Die Idee des Pariser Arbeiterkongresses 1889, international für den 8-Stunden-Tag zu demonstrieren, wurde nirgendwo so begeistert aufgenommen wie in Wien. Mit geduldiger Aufklärung und Organisationsarbeit wurde die Arbeiterklasse für die Losung eines arbeitsfreien 1. Mai gewonnen, mit großer Kampfbereitschaft wurde sie gegen die Kapitalisten, Polizei und Armee durchgesetzt.
Später war der 1. Mai zu einem unpolitischen Familienfest verkommen. Doch angesichts der Kriegsgefahr stand die Maifeier 1914 schon ganz im Zeichen des drohenden Völkermordens, und das Proletariat demonstrierte so lebhaft wie bei den ersten Maiaufmärschen im Zeichen der internationalen Solidarität.
Wenige Wochen später brach aber der Weltkrieg aus, und die Führung der Sozialdemokratie rief den Burgfrieden aus. Statt Massenstreiks gegen die imperialistischen Kriegstreiber im eigenen Land, reihten sich fast alle Arbeiterparteien in den Chor der Vaterlandsverteidiger ein. Am 1. Mai standen die Räder erstmals seit Jahren nicht mehr still, schon gar nicht in den Rüstungsbetrieben. Obwohl in vielen Kollektivverträgen der 1. Mai bereits arbeitsfrei war, verzichtete die Sozialdemokratie auf die Arbeitsruhe. „Wir können die Verantwortung dafür nicht übernehmen, dass unsere Brüder im Felde ohne Munition bleiben!“, meinte damals ein hochrangiger Metallergewerkschafter. An Streiks war nicht zu denken, aber kleine Gruppen von Arbeiterinnen und Jugendlichen verteilten geheim Flugblätter mit der Erklärung von Karl Liebknecht gegen den Krieg:
„Unter Protest jedoch gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure, gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor, gegen die kapitalistischen Ziele, die er verfolgt, (…) lehne ich die geforderten Kriegskredite ab.“
Bis 1917 weigerten sich die Partei- und Gewerkschaftsführer, den 1. Mai richtig zu begehen. Stattdessen gaben sie Durchhalteparolen aus. Die Arbeiterschaft dürfe nicht Sand im Getriebe der Kriegsmaschinerie sein. Die jungen Sozialisten in Ottakring schrieben am 1. Mai 1917 dagegen in ihr Flugblatt:
„Die Zweite Internationale, die in Blut und Schande, in Schmutz und Verrat zusammengebrochen ist, sie zählt die Sozialimperialisten von gestern, welche die Sozialpazifisten von heute geworden sind, zu ihren würdigen Söhnen. Mögen sie den Kadaver der Internationale der Nationalisten wiederbeleben wollen, die Dritte Internationale wird doch ihr Haupt erheben – auch in Österreich.“
Demos waren am 1. Mai verboten, die internationalistischen Kriegsgegner gingen trotz alledem auf die Straße und sangen zu bekannten patriotischen Melodien antipatriotische Spottlieder. Die Sozialdemokraten beschimpften sie als „unverantwortliche Elemente“, aber sie blieben bei ihrem Standpunkt: „Nieder mit dem imperialistischen Krieg! Es lebe die Dritte Internationale!“ Ein Jahr später, nach dem großen Massenstreik im Jänner 1918, saßen viele von ihnen im Gefängnis, doch die Grundlagen der revolutionären Bewegung waren von diesen mutigen Genossen gelegt worden.
(Funke Nr. 223/24.04.2024)