvertreterkrieg notwendigerweise dazu führen muss, dass militärische Erfolge gegen den bürgerlichen Staat (wie etwa das Freipressen inhaftierter GenossInnen) eine höhere Priorität annehmen werden als Klassenkampf und Revolution, schließt sich Dellwo jedoch nicht an. Gewisse Ideen kommentierte Dellwo nicht, wie das Statement eines Zuhörers, dass es der Logik der RAF entsprach, dass sie gesellschaftliche Unterstützung nicht nützen konnte, da sie aufgrund ihrer Methoden „eben keine Infotische machen konnte“. Unkommentiert blieb auch die Schilderung eines Veteranen der Wiener Linken, dass in den 1970ern jede politische Debatte mit dem Hinweis auf „die kämpfenden Genossen und Genossinnen“ unterbrochen werden konnte, wobei doch klar sei, dass die Waffe kein politische Kriterium ist, sondern allein das Programm.
Die Stärke von Dellwos Ausführungen lag sicher in der charismatischen und glaubhaften Darstellung der persönlichen Triebkräfte, die die damalige militante Linke prägte. Der Staatsapparat durchsetzt von alten Nazis, „die nur ihr Hemd gewechselt haben“, der Impuls der antikolonialen Befreiungsbewegungen mit ihren neuen Methoden des bewaffneten Freiheitskampfes und die biedere Ruhe einer ArbeiterInnenklasse, die durch den Faschismus politisch weit zurückgeworfen wurde (Dellwo summiert dies als Niederlage der KPD und der Sozialdemokratisierung der Klasse nach dem Krieg). Trotz alledem etwas tun zu müssen, für die eigenen Ideen kämpfen zu müssen, „das kleine Fenster“ wahrzunehmen, diese Haltung beeindruckte viele im Publikum. Ein Debattenredner griff dies auf und stellte diese Haltung als positives Beispiel der heute herrschenden Lethargie, der schädlichen Organisationsfeindlichkeit und dem Unwillen, sich für als notwendig empfundene Ideen zu engagieren, entgegen.
Die Frage „Was tun?“, wie sie sich heute stellt, die Massenbewegungen in Südeuropa, in der arabischen Welt, in der Türkei und in Brasilien wurden gestreift, doch konnten angesichts der kontroversiellen historischen Debatte keine zufrieden stellenden Antworten geliefert werden. Hier blieb die Diskussion in Definitionen stecken: Handelt es sich um revolutionäre Bewegungen, wie Mayer und mehrere RednerInnen aus dem Publikum unterstrichen, oder fehlen dafür wichtige Qualifikationen (wie etwa eine revolutionäre Führung), wie Dellwo manifestierte.
Eine Rednerin fragte pointiert, ob man die Frage „Was tun?“ Anfang der 1970er angesichts der geschilderten objektiven Schwierigkeiten, nicht einfach mit „momentan nichts“ beantworten hätte können. Dellwo wies dies von sich, ein mögliches Scheitern müsse man auch in Kauf nehmen. Eine verallgemeinerbare Antwort, die über einen persönlich-moralischen Anspruch der Notwendigkeit des Kampfes und der Aufrichtigkeit zu den eigenen Ideen hinausreichte, hatte er jedoch nicht anzubieten.
Ausgehend von der geteilten Überzeugung, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, und die Passivität ein Scheitern an sich ist, ist die Frage der Ideen, des Programms und der gewählten Methode zentral.
MarxistInnen unterscheiden dabei objektive Bedingungen und subjektive Aktion. Unter objektiver Bedingung fassen wir die ökonomische, politische Verfasstheit des real existierenden Kapitalismus zusammen. Dazu gehören auch der Zustand der ArbeiterInnenbewegung und ihre historisch gewachsenen Organisationen und Traditionen. Ebenso sind die Militanz oder Passivität der Jugend und ihre Sicht auf die Welt und ihr eigenes Leben Faktoren, die wir vorerst als gegeben akzeptieren. In diesem äußeren Rahmen gestalten wir eine kollektive und organisierte politische Aktivität. Wir knüpfen an den greifbaren Widersprüchen an, oder entwickeln unsere Kritik entlang von Bruchlinien, deren Aufbrechen wir in Zukunft erwarten. Abseits von sozialen Bewegungen ist der Kampf um politische Positionen in den Organisationen der Klasse und der Jugend dabei von zentraler Bedeutung.
Lenins Methode kann dabei in zwei Worten zusammengefasst werden: „Geduldig erklären“. „Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke“, so definiert es Leo Trotzki, die zweite zentrale Persönlichkeit der erfolgreichen Oktoberrevolution, rückblickend. Darauf gilt es auch heute zu orientieren. Niemand kann heute bestreiten, dass das herrschende System instabil ist und seine Funktionsweise und Resultate allgemein abgelehnt werden. Der Hass auf Banken und die gesellschaftlichen „Eliten“, die Apathie gegenüber den politischen Slogans etablierter Politik ist ein Massenphänomen, wie eine historisch außergewöhnliche Welle an Massenbewegungen auf dem ganzen Planeten. Die relative soziale Ruhe in Österreich hat materielle und damit erklärbare und veränderliche Bedingungen. Wer sich dieser Einsicht nicht verschließen kann, sollte die momentane Ruhe als Privileg sehen, als Möglichkeit sich ideologisch und organisatorisch für das Kommende vorzubereiten. Denn eine Führung einer kommenden Revolution wird nicht spontan im Feuer des Gefechts großer Ereignisse allein aufgebaut werden können. Was jetzt auf Basis von klaren Ideen, Programmen und Methoden entsteht und eine kollektive Praxis hervorbringt, kann in Phasen gesellschaftlicher Umbrüche zur materiellen Massenkraft werden. Und diese ist notwendig, um einen entscheidenden Sieg über die herrschende Ordnung zu erzielen. Auf solch revolutionäre Ereignisse gilt es sich politisch vorzubereiten, in solchen Ereignissen wollen wir eine Rolle spielen, dafür gilt es sich zu organisieren.
Wir freuen uns über Kommentare zu diesem Artikel und um eine Fortsetzung dieser wichtigen Diskussion: readktion@derfunke.at
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